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„Strategische Meisterleistung“Wie die Ukraine die Russen in Charkiw überlistet hat

Lesezeit 4 Minuten
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Ein ukrainischer Kämpfer stützt einen Kameraden nach Kämpfen in Charkiw.

Kiew/Moskau – Für Militärblogger wie den unter Pseudonym schreibenden Amerikaner „Jomini of the West“ war das, was die ukrainische Armee seit dem 6. September in der Provinz Charkiw geleistet hat, die mutmaßlich erstaunlichste militärische Gegenoffensive seit Israels verblüffendem Angriff im Jom-Kippur-Krieg 1973. Zur Erinnerung: Israel stand nach einem Überraschungsangriff dreier arabischer Staaten am 6. Oktober 1973, dem höchsten jüdischen Feiertag (Jom Kippur), am Rande einer Niederlage – durchbrach dann erst die syrischen, dann die ägyptischen Linien.

Doch anders als damals richtete sich die ukrainische Septemberoffensive gegen die vermeintlich zweitstärkste Streitmacht der Welt – und endete mit einer desaströsen Niederlage der Russen, die Hunderte von Panzern und Schützenpanzerwagen dem Gegner überlassen mussten.

Druck auf Selenskyj war groß

Und das nach Wochen des Stillstands – russische Truppen gewannen seit Juli kaum noch Gelände dazu, ukrainische Gegenangriffe fanden trotz Ankündigungen kaum statt. Der Druck auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der immer eindringlicher nach westlichem Kriegsgerät verlangte, war groß, noch vor Beginn des Winters seinem Volk und dem Westen den Nachweis zu erbringen, dass die Verteidiger nicht nur verteidigen, sondern auch attackieren konnten.

Wie der „Spiegel“ analysiert, entwarfen ukrainische Generäle einen Plan, der sich vor allem auf den besetzten Süden des Landes konzentrierte. Und dort auf den Raum Cherson westlich des breiten Flusses Dnipro, wo die Russen ihre kampfstärksten Verbände stationiert hatten. Dort galt es, die neuralgische Landverbindung zur Halbinsel Krim zu sichern.

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beim Besuch im befreiten Isjum

Demnach versorgten amerikanische und britische Geheimdienste den August über ihre ukrainischen Partner mit immer detaillierteren Informationen über Positionen, Stärke und Schwachstellen der russischen Streitkräfte.

Schnell wurde dabei deutlich, dass die Reihen der russischen Truppen im Nordosten besonders stark ausgedünnt waren, was wohl auch daran lag, dass Kiew wiederholt öffentlichkeitswirksam kommunizierte, dass man im Süden angreifen werde. Erinnert sei dabei an die Reaktion deutscher Militärexperten wie Ex-General Roland Kather, der bereits früh Zweifel am Zustandekommen einer Offensive hegte.

Ukrainische Großangriff am 6. September

Tatsächlich zog Russland Truppen im Süden zusammen. was bedeutete, dass es Moskau im Falle eines Angriffs schwerfallen würde, schnell genug Soldaten und Kriegsgerät zurück in den Raum Charkiw im Nordosten zu schaffen. Bereits Ende August begann das ukrainische Militär auch mit dem Beschuss russischer Stellungen im Süden, was für Moskau einer Bestätigung gleichkommen musste, dass da der Hauptstoß geführt werde.

Laut „Spiegel“ war das für britische, amerikanische und ukrainische Strategen die Bestätigung dafür, dass der Plan funktionieren könnte. Obwohl in russischen Telegram-Gruppen seit Monaten vor einem ukrainischen Truppenaufmarsch bei Charkiw gewarnt wurde, kam der große Schlag vom 6. September, einem Dienstag, für die Russen überraschend.

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Mobile Einheiten stießen nach Balaklija vor, schon am ersten Tag drangen die Ukrainer 20 Kilometer weit vor. Um eine Umklammerung zu umgehen verließen die Russen in Panik ihre Stellungen. Den Ukrainern gelang es, eine Schneise zwischen der russischen Grenze im Norden und der Stadt Isjum im Süden zu schlagen.

Während bei den ukrainischen Verbänden einem modernen Prinzip folgend die Kommandeure von Verbänden autonom Lösungen für zuvor gestellte Aufgaben suchen, kollabierten bei den Russen, die traditionell zentralistisch organisiert sind, Befehls- und Kommunikationsketten. Die Folge war ein heilloses Chaos, bei dem die Fliehenden militärisches Gerät zurückließen.

Am 9. September erreichten die Ukrainer Kupjansk

Am 9. September erreichten die Ukrainer Kupjansk, zwei Tage später fiel das strategisch wichtige Isjum. Noch stehen viele der besten Truppen Russlands im Süden des Landes, wo der zweite ukrainische Gegenangriff läuft. Die Offensive dort sei kein reines Ablenkungsmanöver gewesen, sagt der britische Militärexperte Ed Arnold vom Thinktank Rusi im „Spiegel“. Die Truppen seien nach Nato-Konzept ausgebildet worden, so Arnold. „Sie setzen ihre Reserven sinnvoll ein, sie nutzen Schwachstellen aus, und können so nun bedeutende Erfolge verzeichnen.“

9000 Quadratkilometer, zehnmal die Fläche von Berlin, konnten binnen weniger Tage befreit werden. Phillips O‘Brien von der schottischen Universität St. Andrews, spricht per Twitter von einer „strategischen Meisterleistung, die Militärwissenschaftler noch jahrzehntelang beschäftigen wird“. Der amerikanischer Militärhistoriker glaubt, „dass die russischen Streitkräfte auch am Westufer des Dnjepr in den kommenden Wochen scheitern werden“. O‘Brien: „Wäre die Ukraine schon früher so bewaffnet gewesen, wären Zehntausende Ukrainer gerettet worden.“ (RND)