Nach einem Jahr Kanzlerschaft sind Olaf Scholz' Umfragewerte mies, die europäischen Nachbarn genervt, und das Land steckt in der Krise. Warum sich der Kanzler der Zeitenwende dennoch im Sattel halten wird.
Bilanz nach einem Jahr im AmtOlaf Scholz – Der Kanzler der Krise
Auf diese Frage hat der Kanzler gewartet. Seit Monaten. Eigentlich wartet er fast genauso lange auf diese Frage, wie der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine schon dauert. „Wenn ich für Frieden bin und gegen Krieg – ist das heute despektierlich?“ Das will die Leipziger Bürgerin Carola Zausch beim RND-Bühnentalk von Olaf Scholz wissen. Zuvor hat sie klargemacht, dass sie grundsätzlich gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete ist.
Sechs Minuten redet Scholz über Brandt, die Deutsche Einheit und die Unverletzlichkeit der Grenzen
Scholz beugt sich vor und umgreift sein Mikrofon so eng, als habe er Sorge, es könne ihm in diesem wichtigen Augenblick entgleiten. „Ich bin außerordentlich dankbar“, sagt der Kanzler, „dass Sie mir diese Frage stellen.“ Bevor er sich dann noch ein Stückchen weiter vorbeugt, dreht er sich zur Seite zu den Journalistinnen, die ihn auf der Bühne interviewen. Diese Frage würden ihm jene nicht stellen, die ihn professionell um seine Meinung bäten, sagt er mit tadelndem Unterton. Dann holt er aus und spricht sechs Minuten lang über Willy Brandt, die Deutsche Einheit, die Osterweiterung der EU und der Nato sowie über die Unverletzlichkeit von Grenzen. Er redet auch offen darüber, dass Russlands Präsident Putin in ihrem letzten persönlichen Gespräch deutlich gemacht habe, Belarus und die Ukraine gehörten „ihm“ - ihm Putin. Das war am 15. Februar in Moskau, neun Tage vor dem Überfall auf die Ukraine.
Zum Thema Waffenlieferungen versichert der Kanzler, jede einzelne Entscheidung sei „abgewogen“. Eben dieses „Abwägen“ hat ihm vor allem in den ersten Kriegsmonaten den Ruf des Zauderers eingetragen. Dabei hat er die Zeichen der Zeit früh erkannt. Drei Tage nachdem russische Panzer über die Grenze zur Ukraine gerollt sind, hält Scholz eine große Rede im Bundestag. Sie wird wahrscheinlich die bedeutendste seiner gesamten Amtszeit bleiben.
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Die bedeutendste Rede seiner Amtszeit
„Der 24. Februar markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“, setzt er im ersten Satz den Ton und entlarvt Putin: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stelle dessen eigenes Unterdrückerregime in Frage. Er bereitet die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland darauf vor, dass die Welt nicht mehr dieselbe sein wird wie zuvor und kündigt ein 100-Milliarden-Euro Sondervermögen für die Bundeswehr an. Die größte Oppositionsfraktion, die Union, applaudiert stehend. Mehr geht nicht.
Die Rede und die Ankündigung der militärischen Aufrüstung hat Scholz im In- und Ausland hohen Respekt verschafft. Sie ist auch ein Befreiungsschlag für seine SPD. Sie hat gemeinsam mit der früheren Kanzlerin Angela Merkel Nord Stream 2 vorangetrieben. Unter ihrem früherer Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel durfte die BASF-Tochter Wintershall sämtliche deutschen Gasspeicher in ihrem Besitz an den russischen Staatskonzern Gazprom verkaufen - darunter den größten des Landes im niedersächsischen Rehden.
Und der frühere Außenminister und heutiger Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier muss im Nachhinein Irrtümer in seiner Russland-Politik einräumen, während ältere Fotos die Runde machen, wie er dem russischen Außenminister Lawrow den Arm tätschelt.
Olaf Scholz wird zum Getriebenen
Nach dieser großen Rede kann Scholz die Flughöhe nicht halten. Er wird zum Getriebenen. Der frühere ukrainische Boschafter Andrij Melnyk zieht durch die Talkshows, fordert mehr und schnellere Waffenhilfe von der Bundesregierung. Die Union und ein großer Teil der Medien schlagen in die gleiche Kerbe. Im Kanzleramt ist man erbost darüber – und ärgert sich über die Berliner Blase.
In der Tat geben die Umfragewerte im Frühsommer her, dass sich zwar eine Mehrheit der Deutschen für Waffenlieferung an die Ukraine ausspricht, zugleich aber das besonnene Vorgehen des Kanzlers schätzt.
Zwischen Kanzler Scholz und den Medien steht nicht alles zum Besten
Scholz langjähriger politischer Begleiter und engster Vertrauter, Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt, kann sehr ausdauernd über die Berliner Journalistinnen und Journalisten schimpfen. Auch, weil sie aus seiner Sicht die Dinge nicht von beiden Seiten beleuchten. Aus seiner Sicht erkennen sie zu wenig, welche Strategien der Kanzler verfolgt und überhaupt, so meint er, neigten sie eher den Grünen als anderen Parteien zu. Dabei ist das Klima zwischen Kanzler Scholz und den Medien bedeutend schlechter, als die Rechtspopulisten gerne Glauben machen.
Nun ist die Liste der Fehler, der überflüssigen Streits, der verfehlten Ankündigungen und der Kommunikationspannen der Regierung lang. Zugleich geht mit der Zeitenwende einher, dass Deutschland, dass Europa in der größten und gefährlichsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg steckt. Das hat sich Scholz anders vorgestellt, als er am 8. Dezember seinen Amtseid ablegte.
„Mehr Fortschritt wagen“ wollte er – so der Titel des Koalitionsvertrags. Scholz hat für die in der Zeit gewendeten Weltlage keine Blaupause in der Schublade liegen. Dabei ist er als früherer SPD-Generalsekretär, als einstiger Erster Bürgermeister Hamburgs, als Ex-Arbeits- und Finanzminister sowie als Vergesslichkeitskünstler im Cum-Ex-Skandal mit allen Wassern gewaschen.
Wenn es um die Konsequenzen aus der von ihm so zutreffend beschriebenen Zeitenwende geht, meidet Scholz die Führungsrolle in Europa. Alles erfolge in Absprache mit den Verbündeten, heißt es immer wieder schmallippig aus dem Kanzleramt.
Christine Lambrecht verheddert sich
Zusätzlich rächt sich, dass Scholz bei der Auswahl seiner Verteidigungsministerin keinen guten Griff getan hat. Christine Lambrecht verheddert sich bei Angaben über lieferbare Waffen und Ringtausch-Vorhaben. Sie erklärt Vorgänge zum Staatsgeheimnis, die andere Nationen offen präsentierten. Und mit ihrer vor Beginn des Krieges öffentlich gemachten Zusage für die Lieferung von 5000 Helmen sorgt sie für beißenden Spott.
Auf internationalem Parkett hat der Kanzler noch nicht richtig Tritt gefasst. Das Verhältnis zu Frankreich – eine zentrale Achse der Europäischen Union – ist auf einem historischen Tiefpunkt. Scholz will den Westbalkan an die EU anbinden, damit dieser sich nicht Russland zuwendet. Der französische Präsident Emmanuel Macron ist dagegen. Er will lieber seine Reformagenda in der EU vorantreiben, anstatt die Gemeinschaft durch noch mehr Mitglieder noch manövrierunfähiger werden zu lassen.
Deutschland kauft sich aus der Krise raus
Die gesamte EU, allen voran Frankreich, ist empört über das, was Scholz in Deutschland als „Doppelwumms“ verkauft hat – 200 Milliarden Euro für Wirtschaft und Gesellschaft im Kampf gegen die Energiekrise und zur Abfederung der Inflation. Deutschland kauft sich aus der Krise raus und der Rest Europas bleibe auf der Strecke, schimpfen sie in Brüssel über Scholz. Überhaupt verdrehen sie dort die Augen über den deutschen Kanzler, der sein Ding macht, immer schon alles weiß - und das gerne auch besser.
Auf Kritik, Einwände und Widerspruch reagiert Scholz oft völlig ungerührt. Diese Eigenschaft ist schon Zeit seines politischen Lebens Stärke und Schwäche zugleich. Hatte nicht die ganze Nation die bei 15-Prozent dümpelnde SPD und ihren spröden Kanzlerkandidaten abgeschrieben? Im Team Scholz muss sich der Wahlkampf angefühlt haben wie im gallischen Dorf, das es am Ende den Römern zeigt. Wobei Scholz nicht erst seit seinem überraschenden Sieg bei der Bundestagswahl gegen Anwürfe von außen gut imprägniert ist.
Was man mit Scholz vereinbare, das halte er auch
Seine unerschütterliche Selbstüberzeugung bringt den politischen Gegner oft zur Weißglut und macht sein Umfeld gelegentlich ratlos. Wenn man sich bei Scholz politischen Gegnern umhört, ob und was sie am Kanzler loben können, dann werden Verlässlichkeit und Vertraulichkeit genannt. Was man mit Scholz vereinbare, das halte er auch.
Allerdings ist in Berlin auch seine Sturheit berüchtigt - und die bekommen nun auch die Partner in der internationalen Politik zu spüren. Den Antrittsbesuch in den USA absolviert Scholz Anfang Februar, als die russischen Panzer die Ukraine schon eingekreist haben. US-Präsident Biden erklärt seinem Gast damals, dass ein russischer Angriffskrieg das Aus für die Gaspipeline Nord Stream 2 bedeute. Scholz geht nicht nur nicht auf diese Ankündigung ein. Er nimmt den Begriff Nord Stream 2 noch nicht einmal in den Mund. Auch im Interview mit CNN, das er in fließendem Englisch gibt, weicht er aus bei den Fragen nach der Gaspipeline und nach den für den Rest der Welt offensichtlichen Konsequenzen im Fall eines russischen Überfalls.
Empörung gibt es auch über die China-Reise des deutschen Regierungschefs Anfang November. Dass er erst Japan besucht und dann nach Peking fliegt, macht die Sache aus Sicht vieler Europäer nicht besser. Sie werfen dem Kanzler einen Kurs des „Germany first“ vor.
Ideologische Streits rauben Kanzler und Koalition Kraft
Während der Doppelwumms in Brüssel mächtig geknallt hat, droht er in Deutschland im kommunikativen Dickicht von Strom- und Gaspreisbremse, Über- und Zufallsgewinnen, Einmalzahlungen und Dezemberhilfen sowie im Dauerstreit zwischen Finanz- und Wirtschaftsministerium erstickt zu werden. Die ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Christian Lindner und Robert Habeck rauben dem Kanzler und seiner Koalition viel Kraft, die es eigentlich braucht durch diese historische Krise zu steuern. In der unfruchtbaren Debatte um die Streckung der Atomlaufzeiten muss Scholz seine Richtlinienkompetenz per Brief an die Streithähne zum Einsatz bringen, um eine Entscheidung zu bekommen.
Auch wenn Scholz gelegentlich bei Habeck und Lindner die Nanny spielen muss, ist es für ihn ein Vorteil, dass sich diese beiden rhetorisch so starken Politiker gegenseitig neutralisieren. Scholz selbst kann nur wenig Charisma in die Waagschale werfen und in den entscheidenden Momenten findet er emotional oft den Temperaturregler nicht. So lange die Konkurrenz um ihn herum nicht glänzt, fallen diese Defizite weniger stark ins Gewicht.
Gleiches gilt für die Opposition. Scholz persönliche Umfragewerte sind mäßig, die für seine Partei sind mies. Solange es aber CDU-Chef Friedrich Merz nicht gelingt, sich als Alternative fürs Kanzleramt aufzuschwingen, spielen Scholz schlechte Werte keine große Rolle.
Merkels Kondition galt als legendär
Und so spult dieser Kanzler jeden Tag, jede Woche, jeden Monat sein Programm ab. Wenn man sich nur die Termine ansieht, die die Bundesregierung veröffentlicht, dann ist er noch mehr unterwegs als früher Merkel. Und deren Kondition galt schon als legendär.
Ins Ausland reist der Kanzler in so enger Taktung, dass es sich nicht immer lohnt, die Zeitzonen auf Handy und Tablet umzustellen: Wahlweise China, zwei Golfstaaten oder fünf Balkanländer in jeweils zwei Tagen. Das ist Scholz. Und wenn auf solchen Marathonreisen das offizielle Programm beendet ist, dann bleibt der 64-Jährige häufig noch bei einem Empfang stehen und erklärt sich und seine Politik.
Nach dem Talk in Leipzig nimmt er sich auch noch Zeit. Ein Glas Rotwein, etliche Fotos und mehr als ein Dutzend Zwiegespräche, in denen er sich die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger anhört. Eine knappe Stunde dauert das. Dann geht es im Hubschrauber zurück nach Berlin.