Wolodymyr Selenskyj ist am Sonntag zum ersten Mal seit Beginn der russischen Invasion zu Besuch in Deutschland. Seine Botschaft war klar.
Besuch in Berlin und AachenSelenskyjs Dank an Deutschland – und eine neue Forderung an Tag 444
Der ukrainische Präsident und sein Land bekommen in Aachen den Karlspreis für ihren Mut und ihre Kraft bei der Verteidigung gegen Russland - und damit auch für ihren Kampf um Freiheit und Demokratie in Europa. Bei seinem Besuch vorher in Berlin macht Selenskyj aber klar, was er mehr als Preise braucht: noch mehr Waffen.
Es ist Tag 444. Es ist diese Zahl, die für unermessliches Leid und Grausamkeit steht. Für den Kampf der Ukraine gegen Russland. Auch am Wochenende überzieht Moskau das Land wieder mit Angriffen. „Seit 444 Tagen läuft der erbarmungslose russische Angriffskrieg gegen dein Land“, sagt der Bundeskanzler am Sonntag, als er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Kanzleramt empfängt.
Selenskyj trifft Scholz: Neues Waffenpaket für die Ukraine
Der oft eher kühl wirkende Olaf Scholz formuliert es emotional: „Im Angesicht des Schreckens, des himmelschreienden Unrechts, rücken wir noch enger zusammen.“ Und wieder sein Mantra: „Wir unterstützen euch so lange, wie es nötig sein wird.“ Humanitär, politisch, finanziell „und natürlich auch mit Waffen“. Selenskyj steht neben ihm in olivfarbener Hose und schwarzem Pullover. Sein Gesicht wirkt zunächst starr.
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Mit dem Treffen soll dieser Eindruck der Vergangenheit angehören: Dass es um das deutsch-ukrainische Verhältnis nicht zum Besten steht, obwohl Deutschland Waffen im Milliardenumfang liefert und eine Million Geflüchtete aufgenommen hat. Die Bundesregierung sichert Selenksyj ein weiteres Waffenpaket im Volumen von 2,7 Milliarden Euro zu. Darin enthalten: 20 weitere Marder-Schützenpanzer, 30 Leopard-1-Panzer und vier Flugabwehrsysteme Iris-T SLM - von der deutschen Rüstungsindustrie bereitgestellt werden. Darüber verfügt die Bundeswehr zum Teil selbst nicht.
Selenskyj lobt Scholz für dessen „Führungskraft“
Selenskyj hat die Sicherheitsstufe eins. So wie der US-Präsident und die israelische Staatsspitze. Auf Dächern im Regierungsviertel sind Scharfschützen postiert, die Polizei sperrt Straßen ab, er wird im Hubschrauber geflogen und übernachtet im hochgesicherten Bendlerblock, dem Sitz des Verteidigungsministeriums. Die Luftwaffe hat den Präsidenten von Rom nach Berlin gebracht und twittert in der Nacht: „Herzlich willkommen in Deutschland! Es ist uns eine große Ehre, den Präsidenten im deutschen Luftraum zu begrüßen!“ Ein A319 der Flugbereitschaft habe ihn in Rom abgeholt und: zwei Eurofighter „eskortierten ihn sicher nach Berlin“.
Eurofighter - Kampfjets möchte die Ukraine auch haben. Das ist einer der sensiblen Punkte in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz. Kiew bittet um F16-Kampfjets der USA. Sie gelten als wendig und recht leicht bedienbar. Aber auch deutsche Eurofighter oder Tornados würde Kiew nach eigener Auffassung helfen. Scholz weicht dem Thema aus. Aber Selenskyj sagt auf die Frage nach Kampfflugzeugen: „Ich denke, dass es darum im zweiten Teil unseres Gesprächs gehen wird.“ Kiew arbeite daran, „eine Kampfjetkoalition zu schaffen“. Selenskyj betont: „Mein Besuch in den europäischen Hauptstädten dient unter anderem diesem Ziel.“
Er lobt „Olaf“ für seine „Führungskraft“: „Je mehr Deutschland hier führend ist, desto besser ist das für den Frieden in der Welt und desto mehr Stabilität wird es in den internationalen Beziehungen geben.“ Das erneute Waffenpaket zeige den Willen des deutschen Volkes, die Freiheit zu verteidigen. Deutschland leiste nach den USA die zweitgrößte Hilfe für die Ukraine. „Ich denke, dass wir daran arbeiten werden, Deutschland auf den ersten Platz in der Unterstützung zu bringen.“
Selenskyj äußert sich zu Ukraine-Krieg
Auf die Frage, ob das neue Waffenpaket aus Deutschland für die geplante Großoffensive gegen Russland ausreiche, sagt Selenskyj jetzt mit einem Anflug von Lächeln: „Noch einige Besuche, und dann ist es ausreichend.“ Und so ernst die Lage auch ist, antwortet Scholz: „Viel Erfolg!“ Er will offensichtlich nicht gleich die nächste Schleife drehen.
Zur heiklen Frage an Selenskyj, ob er mit westlichen Kampfjets russisches Territorium angreifen würde, antwortet er zunächst verklausuliert: „Dorthin, wohin ich komme, komme ich offiziell. Ich dringe nirgends ein.“ Auf Nachfrage versichert er: „Wir greifen kein russisches Gebiet an. Wir befreien unsere legitimen Gebiete. Für etwas anderes haben wir weder Zeit noch Kraft. Wir haben auch keine Waffen übrig, mit denen wir das tun könnten.“ Das heißt aber auch: Auch die 2014 von Russland annektierte Krim will er zurückerobern.
Am Morgen hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den ukrainischen Präsidenten in Schloss Bellevue empfangen. Es wird als weitere Geste der Normalisierung der bilateralen Beziehungen gewertet, Denn Steinmeier war im vorigen Jahr von der ukrainischen Seite ausgeladen worden, als er zusammen mit anderen Staatschefs Kiew aus Solidarität besuchen wollte. Erst später kam es zu einer Visite.
Selenskyj schreibt dort ins Gästebuch. „Vielen Dank, Herr Bundespräsident, für Ihre persönliche Unterstützung der Ukraine und Gastfreundschaft.“ Und auf Deutsch: „Danke Deutschland!“ Im Kanzleramt wird er noch persönlicher: „Ich möchte mich bei allen deutschen Familien, bei jedem deutschen Steuerzahler, bei jeder Stadt und bei jedem Bundesland bedanken für die Unterstützung unserer Menschen, die in Deutschland Schutz gefunden haben.“ Und: Danke. Für jede Mutter, für jedes Kind, das Sie gerettet haben.“
Scholz begleitet Selenskyj nach Aachen
Zusammen fliegen Scholz und Selenskyj anschließend nach Aachen. Ihm und der Ukraine wird der Karlspreis verliehen. Für ihren Kampf auch um die Einheit Europas. Scholz hält die Laudatio. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird dort über Selenskyj sagen, sie sei „berührt von dieser unerschütterlichen Standfestigkeit“.
SPD-Chef Lars Klingbeil sagt dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Die Ukraine gehört zu Europa, sie verteidigt gegen Russland jeden Tag unsere europäischen Werte.“ Die Verleihung des Karlspreises zeige genau das. „Natürlich gelten für einen ukrainischen EU-Beitritt die gleichen Bedingungen wie für alle anderen Länder, aber wir sollten dieses wichtige Anliegen vorantreiben. Deutschland kommt auch dabei eine große Verantwortung zu. Wir haben die Kraft, in Europa Dinge anzustoßen und zu beschleunigen.“
Scholz spricht im ehrwürdigen Krönungssaal des Rathauses aus dem 14. Jahrhundert dann von dem russischen Angriffskrieg als „ein Krieg, der sich gegen alles richtet, wofür Europa steht“. Aber dieser Krieg bedeute für die Europäische Union auch: „Wir stehen zusammen! Wir gehören zusammen! Und: Unsere Geschichte wird gemeinsam weitergehen.“ Er verspricht der Ukraine mit seiner Rede den EU-Beitritt: „Ukrayina tut! A Ukrayina – tse Yevropa! Die Ukraine ist hier! Und die Ukraine ist Europa!“ Die Frage bleibt: Wann?