17-Jähriger aus Kiew in NRW„Olympia? Das ist kein Traum. Ich mach das!“
- Der 17-Jährige Taras Teslenko gehörte zu den schnellsten Schwimmern der Ukraine.
- Inzwischen trainiert er am Bundesstützpunkt in Essen.
Essen – Der 24. Februar beginnt für Taras Teslenko wie ein gewöhnlicher Donnerstag. Sein Wecker klingelt um sechs Uhr, er steht auf, macht sich fertig für sein Schwimmtraining, wie jeden Morgen. Bevor er das Haus verlassen kann, kommt sein Vater zu ihm. „Der Krieg hat begonnen“, sagt er. „Bleib zu Hause“. Dann legt er sich wieder ins Bett. Und Taras, fast 17 Jahre alt, schnellster ukrainischer Schwimmer seiner Altersgruppe, geht nicht in seine Trainingshalle in Kiew. Weder an diesem ersten Kriegstag, noch an irgendeinem anderen.
Bundesstützpunkt Schwimmen in Essen, Ende Juni. Taras, Leon und Philipp stehen auf ihren Startblöcken, den Blick aufs Wasser gerichtet, die Arme vorgestreckt. Der Trainer steht mit Stoppuhr in der Hand am Beckenrand, 3-2-1, ein Pfeifen, alle drei stürzen sich hinunter, schlängeln sich unter der Wasseroberfläche voran, von den drei Jugendlichen sind nur noch ihre routierenden Arme und die Wellen zu sehen, die sie aufwirbeln. Philipp schlägt als erster am gegenüberliegenden Beckenrand an, dann Taras, dann Leon. Zwei Bahnen weiter gucken einige Frauen neugierig von ihrem Aquafitness-Kurs herüber.
Taras steht jetzt jeden Morgen um 5.30 Uhr auf, an Samstagen um 6.30 Uhr und fährt für das Schwimmtraining von Düsseldorf nach Essen. Viermal die Woche trainiert er 60 bis 90 Minuten an Land, neun bis zehnmal die Woche zwei Stunden im Wasser. Wenn sie ihn lassen würde, sagt seine Trainerin Nicole Endruschat, würde er sogar elfmal die Woche ins Becken springen. „Schwimmen ist trotzdem nur ein Hobby für mich“, sagt Taras. „Nicht mein Leben.“
Eine Woche versteckte sich die Familie beim Kellereingang
Taras Teslenko wuchs in Kiew auf, der Hauptstadt der Ukraine. Schon als Kind nahm der Sport einen großen Teil seiner Freizeit ein: Er glitt als Eiskunstläufer über das Eis, tanzte, schwamm. „Beim Schwimmen hatte ich immer sehr gute Leistungen und die besten Perspektiven“, sagt Taras. „Im Wasser fühle ich mich einfach wohl.“
Mit elf Jahren verdrängten Schwimmtrainings die Schlittschuhe und Tanzstunden, Taras begann an Wettkämpfen teilzunehmen und gewann. Er wurde Landesbester seiner Altersklasse in der Disziplin 200 Meter Freistil, mit 16 Jahren besiegte er in der Kategorie auch die Erwachsenen. Im Frühjahr wollte er eigentlich seinen Schulabschluss in der Ukraine ablegen, danach studieren, in den USA vielleicht, in Kanada oder England.
24. Februar. Am ersten Tag des Krieges packen Taras, seine zwei jüngeren Geschwister und seine Eltern ihre Habseligkeiten und setzen sich in den Innenhof, in die Nähe des Kellers, wo sie schnell Schutz suchen können. Eine Woche bleiben sie dort, nur zum Einkaufen entfernen sie sich vom nahen Schutz des Kellerlochs. Sie hören Raketen, die in Gebäuden einschlagen, sie hören russische Flugzeuge über die Stadt brettern, alle 30 Minuten. Während Bomben auf seine Heimatstadt fallen, wird Taras 17 Jahre alt. Als die Panzer in Kiew einrollen, sei ihm klar gewesen, dass sie fliehen müssen. „Ich hatte solche Angst, dass mir die Ausreise verwehrt wird“, sagt er. „Ich hatte Angst um mein Leben.“
„Ich hatte das Gefühl, dass die Wände mich erdrücken“
Nach einer Woche wagt die Familie die Flucht. Weil Taras Vater drei minderjährige Kinder hat, ist er von der Generalmobilmachung ausgenommen und darf ebenfalls ausreisen. Drei Tage fährt die Familie, raus aus der Ukraine, über Polen nach Deutschland, zu ihren Freunden nach Düsseldorf. Noch auf der Flucht informiert sich sein Vater über Trainingsmöglichkeiten für seinen Sohn in Deutschland und schickt eine Anfrage an den Deutschen Schwimmverband, der ukrainischen Schwimmern seine Hilfe angeboten hat.
Wenig später tippt Nicole Endruschat in Essen Taras Namen in eine interne Schwimmer-Datenbank ein, scrollt durch seine Wettkämpfe, seine Ergebnisse, die persönlichen Bestzeiten. „Da haben wir direkt gesehen: Das passt“, sagt sie.
Zwei Wochen nach Kriegsausbruch steigt Taras Teslenko in Essen zum ersten Mal wieder in ein Schwimmbecken. „Es kam mir vor, als könnte ich nicht mehr schwimmen“, sagt Taras. Zu groß war der Schock, der Stress der vergangenen Tage. Als habe er die Bewegungen alle verlernt. „Ich hatte das Gefühl, dass die Wände mich erdrücken.“
Nicole Endruschat beruhigt: „In den letzten zwei Wochen hatte er auch einiges erlebt – dass man da nicht in Topform ist, das ist doch völlig verständlich“. Und trotzdem waren die Trainer mit ihrem ersten Eindruck von Taras sehr zufrieden.
Beim SG Essen nicht mehr wegzudenken
Das Schwimmen, sagt Taras, gibt ihm eine Struktur. Jeden Tag verlässt er das Haus in den frühen Morgenstunden, abends komme er gegen 21 Uhr zurück. „Ich will so viel wie möglich aktiv sein“, sagt er. So habe er keine Zeit darüber nachzudenken, dass in seinem Heimatland Krieg herrscht.
Nicole Endruschat sitzt auf einem Stuhl am Beckenrand und guckt immer wieder zu den Bahnen, wo Taras und das restliche Team im Wasser abtauchen. „Es ist schon eine besondere Situation, auch für uns“, sagt sie. Natürlich hat sie viele Fragen an Taras, über seine Flucht, über sein Leben in Kiew. Die meisten stellt sie ihm aber nicht. „Wir wollen ihm erstmal ein stabiles Umfeld bieten, eine Struktur, neue Freunde“, sagt sie. Über die Flucht spreche er von sich aus kaum. „Natürlich möchte man seine Geschichte hören, erfahren, wie es ihm ergangen ist und wie man ihn am besten unterstützen kann. Auf der anderen Seite wollen wir keine Wunden aufreißen.“
Beim SG Essen, sagt Endruschat, war Taras nach zwei Wochen nicht mehr wegzudenken. „Er ist sehr beliebt, im Team kommt er gut an“, sagt sie. Bei den Deutschen Juniorenmeisterschaften im Mai trat Taras für den SG Essen an, er schwamm Bestzeiten, gemeinsam mit drei anderen Schwimmerinnen und Schwimmern aus Essen gewannen sie das Staffelschwimmen. Dort, in Berlin, traf Taras alte Bekannte aus der Ukraine wieder. Auch sie hatten in deutschen Schwimmvereinen Anschluss gefunden. „Das war total schön“, sagt Endruschat. „Er ist richtig aufgeblüht, als er sie gesehen hat.“
Der Plan von Olympia
„Taras ist sehr ehrgeizig“, sagt seine Trainerin. Vor einem Wettkampf frage er sie stets: „Wie schnell muss ich sein, um zu gewinnen?“ Auf die Frage, ob er auch von Olympia träumt, schüttelt Taras den Kopf und grinst. „Das ist kein Traum“, sagt er. „Ich mach das.“
Taras Familie lebt heute in Düsseldorf, nach Essen pendelt Taras jeden Morgen und Abend. Vor zwei Wochen, sagt er, hat er sein Abschlusszeugnis aus der Ukraine bekommen – die Prüfungen hatte er online abgelegt. Im Sommer will er ins Internat der Elite-Schule des Sports ziehen, die nur ein paar Schritte von der Schwimmhalle entfernt steht, und deutsch in einem Intensivkurs lernen.
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Anstatt in Kanada oder den USA wird er hier in Deutschland studieren, Architektur oder vielleicht lieber Psychologie. Seine jüngeren Geschwister vermissen Kiew und wollen zurück, sagt Taras, doch seine Eltern überlegen, ein Unternehmen in Deutschland zu eröffnen. Und auch Taras will hier bleiben. Von Wettkampfstätte in Charkiw, in der er noch vier Monate vor Kriegsbeginn angetreten ist, ist nur noch Schutt und Asche übrig.
Taras und Philipp treten bei den Europameisterschaften an
Beim Training schwimmt Taras meist neben Philipp, ebenfalls 17 Jahre, genauso schnell im Wasser wie Taras. Philipp sei es auch, der aufpasst, dass Taras alle Anweisungen der Trainer versteht. Die beiden harmonieren gut, sagt Nicole Endruschat, sie haben sich in den vergangenen Monaten angefreundet. „Philipp ist Taras direkter Konkurrent und sein optimaler Trainingspartner“, sagt Endruschat. Die Staffel bei den Deutschen Juniorenmeisterschaften hat Taras mit Philipp und zwei Schwimmerinnen aus ihrem Team gewonnen.
An diesem Dienstag, dem 5. Juli, sagt Endruschat, werden Philipp und Taras beide in Bukarest sein, für die Junioren-Europameisterschaft. Beide haben sich für den Wettkampf qualifiziert, Taras für das ukrainische Team, Philipp für das deutsche. Dieses Mal starten sie gegeneinander, nicht miteinander. Endruschat sagt: „Dann werden wir sehen, wer von den beiden der Schnellere ist.”