Krieg und Energiekrise haben den Tafeln viele neue Bedürftige beschert. Der Vorsitzende Jochen Brühl über die Belastung Betroffener und seine Forderungen an die Politik.
Tafel am Limit„Armut kennt keine Pause und keine Feiertage“
Menschen, die traumatisiert aus einem Kriegsgebiet fliehen, Menschen, die nicht wissen, wie sie ihr Abendbrot oder die nächste Nebenkostenabrechnung zahlen sollen: Wenn Jochen Brühl an das hinter uns liegende Jahr zurückdenkt, macht er sich Sorgen. „Dieses Jahr sind im bundesweiten Durchschnitt etwa 50 Prozent mehr Menschen zu den Tafeln gekommen als im Jahr zuvor“, sagt der Bundesvorsitzende der Tafel Deutschland, dem Dachverband von mehr als 960 Tafeln hierzulande, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Wir reden über etwa 2 Millionen Menschen, die zu den Tafeln kommen.“
Das sind Zahlen, auf die auch die Tafeln nicht vorbereitet waren. „Zeitweise hatten in diesem Jahr rund 30 Prozent der Tafeln einen Aufnahmestopp“, sagt er. Es seien einfach zu wenige Lebensmittel und Kapazitäten für zu viele Menschen gewesen. „Mehr als 70 Prozent der Tafeln haben zudem angegeben, dass sie weniger Lebensmittel haben.“ Das sei auch darauf zurückzuführen, dass Supermärkte zielgerichteter bestellten und dadurch weniger überbleibe, das später an die Tafeln gehe.
Tafeln arbeiten unterstützend: „Den Versorgungsauftrag hat der Staat“
Dabei verweist Brühl darauf, dass die Tafeln nur unterstützend arbeiteten. „Den Versorgungsauftrag hat der Staat“, so Brühl. Er beobachte aber, dass das so teilweise nicht mehr funktioniere. „Tafeln unterstützen manchmal nicht nur, sondern werden schon fest einkalkuliert.“ Das sei nie die Idee dahinter gewesen - „wir sind mal angetreten, um Lebensmittel zu retten, die übrig sind, und diese an die Menschen weiterzugeben, die zu wenig haben“, sagt Brühl. Das müsse Gesellschaft und Politik nachdenklich machen und zum Handeln bringen.
Er fordert von der Politik: „In dieser Krise muss zielgerichteter geholfen werden. Wir müssen die Menschen, die zu wenig haben, jetzt unterstützen.“ Für Debatten etwa darüber, dass die Kluft zwischen Bürgergeld-Beziehern und Niedrigverdienern groß genug sein müsse, um einen Arbeitsanreiz zu schaffen, hat er kein Verständnis. „Wenn der Abstand zwischen dem, was wirklich gebraucht wird, und dem, was manche Leute wirklich verdienen, zu gering ist, dann sind die Niedriglohngruppen zu niedrig bezahlt“, findet er.
Und verweist darauf, dass 76 Prozent der Grundsicherungsempfänger sogar arbeiteten und mit der Grundsicherung oder dem künftigen Bürgergeld aufstockten. „Die liegen nicht den ganzen Tag in der Hängematte“, sagt Brühl. „Wir brauchen keine Debatten über Sozialneid.“
Tafelchef: „Armut fördert Einsamkeit“
Dass die Armut in Deutschland so stark zugenommen habe, bedrückt den Tafelchef. Das habe er auch gerade über die Weihnachtszeit deutlich gespürt: „Armut kennt keine Pause und keine Feiertage“, sagt er. Sie zeige sich zudem nicht nur materiell, sondern habe auch große Auswirkungen auf die Psyche. „Armut fördert Einsamkeit“, sagt Brühl. Die Menschen an der Armutsgrenze würden aus der Gesellschaft ausgeschlossen, weil sie sich einen Besuch im Café, Theater oder Kino nicht leisten könnten und sich über jede Ausgabe Gedanken machen müssten.
Gleichzeitig sei die aktuelle Situation nicht nur eine riesige Belastung für die von Armut betroffenen Menschen, sondern auch für die bei der Tafel Helfenden, betont Brühl. „Es ist für mich ein Wunder und zugleich gelebte Solidarität, dass sich so viele Ehrenamtliche trotz eigener Betroffenheit von Preissteigerungen und steigenden Energiekosten für andere engagieren.“ Ein Wunder, das keine Selbstverständlichkeit sein sollte, wie der Tafel-Vorsitzende findet.
Tafelchef fordert Entlastungen für Ehrenamtliche
Er fordert deshalb, auch die Helfenden zu entlasten. „Man könnte zum Beispiel Ehrenamtlichen, die eine bestimmte Stundenzahl nachweisen können, ein Verkehrsticket umsonst geben für ihr Engagement“, nennt er nur eine Idee. Denn, so Brühl: „20 Prozent der Helfenden sind selbst auch von Armut bedroht.“ Bereits die Corona-Jahre hätten ihnen zudem psychisch zugesetzt. Dass sie nun teilweise Bedürftige abweisen müssten, weil es nicht genügend Lebensmittel gebe, sei eine zusätzliche Belastung. „Mehr als 60 Prozent der Helfenden haben in einer Umfrage angegeben, dass sie psychisch durch die ganze Situation sehr belastet sind“, sagt Brühl.
Sorgenvoll blickt der Tafel-Chef auch auf das nächste Jahr: „Es gibt weiter Krieg, es ist zu befürchten, dass deshalb weiter viele Menschen flüchten werden, und Inflation sowie Energiekosten bleiben vermutlich weiter hoch. Das trifft vor allem die Niedriglohngruppen.“ So beobachte er schon jetzt, dass immer mehr Menschen zur Tafel kämen, die bisher knapp über die Runden gekommen seien, aber das nun nicht mehr schafften.