In militärisch-akademischen Kreisen der USA wächst die Sorge, der ukrainische Gegenangriff auf Russland könne eine atomare Reaktion auslösen.
Früherer US-General warntSorge vor Atomschlag: Bricht Putin das nukleare Tabu?
Die Militärakademie West Point, eine Autostunde nördlich von New York, ist ein Ort zum Durchatmen und zum Nachdenken. Dazu trägt schon die Lage des 65 Quadratkilometer großen Grundstücks im Grünen bei: Die angehenden Offiziere blicken hier auf Wälder, sanft rollende Hügel und den blinkenden Hudson River.
West Point ist anspruchsvoll. Die Akademie will „Leaders of Character“ hervorbringen: Absolventen, die selbstständig denken und idealerweise so überzeugend handeln, dass sie schon durch ihr Vorbild imstande sind, andere zu führen. Man übt den aufrechten Gang. Dazu wiederum passt eine liberale Debattenkultur.
So warf jetzt das Modern War Institute in West Point mal ganz entspannt eine Frage auf, über die seither in militärischen Kreisen viel diskutiert wird: Was passiert eigentlich, wenn die Gegenoffensive der Ukrainer in diesem Sommer schneller läuft und erfolgreicher ist als gedacht?
Droht dem Westen „ein katastrophaler Erfolg“?
Die Antworten, die in dieser Fachdebatte gegeben werden, könnten Laien beunruhigen, insbesondere in Europa: Amerikanische Militärexperten sehen das wachsende Risiko einer nuklearen Eskalation.
Dem Westen drohe in der Ukraine „ein katastrophaler Erfolg“, warnt Alex Betley in einem Aufsatz fürs Modern War Institute. Seit der Annexion im Jahr 2014 betrachte Russland die Krim als Teil des russischen Staatsgebiets. Daher berge in den kommenden Wochen jede ernsthafte Bedrohung der Krim die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen: „Dieses Risiko wird durch eine wirksame Gegenoffensive, die die Krim bedroht und bei der das Momentum eindeutig bei den Ukrainern zu liegen scheint, erheblich erhöht.“
Anfangs waren es vor allem linke Europäer, die vor einem Atomkrieg wegen der Ukraine warnten. Doch ihre These, schon Waffenlieferungen des Westens würden Wladimir Putin zu Atombomben greifen lassen, wurde nach und nach widerlegt. Sogar die Lieferung moderner westlicher Kampfpanzer führte zu keiner nuklearen Eskalation. In großen Teilen der Bevölkerung in den EU‑Staaten sind daher die Atomängste nicht mehr so virulent wie vor einem Jahr.
Ein verblüffend ernster Tonfall
Inzwischen aber kommen kurioserweise die Warnhinweise aus der militärisch-akademischen Szene der USA. Und deren Tonfall ist zum Teil verblüffend ernst.
„Ich behaupte, dass Putin in seinem Krieg in der Ukraine eine taktische Atomwaffe einsetzen wird“, schrieb Kevin Ryan, ein früherer amerikanischer Brigadegeneral und heutiger Harvard-Dozent, Mitte Mai auf der Plattform „Russia Matters“. Ryan hat viele Jahre in Europa gelebt, seine Kinder kamen in Süddeutschland zur Welt. Von 2001 bis 2003 war er amerikanischer Militärattaché in Moskau.
In einem Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland sagte Ryan in dieser Woche, er habe sich lange überlegt, ob er mit seinen Warnungen an die Öffentlichkeit gehen soll. „Ich will wirklich nicht als Untergangsprophet hervortreten“, sagt Ryan. „Doch wir sollten über dieses Thema endlich eine redliche Debatte führen.“
Die Nato-Staaten schätzen nach Ansicht Ryans immer wieder die Bedeutung ihrer eigenen Handlungen und Beschlüsse zu hoch ein. „Putin wartet nicht auf irgendeinen Fehltritt des Westens“, betont Ryan. „Wenn Putin zu einer nuklearen Gefechtsfeldwaffe greift, wird dies auch nicht die Schuld der Ukraine sein.“ Der Kremlherr verfolge vielmehr seine ganz eigene Agenda.
Putin, sagt Ryan, habe bereits seit Beginn des Krieges systematisch die Voraussetzungen für den Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine geschaffen und davon auch immer wieder gesprochen. „Dass China seine nukleare Rhetorik kritisiert hat, ist ihm egal“, sagt Ryan. „Putin wird zu nuklearen Gefechtsfeldwaffen greifen, sobald ihm dies geboten erscheint.“ Möglich sei dies etwa in einem Moment, in dem seine Truppen sich auf konventionelle Weise nicht mehr durchsetzen können.
Soll also die Ukraine auf ihren Gegenangriff verzichten? Nein, sagt Ryan. Aber zur Wahrheit gehöre nun mal, dass es das reale Risiko einer nuklearen Eskalation gebe - ein Szenario, auf das der Westen seine Truppen und seine Zivilbevölkerung lieber systematisch vorbereiten solle statt das Thema weiter zu verdrängen.
Ausdrücklich geht Ryan auf Distanz zu US‑Geheimdienstchefin Avril Haines, die das Risiko einer nuklearen Eskalation als gering bewertet. Auf entsprechende Fragen von US‑Senatoren bei einer Anhörung im Kongress hatte Haines gesagt: „Nach unserer derzeitigen Einschätzung ist das sehr unwahrscheinlich.“
Ähnlich sieht es der international gut vernetzte deutsche Atomwaffenexperte Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Kühn wunderte sich dieser Tage nach eigenen Worten über den „alarmistischen Ton“ von Ryan, den er als besonnenen Kollegen kennengelernt habe.
Vier schlechte Zeichen
Kühn verweist im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland darauf, dass die russischen Atomsprengköpfe sich nach westlichen Erkenntnissen wie eh und je in zentralen Lagern befinden: „Da haben wir keine Bewegung gesehen.“ Offenbar entfalteten jüngste Drohungen des Westens Richtung Moskau durchaus Wirkung. Hinzu komme, dass Putin immer noch auf sein internationales Image achte. „Es geht dabei nicht um den Westen, den hat er abgeschrieben“, sagt Kühn. „Putin will es sich aber nicht mit China verderben, mit Indien und mit den Ländern Afrikas und Lateinamerikas, mit denen Moskau gerade die Beziehungen intensiviert.“
Mahner und Warner sehen gleichwohl vier schlechte Zeichen, die auf einen möglicherweise bald bevorstehenden Griff Putins zu Atombomben hindeuten.
- Im Februar dieses Jahres setzte Putin zum großen Bedauern der USA den Atomwaffenkontrollvertrag „New Start“ (Strategic Arms Reduction Treaty) aus. Damit sind gegenseitige Inspektionen nuklearer Arsenale unmöglich geworden.
- Im März kündigte Putin die Verlegung russischer Nuklearwaffen nach Belarus an. Damit geraten mehr Gebiete der Ukraine und im Baltikum in den Wirkungskreis seiner nuklearen Kurzstreckenwaffen.
- In seiner diesjährigen Rede zum 9. Mai warf Putin dem Westen vor, nichts Geringeres zu planen als „den Kollaps und die Zerstörung Russlands“. Damit griff er zu einer Rhetorik, die nach der russischen Militärdoktrin den Einsatz von Atomwaffen erlauben würde.
- Am 16. Mai gegen 3.30 Uhr fing die ukrainische Luftabwehr 18 aus verschiedenen Richtungen beinahe gleichzeitig heranfliegende russische Raketen diverser Typen ab, darunter sechs laut Putin „unaufhaltsame“ Überschallraketen. Dies kratzt an Russlands Status als gefürchtete Atommacht.
Folgt man Putins Logik, erscheint ein zumindest begrenzter Griff Russlands zu atomaren Gefechtsfeldwaffen fast schon zwingend. Allerdings würde Putin damit das nukleare Tabu brechen, das weltweit seit dem Jahr 1945 beachtet wird. Wagt er das?
Eine quälende Uneindeutigkeit
Schon einmal, Anfang 2022, als es um den drohenden Beginn des Krieges als solchen ging, glaubten viele im Westen: Das macht Putin nicht, so verrückt wird er nicht sein.
Wie verrückt ist er aber wirklich? Fest steht nur: Über den weiteren Verlauf des Krieges entscheiden „die Gedanken und Gefühle eines einzigen Mannes“, wie es das renommierte US‑Magazin „Foreign Affairs“ in seiner jüngsten Ausgabe seufzend analysiert: Leider führe die aktuelle Debatte „zurück zu einem der undurchsichtigsten Aspekte der gegenwärtigen Krise: zum Geisteszustand Putins“.
Die Nato kämpft tagein, tagaus mit einer quälenden Uneindeutigkeit. Satelliten, Spionageflugzeuge und menschliche Informanten fügen ein Bild von Russland zusammen, das rund um die Uhr laufend erneuert wird - aber dennoch stets zwiespältig bleibt. Solange Putin die nuklearen Sprengköpfe abseits der Gefechtsfeldwaffen verwahren lässt, erscheint alles gut. Doch dies kann sich schnell ändern. Das Aufschrauben der Sprengköpfe auf Raketen würde in ganz Europa Hochspannung auslösen, die Vorwarnzeiten wären auf wenige Minuten verkürzt.
Auch ein solches Manöver allerdings könnte, betonen Nato-Insider, ein bloßer Bluff sein. Nach Einschätzung von Ryan indessen wird Putin darauf bedacht sein, künftig nicht mehr als Bluffer dazustehen. Schon durch eine einzige tatsächliche Atomexplosion könne Putin mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Erstens vereitele er damit den seit Langem erwarteten ukrainischen Gegenangriff. Zweitens vermeide er weitere große Verluste auf russischer Seite. Drittens werde auf einen Schlag die Autorität Russlands wiederhergestellt.
Politikern in den Nato-Staaten widerstrebt es, sich einzulassen auf jenen grauenerregenden Schwebezustand, der erreicht wäre, wenn atomare Gefechtsfeldwaffen explodiert sind, ein Weltuntergang aber ausgeblieben ist. Genau darum aber geht es: Nukleare Gefechtsfeldwaffen können so eingesetzt werden, dass ihre Wirkung weit hinter der Hiroshima-Bombe von 1945 zurückbleibt.
Was genau wäre die Folge, politisch und militärisch, wenn Moskau auf diese Art einige Tausende Ukrainer und Ukrainerinnen tötet und einen begrenzten Umkreis verstrahlt – der Rest der Welt aber kein physisches Leid erfährt?
Ryan glaubt, Hunderte Millionen Europäer und Europäerinnen würden dann von Kriegsangst gepackt – „aber sieben Milliarden andere Menschen auf der ganzen Welt werden ihren Geschäften nachgehen, zwar alarmiert, aber körperlich unbeeinträchtigt von einer Atomexplosion in der Ukraine“. Dieses Ergebnis eines russischen Nuklearangriffs könnte „das gefährlichste für die internationale Ordnung sein“.
„Spill-over-Effekte“ für Peking und Teheran?
Zieht der frühere KGB‑Agent Putin, ein eiskalter gelernter Angstmacher, exakt dieses Szenario ernsthaft in Betracht? Will er so die Ukraine und ihre Freunde und Förderer im Westen emotional und politisch doch noch auseinandertreiben? Oder will er, mehr noch, chaotische globale Gesamtumstände schaffen, die dann seine Freunde in Peking dazu treiben, gleichzeitig nach Taiwan zu greifen – da ja die Supermacht USA plötzlich in Europa auf so kolossale Weise abgelenkt sein wird?
Hinter den Kulissen ist von potenziellen „Spill-over-Effekten“ die Rede. Auch eine parallele Eskalation des Konflikts zwischen dem Iran und Israel gilt als möglich.
Um dies alles zu verhindern, soll der Westen der russischen Seite dem Vernehmen nach einen schweren Schlag angekündigt haben: Sofort nach der Explosion einer russischen Atombombe werde die Nato sämtliche russischen Truppen in der Ukraine samt Waffen und Gerät vernichten sowie alle russischen Schiffe im Schwarzen Meer versenken. Gedacht ist dies als eine wohlgemerkt noch immer nichtnukleare Antwort – die allerdings bereits den Übergang zum Dritten Weltkrieg bedeuten würde.
Auf diese Abschreckung baut jetzt die Ukraine. Die Möglichkeit einer nuklearen Eskalation durch Russland allerdings fließt, ohne dass die Ukraine dies an die große Glocke hängt, schon in die Planungen für die Gegenoffensive ein.
„Kiew kennt die Risiken“, sagt Nico Lange, Ukraine-Experte der Münchner Sicherheitskonferenz. Niemand wolle einer nuklearen Gefechtsfeldwaffe ein lohnendes Ziel bieten. „Wir werden daher keine großen Truppenmassierungen nahe der russischen Grenze erleben und auch nicht auf der Krim.“