Das „Wort des Jahres“ fand sich in diesem Krisenjahr von selbst. Es stammt aus der Regierungserklärung von Kanzler Scholz direkt nach Kriegsbeginn, es sollte Entschlossenheit zeigen, doch es transportiert auch alle Ängste dieses Jahres. Dabei braucht es mehr Licht in dieser „Zeitenwende“, meint RND-Reporter Jan Sternberg.
Wort des JahresWarum „Zeitenwende“ alle Ängste des Jahres transportiert
Wer auf der Straße wendet, will dorthin zurück, wo er schon einmal war. Aber was passiert, wenn die Zeit wendet? Die Zeit kennt nur eine Richtung, immer weiter nach vorne in unbekanntes Territorium. Orientierung kann uns nur die Geschichte bieten, aber die ist, wie schlaue Menschen sagten, eine Lampe, die unpraktischerweise am Heck des Schiffes aufgehängt ist. Vor dem Bug ist Dunkelheit. Die „Zeitenwende“ ist nun auch Wort des Jahres geworden. Die Wahl war naheliegend, vielleicht sogar unvermeidlich.
Bundeskanzler Olaf Scholz, der das Wort in seiner Regierungserklärung vier Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine neu prägte, hat es in einem Namensbeitrag für das US-Journal „Foreign Affairs“ vor Kurzem in die englischsprachige Welt getragen. „The Global Zeitenwende“ steht dort nun neben anderen deutschen Lehnwörtern wie „Autobahn“, „Weltschmerz“ und „Blitzkrieg“.
Die „Zeitenwende“ ist kein U-Turn
Die „Zeitenwende“ aber ist kein U-Turn auf der Autobahn zurück zu einem neuen Kalten Krieg. Denn die bipolare Welt von Nato und Warschauer Pakt kommt nicht wieder zurück, ebensowenig eine simple Systemkonkurrenz zwischen dem Westen und China (mit seiner Tankstelle Russland). Es ist eben alles kompliziert und dunkel da draußen, die Lampe leuchtet nur rückwärts und zeigt Schatten der Vergangenheit: Krieg, Inflation, Energiekrise, Ängste über Ängste – und als skurriles Zuckerl obendrauf ein putschwilliger Provinzprinz.
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Von einem „Epochenbruch“ sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, das klingt kantiger und krasser als „Zeitenwende“. Auf Deutschland kämen „härtere, raue Jahre“ zu, prophezeit das Staatsoberhaupt, und das Publikum mag gedacht haben: Wissen wir, aber wo bleibt das Licht? Wer leuchtet uns das alles mal aus?
Die Antwort mag jahreszeittypisch kitschig geraten: Im Advent scharen wir uns um die Lichter, die wir selbst entzünden, wir halten zusammen und sind für den anderen da. Auch und gerade in einer Zeitenwende voller Ängste.