Putins psychologische KriegsführungVerliert Deutschland im Winter die Nerven?
- Putin will Europas Gesellschaften zersetzen, die Nato spalten, den Glauben an die Demokratie brechen.
- Dabei ist ihm jedes Mittel recht: Flüchtlingsströme, Stromausfälle, Finanzkrisen.
- Den an Stabilität gewöhnten Deutschen drohen im Winter schwere Prüfungen. Eine Analyse
Moskau/Berlin – Am Montag war es wieder so weit. Parallel zum morgendlichen Berufsverkehr begann die barbarische Bombardierung ukrainischer Bevölkerungszentren durch die russische Luftwaffe. Landauf, landab zerstörten russische Marschflugkörper, eigentlich entwickelt für präzise Schläge gegen militärische Ziele, Versorgungseinrichtungen für Wohngebiete. Allein in Kiew fiel für Hunderttausende erneut der Strom aus. Fast 80 Prozent der rund drei Millionen Einwohner mussten zumindest vorübergehend auch ohne Wasser auskommen.
Jeder Schuss dieser Art ist ein Kriegsverbrechen, jeder Beteiligte in der russischen Kommandokette kann dafür eines Tages vor Gericht gestellt werden. Warum geht Russland dieses Risiko ein? Ist Wladimir Putin einfach nur wütend über jüngste militärische Rückschläge, die die russische Armee hier und da erleiden musste? Sucht er kurzfristig Rache? Oder steckt eine längerfristige Strategie dahinter?
Erklärungen abseits des Militärischen
Professor Douglas London, ein Mann mit hoher Stirn, dunklem Scheitel und dicker Brille, sieht sich durch die jüngsten Ereignisse bestätigt. Er unterrichtet Außenpolitik an der Georgetown University in Washington. Seine Studenten wissen: Professor London hat zum Thema internationale Beziehungen ein bisschen mehr zu bieten als bloße Theorie. Denn er arbeitete, bevor er an die Uni wechselte, drei Jahrzehnte beim amerikanischen Geheimdienst CIA - und hat zum Thema Putin seine ganz eigenen Einschätzungen.
Anders als viele westliche Experten wischt der Professor alles, was im engeren Sinne mit Streitkräften und Strategien zu tun hat, beiseite. In Debatten über Putins Pläne und Motive, sagt er, würden militärische Fragestellungen völlig überschätzt. In Wahrheit interessiere sich der russische Präsident nicht fürs Militär. In der Truppe habe er keine Freunde, er misstraue ihr sogar.
Um Putin zu verstehen, betonte Professor London jüngst im Onlineforum „Just Security“, müsse man sich auf die Denkweise eines KGB-Manns im Kalten Krieg einlassen. Putin sei nun mal ein Geheimdienstoffizier gewesen - und im Grunde seines Herzens auch geblieben: immer trickreich, immer aggressiv – nie berechenbar oder gar logisch.
„Putin ist wie ein Hai, der in Bewegung bleiben muss“
„Putin ist wie ein Hai, der in Bewegung bleiben muss, um zu überleben“, urteilt London. Auf diese Weise könne er sich ständig von seinen eigenen Fehlern entfernen – und jede bisherige Erzählung im Handumdrehen zu seinen Gunsten verändern.
Diese Deutung klingt in ihrer maximalen Uneindeutigkeit verstörend. Sie passt aber zum schwer erklärlichen Hin und Her Russlands in der Ukraine.
Militärisch ergab, was dort passierte, oft keinen Sinn. Mal staute sich ein 60 Kilometer langer russischer Militärkonvoi vor Kiew – der am Ende peinlicherweise sogar umdrehen musste. Später, im Süden der Ukraine, fuhren sich russische Artillerieeinheiten in einem heillosen Grabenkrieg fest und gerieten am Ende ihrerseits unter schweres Feuer. Zuletzt wurden Gebiete offiziell von Russland annektiert, die noch gar nicht vollständig erobert waren.
All diese militärischen Peinlichkeiten waren dem russischen Staatschef egal, einschließlich der hohen eigenen Verluste. Inzwischen hat Putin mit Blick auf die Ukraine eine Herangehensweise gefunden, die ihm am allerbesten zu gefallen scheint: die erbarmungslose Konzentration russischer Luftangriffe auf wehrlose Zivilisten.
Ziel ist die Maximierung menschlichen Leids
Die russische Armee strebt in der Ukraine, so pervers das klingt, nach der Maximierung menschlichen Leids. Putin will so viele ukrainische Familien wie möglich in die Flucht schlagen, indem er ihre Häuser vor dem Winter durch Bombardierungen zu hoffnungslosen Orten macht: kalt, dunkel, ohne Wasserversorgung. Am Ende drohe, warnt der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal, ein „Migrationstsunami“.
Genau das ist Putins Plan. Eine neue Flüchtlingswelle, größer als die erste im Frühjahr, soll im Winter die ohnehin schon genervte Bevölkerung in den EU-Staaten endgültig überfordern – und die Hilfsbereitschaft gegenüber der Ukraine politisch kollabieren lassen.
Anfangs zeigten die EU-Staaten, Polen vorneweg, noch eine enorme Aufnahmebereitschaft. Auch die Deutschen hießen ukrainische Flüchtlinge herzlich willkommen. Wird es dabei aber auch dann bleiben, wenn weiter die Energiepreise steigen und der Eindruck von Wohlstandsverlusten um sich greift? Ihre verlorene Kaufkraft spüren die Europäer jeden Tag, die Inflation im Euroraum liegt, wie am Montag gemeldet wurde, bei 10,7 Prozent.
„Putin testet Europa“, meint der renommierte Flüchtlingsexperte Gerald Knaus. „Er testet unsere Werte, er testet unsere Solidarität, er testet unsere Institutionen.“ Bis jetzt habe die EU die Herausforderungen bravourös gemeistert. „Aber die wirklich schwierige Runde kommt jetzt im Winter“, sagte Knaus in der ARD-Dokumentation „Vertreibung als Waffe?“.
Rechte Tendenzen in Europa
In Italien und Schweden triumphierten bei jüngsten Wahlen bereits rechte Kräfte, die auf mehr Abschottung gegen Flüchtlinge setzen. In Deutschland gibt es inzwischen einen offenen Aufstand der Unanständigen, mitunter sogar begleitet von Attacken auf Flüchtlingsheime. Immer lauter werden jene, die auf mehr Nationalismus setzen, auf mehr Abschottung gegenüber der Ukraine und auf mehr Katzbuckeln vor Putin – wenn nur ja die Energiekosten gering gehalten werden. In einer für sie selbst verblüffenden Weise vermischen sich die Fans von Alice Weidel (AfD) und von Sahra Wagenknecht (Linkspartei). Das Verbindende liegt im Nein zur Nato und zu den USA. Und überall, wo Putin es schafft, aus dieser bisherigen Minderheit eine Mehrheit zu machen, oft geht es auf kommunaler Ebene los, hat er politisch den Kampf gewonnen.
Durch mehr Flüchtlinge zu mehr Ausländerfeindlichkeit, durch mehr Ausländerfeindlichkeit zu mehr Unruhe in den westlichen Demokratien: Wie dieses zynische Dominospiel mit Millionen Menschen eiskalt zu Gunsten Moskaus gesteuert werden kann, hat Putin bereits im Jahr 2015 vorgeführt.
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In Syrien setzte er durch Luftangriffe auf zivile Infrastrukturen die größte Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg in Gang. Russische Bomber ließen etwa in Aleppo bei ihren „Double-Tap-Attacken“ noch gezielt die Trümmer von bereits zerstörten Kliniken tanzen: Auch herbeieilende Rettungskräfte sollten getötet werden. Wo auf diese Art bombardiert wird, verlieren Menschen ihre letzten Hoffnungen – und fliehen.
Dieses mörderische Muster soll in der Ukraine wiederholt werden. Der Mann, der damals in Syrien die Befehle gab, Luftwaffengeneral Sergej Surowikin, ein „Held Russlands“, wurde Anfang Oktober von Putin zum Oberbefehlshaber aller russischen Truppen in der Ukraine ernannt.
Statt Atomkrieg droht wohl eher Sabotage
Heute wie damals bilden aus Putins Sicht militärische und politische Attacken auf den Westen eine Art Gesamtkunstwerk. Während Putin in Syrien die Flüchtlingswelle antrieb, unterstützte er zugleich in der EU die Parteien, die gegen Flüchtlinge mobil machten. Ihn treibt der Spaß an Chaos und Entgleisung - wie einen kleinen Jungen, der seine Märklin-Bahnen kollidieren lässt und beide Trafos hochdreht.
Russische Trolle verschafften schon damals europäischen Rechtsextremisten aller Länder im Internet zusätzliche Resonanz. An die Bewegung Le Pens in Frankreich gingen russische Bankkredite in namhafter Höhe. In Großbritannien war der größte Geldgeber der Brexit-Kampagne von 2016 der zwielichtige Aaron Banks, ein Geschäftsmann, der Millionen mit russischen Minen verdiente. In Italien schmust Putin bis heute mit dem schmierigen rechtspopulistischen Milliardär Silvio Berlusconi – der in der aktuellen Regierungskoalition in Rom erneut eine Rolle spielt.
Muss Putin einem teilweise bereits derart in den Morast geratenen Westen überhaupt noch mit Atomwaffen drohen? Putin tut es immer wieder, es gehört für ihn zu den Standards seiner psychologischen Kriegsführung . Zugleich scheint er jedoch zu ahnen, dass im Winter 2022/23 auch mildere Mittel ausreichen könnten, um den Wehrwillen der westlichen Gesellschaften und ihre Hilfsbereitschaft der Ukraine gegenüber aus den Angeln zu heben.
„Sabotage“, schreibt die deutsche Politikwissenschaftlerin Constanze Stelzenmüller im Blog der amerikanischen Denkfabrik Brookings, „bietet ein weitaus besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis als Atomwaffen.“ Angriffe auf die physische und digitale Infrastruktur seien schwer zu verhindern und noch schwerer zuzuordnen. „Sie untergraben das Vertrauen in die Regierung und nutzen die Risse und Schwachstellen westlicher Gesellschaften aus. Sie ermöglichen es einem Gegner, sich der Vergeltung zu entziehen und auf Zeit zu spielen.“
Attacken auf E-Werke, Pipelines und Banken
Schon im Juni dieses Jahres warnte Wolfgang Wien, Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), vor dem Eindringen staatlicher russischer Akteure in die sicherheitsrelevante IT-Systeme. „Es wird gerade etwas vorbereitet“, orakelte Wien bei der Potsdamer Konferenz für Nationale Cybersicherheit. „Russland ist in unseren Netzen.“
Was, wenn im Winter aus unerklärlichen Gründen deutsche Stromversorger niemanden mehr versorgen können, wegen unerklärlicher Cyberattacken? Putin könnte stets achselzuckend auf private Hacker verweisen, die er nicht unter Kontrolle habe.
Was, wenn Bahnen nicht mehr fahren wie am 8. Oktober 2022, als zeitversetzt zwei zueinander redundante Kabel bei Herne und in Berlin durchtrennt wurden? Was, wenn plötzlich auch das Internet nicht mehr funktioniert? Und wenn, wie deutsche Dienste warnen, womöglich auch noch Finanzinstitute in die Knie gehen, Überweisungen nicht mehr ausführen und die Automaten auch kein Bargeld mehr auszahlen?
Sollten in einer solchen zugespitzten Situation dann auch noch die Pipelines aus Norwegen unter dem Meer zerstört werden, die derzeit wichtigsten Versorgungsadern für Gas, könnten die Europäer, die stabilitätsverwöhnten Deutschen vorneweg, rasch die Nerven verlieren.
Es geht nicht zuletzt um Deutschland
Seit Langem sagen Putin-Kenner, der russische Präsident, der lange in Dresden gelebt und als Geheimagent gearbeitet hat, der die deutsche Sprache kennt und auch den großen ökonomischen und stimmungsmäßigen Einfluss Deutschlands auf den Rest Europas, habe es bei seinem Psychokrieg in erster Linie auf Deutschland abgesehen: Das mit 80 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land im Zentrum der EU stehe, auch wenn er darüber schweige, im Mittelpunkt seiner Strategien.
Gegen die drohende Haltlosigkeit von Land und Leuten in diesem Winter könnte es helfen, rechtzeitig die Dimension der Bedrohung zu beschreiben. Es geht im Ukraine-Krieg um mehr als die Ukraine. Putin strebt nach Ausdehnung seiner Macht durch Angst: über Russland hinaus und auch über die Ukraine hinaus. Jeder Schuss auf ein E-Werk oder ein Wasserwerk in Kiew ist zugleich eine Attacke auf die Herzen und Hirne aller Europäer.
Darauf aufmerksam zu machen ist keine Panikmache, im Gegenteil. Es ist der erste Schritt dazu, die nötige Festigkeit zu finden und den möglichen Attacken standzuhalten. Schon einmal, im Frühjahr dieses Jahres, hat Putin Solidarität und Menschlichkeit der Europäer völlig unterschätzt. Offenbar liegt das daran, dass Solidarität und Menschlichkeit in seinem eigenen Weltbild nicht vorkommen: Putin glaubt, dass es nur zwei Wege gibt, Menschen dazu zu bewegen, etwas zu tun: indem man ihnen entweder Geld gibt oder sie dazu auf brutale Weise zwingt. Etwas Drittes hat in seinem Denken keinen Platz.
Darin liegt die Beschränktheit des einstigen KGB-Offiziers. Der von Putin erhoffte endgültige Triumph seiner systematischen Menschenverachtung über die Idee von Würde, Recht und Freiheit des Einzelnen ist keineswegs garantiert. In Wahrheit gilt heute wie zu allen Zeiten ein alter Lehrsatz von Karl Popper: „Die Zukunft ist weit offen. Sie hängt von uns ab. Von uns allen.“