Putins „Kanonenfutter“So ergeht es Russlands Reservisten nach der Teilmobilmachung
Lesezeit 5 Minuten
Moskau – Seit Kremlchef Putin die Teilmobilmachung in Russland angeordnet hat, werden immer mehr Probleme publik. Viele der Reservisten werden ganz ohne Kampferfahrung oder Ausbildung an die Front geschickt. Manch einer hält es dort nur gut zwei Wochen aus – dann kehrt er im Sarg zurück nach Hause.
Für Viktoria ist der Krieg in der Ukraine seit fast einem Monat nun auch in ihrem kleinen Appartement im Moskauer Gebiet ganz nah. Ihren Bruder hat die russische Armee direkt vom Arbeitsplatz im Gebiet Rostow abholen lassen. Er soll im Donbass kämpfen, was für ein Alptraum“, sagt die 37-Jährige. „Ich kann gar nicht mehr schlafen.“ Viktoria weint, zittert nicht nur um ihren Bruder, sondern auch um ihren Mann Andrej. Das Paar hat einen anderthalb Jahre alten Sohn. Die Einberufungsstelle im Gebiet Rostow am Don, wo Andrej noch gemeldet ist, sucht ihn schon.
Reservisten müssen sich zu einem Großteil selbst ausrüsten
Den beiden geht es wie vielen in Russland. Landauf, landab klagen Frauen mit kleinen Kindern in den Foren der Behörden oder in sozialen Netzwerken, die Ernährer der Familie würde nun wegfallen. Sie wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen, opfern oft ihr letztes Geld, um das Nötigste für den Einsatz an der Front zu kaufen. Schutzwesten etwa sind begehrt, aber kaum noch zu bekommen oder zu bezahlen. Frauen erzählen, dass sie vom Ersparten ihren Männern Rucksäcke, Medikamente, Thermounterwäsche und warme Socken kaufen.
In oft geteilten Videos im Internet sieht man eine Gruppe von Männern, ein Redner appelliert an die Behörden, etwas zu tun, damit Kredite nicht fällig gestellt werden. Ein andermal steht eine Gruppe an einem Zug der russischen Staatsbahn, die Männer schimpfen, es gebe keine Marschverpflegung. Wieder eine andere Gruppe muss sich von einer Frau in Uniform anhören, die Männer sollten Tampons mitnehmen, um damit Schusswunden zu versorgen. Auch Erste-Hilfe-Sets sind Mangelware.
Aber die Reservisten klagen auch, es gebe teils nicht einmal einen Helm oder eine Waffe. „Sie haben Kleidung gegeben, Schuhe, eine Gasmaske und einen Spaten“, erzählt Alexej dem unabhängigen Internetportal istories.media. Von seinem eigenen Geld hat er sich dann noch einen Schlafsack, eine Isomatte und Armeestiefel für den Winter gekauft. Onlinegeschäfte, aber auch Läden für Militär- und Outdoorbedarf berichten über leere Lager.
Gouverneure und Parlamentsabgeordnete schalten sich ein
Die Unruhe ist so groß, dass sich in Russland längst auch Gouverneure und Parlamentsabgeordnete wegen der Probleme bei der Mobilmachung einschalten. Entsetzt äußerte sich etwa der Duma-Abgeordnete Andrej Guruljow, Mitglied im Verteidigungsausschuss: Anderthalb Millionen Sätze persönlicher Ausrüstung seien verschwunden, und niemand erkläre wieso. Kremlchef Wladimir Putin hat zwar den für die Ausrüstung der Streitkräfte zuständigen Vize-Verteidigungsminister Dmitri Bulgakow gefeuert. Guruljow beklagt aber, dass damit nicht geklärt sei, „warum die Einberufenen keine Uniformen bekommen“.
Gouverneure kaufen inzwischen am Budget des Verteidigungsministeriums vorbei teils selbst Ferngläser und Nachtsichtgeräte für die Einberufenen. Der prominente Abgeordnete Leonid Sluzki donnerte: „Es ist ein Schande.“ Manchmal fehlten sogar Munition und Waffen. Zudem klagen Einberufene, der in Aussicht gestellte Wehrsold - je nach Region - zwischen 100.000 und 300.000 Rubel (1600 und 4900 Euro) komme nicht oder spät.
Manche dienen aus Überzeugung – aber viele wollen kein „Kanonenfutter“ werden
Während Hunderttausende außer Landes geflohen sind, fügen sich viele andere ihrem Schicksal. Es gibt Russen, die entschlossen für Putins Ziele kämpfen in der Ukraine. Aber viele dienen nur, weil sie Flucht oder den Gang ins Gefängnis nicht für Alternativen halten. Immer wieder hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die russischen Einberufenen aufgefordert, sich nicht als „Kanonenfutter“ für Putin zu opfern; sie sollten sich an der Front ergeben und freiwillig in Gefangenschaft gehen.
Inzwischen aber lähmt die Angst viele, sie trauen sich kaum noch auf die Straße. Die in Russland vielerorts eingesetzte Videoüberwachung soll laut Behörden jetzt auch helfen, Kriegsdienstverweigerer zu finden. In der Hauptstadt Moskau fällt auf, dass die Straßen, Restaurants, Fitnessclubs leerer sind als vor der Teilmobilmachung - wie das öffentliche Leben insgesamt. Dabei mehren sich inzwischen auch Meldungen, dass viele Einberufene kaum an der Front ankamen und nun schon unter der Erde sind.
Kaum an der Front, schon tot
Mit Entsetzten reagierten in der vergangenen Woche sogar russische Staatsmedien, als bekannt wurde, dass ein leitender Angestellter der Moskauer Stadtregierung ohne jedwede Kampferfahrung in die Ukraine geschickt wurde. Der 28 Jahre alte Alexej Martynow, der am 23. September einberufen wurde, starb an der Front am 10. Oktober. Wie so etwas sein könne, fragte ein kremlnaher Journalist Putin am vergangenen Freitag bei einer Pressekonferenz in Astana (Kasachstan). Er verwies auch auf die sich insgesamt häufenden Todesnachrichten.
Doch über die getöteten Männer aus Tscheljabinsk und vielen anderen Orten, die in Särgen zurückkehren, verlor Putin kein Wort. Er betonte vielmehr, dass 220.000 Reservisten von den geplanten 300.000 bereits eingezogen seien. Zehntausende seien schon in ihren Einheiten an der Front. Putin meinte zwar auch, dass die Vorbereitungsphasen für den Einsatz im Kampfgebiet eingehalten werden müssten. Er musste zuletzt aber immer wieder Fehler bei der Mobilmachung einräumen.
Putin: Reservisten sollen Frontlinie „sichern“
In etwa zwei Wochen, auch das sagte Putin in Astana, solle die „Teilmobilmachung“ abgeschlossen sein. Und er erklärte einmal mehr, dass die Einberufenen vor allem die 1100 Kilometer lange Frontlinie in der Ukraine sichern sollten. „Damit hängt die Mobilmachung zusammen.“ Weil diese Linie aber kaum jemals sicher sein dürfte, erwarten viele Russen, dass weitere Mobilisierungswellen folgen.
Auch nach fast acht Monaten Krieg macht Putin keine Anstalten, das Blutvergießen zu beenden. In Astana wurde Putin nicht zuletzt gefragt, ob er bedauere, die in Russland offiziell so bezeichnete „Spezialoperation“ in der Ukraine begonnen zu haben. Aber Reue erwartete da niemand von ihm. Was heute passiere, sei zwar „wenig angenehm“, wäre aber später nur noch schlimmer gekommen, sagte Putin. „Also sind meine Handlungen richtig und angemessen.“ (RND)