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Bürgermeister über Entführung„Ich musste jederzeit damit rechnen, getötet zu werden“

Lesezeit 8 Minuten
Iwan Fedorow Interview

Iwan Fedorow beim Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger"

  1. Iwan Fedorow, geboren 1988 im südostukrainischen Melitopol, wurde 2020 Bürgermeister der Stadt.
  2. Zwei Wochen nach der russischen Invasion wurde er am 11. März in Melitopol am helllichten Tag von russischen Soldaten gekidnappt, weil er sich – wie es hieß – den Anweisungen der Besatzer widersetzt habe.
  3. Mit einem Sack über dem Kopf wurde Fedorow in ein Gefängnis verschleppt, wo er sechs Tage eingesperrt war. Im Austausch gegen neun russische Kriegsgefangene wurde er fünf Tage später freigelassen.

Köln – Der Bürgermeister trägt eine olivgrüne Fleecejacke und dunkle Ringe unter seinen blauen Augen. Iwan Fedorow, Stadtoberhaupt des kriegsgebeutelten ukrainischen Melitopol, sind die schlaflosen Nächte während seiner Reise durch Europa anzumerken. Im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ wirkt er freundlich, aber entschlossen.

Herr Fedorow, hier spazieren die Menschen entspannt am Rhein, essen ihr Himbeereis in der Sonne, unter uns feiern gerade einige Paare Hochzeit, während bei Ihnen die Bomben fallen und Familien in Bunkern schlafen müssen. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie das sehen?

Ich fühle mich schlecht hier zu sein, sehr schlecht. Es ist schwer zu ertragen. Aber wir sind hier nicht im Urlaub. Wir sind im Auftrag von Präsident Selenskyj hergekommen, um für Solidarität und Zusammenarbeit zu werben und – das ist das wichtigste überhaupt – um zu zeigen, was in unserem Land und in den von Russen besetzten Städten passiert.

Alles zum Thema Henriette Reker

Welche Zusammenarbeit meinen Sie?

Alle haben jetzt das wahre Gesicht Putins gesehen. 2014 hat das leider niemand gesehen, als die Krim und der Donbass annektiert wurden. Aber schon damals haben wir gesagt, dass Putin ein Mörder ist. Trotzdem hat die ganze Welt und auch Deutschland weiter mit ihm Geschäfte gemacht und heute kommen die Gewinne aus diesem Geschäft in Form von Panzern, Waffen und dem Blut unserer Kinder zu uns zurück. Das heißt: Auch wir brauchen Waffen, viele Waffen. So viele, um diesen Krieg zu gewinnen. Denn dies ist nicht nur ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine, sondern ein Krieg zwischen Russland und der gesamten zivilisierten Welt. Wir müssen das den Menschen in Deutschland bewusst machen.

Fedorow fordert Waffenlieferung aus Deutschland an die Ukraine

Sie waren in den vergangenen Tagen im Vatikan, in Den Haag, in Brüssel und sind jetzt in Deutschland. Glauben Sie, die Deutschen haben ihre Botschaft verstanden?

Die Menschen schon, einige Top-Politiker aber nicht. Nirgendwo waren die Gespräche so schwierig wie in Deutschland. Es gibt Unterstützung in Worten, aber keine Unterstützung in Taten. Wir fragen nach Waffen, bekommen aber keine Waffen. So einfach ist das. Wie viele Kinder und Zivilisten müssen noch sterben, wie viele Städte noch zerstört werden müssen, damit Deutschland bereit ist zu helfen? Die deutsche Regierung soll uns einfach mal sagen, wie viele Tote es noch geben soll. Sonst braucht Deutschland nicht zu so zu tun, als stünde es an unserer Seite und nicht an der des Mörders Putin. Dann müssen sie so ehrlich sein und sagen: „Putin ist unser Freund, die Ukraine ist unser Feind.“ Wir brauchen Waffen, keine Worte. Wir haben sie eigentlich schon gestern gebraucht, heute könnten sie noch rechtzeitig kommen, aber morgen ist es vielleicht schon zu spät. So ehrlich müssen wir sein. Die Welt der Diplomatie ist seit dem 24. Februar vorbei.

Fedorow Treffen mit Kölner-OB Reker

Sie haben heute Ihre Kölner Amtskollegin getroffen und ihr von den Zuständen in Ihrem Land und Ihrer Stadt berichtet. Wie war das Treffen mit Henriette Reker?

Wir sind sehr zufrieden. Wir waren generell von Nordrhein-Westfalen positiv überrascht, weil wir auf lokaler Ebene eine große Unterstützung spüren, mit der wir nicht gerechnet haben. Wir begrüßen, dass die Partnerschaften mit russischen Städten ausgesetzt werden und wie großzügig und fürsorglich hier Geflüchtete aufgenommen werden. Ich denke, Frau Reker leistet hier eine fantastische Arbeit. Von der lokalen Ebene erhoffen wir uns aber auch Unterstützung beim Wiederaufbau der zerstörten, aber inzwischen befreiten Gebiete. Denn klar ist auch: Alle Geflüchteten, die in Köln und anderswo untergekommen sind, wollen so bald wie möglich in die Ukraine zurückkehren. Wir müssen deshalb schnellstmöglich unsere Städte zuerst befreien und dann für die Rückkehr des zivilen Lebens vorbereiten.

Melitopol ist noch von den Russen besetzt. Wie ist die Lage dort aktuell?

Die Stadt ist vollständig zerstört. Von Melitopol, wie es früher mal war, ist im Moment nichts mehr übrig. Putin hat gedacht, dass die Leute klatschen, wenn seine Truppen einmarschieren. Als er sah, dass sie das nicht tun, hat er seinen Völkermord begonnen, der noch immer anhält, jeden Tag. Er sieht es als seine Aufgabe, die Ukrainer dort vollständig auszurotten. Es ist schwer vorzustellen, dass so etwas im 21. Jahrhundert in Europa möglich ist. Die Besatzer blockieren die Versorgung der Stadt. Wir können keine Lebensmittel, keine Medikamente, kein Material für Krankenhäuser und Rettungsdienste mehr liefern. Auch die Evakuierung der Menschen wurde komplett eingestellt. Alle Stadtgrenzen wurden geschlossen. Die Hälfte der Bevölkerung hat Melitopol inzwischen verlassen, 6000 Menschen stehen auf der Evakuierungsliste, kommen aber aktuell nicht raus. Die Menschen haben Angst, auf die Straße zu gehen, weil es ständig Entführungen gibt. Mehr als 200 Zivilisten in der Region wurden bereits entführt, darunter 50 Bürgermeister, drei davon sind tot, 29 im Gefängnis.

Russische Soldaten entführten Fedorow am helligten Tag in Melitopol

Am 11. März sind Sie selbst von russischen Soldaten gekidnappt worden. Am helllichten Tag, mitten in Melitopol, wurden Sie mit einem Sack über dem Kopf in ein Gefängnis verschleppt, wo sie sechs Tage eingesperrt waren. Wie haben Sie die Zeit erlebt?

Das war ein sehr beängstigendes Gefühl, weil ich nicht wusste, was mich morgen oder in der nächsten Sunde Stunde oder in einer Minute erwartet. Ich musste jederzeit damit rechnen, getötet zu werden. In den ersten 24 Stunden waren mir die Hände gebunden. Ich weiß nicht, warum. Meine Zelle war etwa 16 Quadratmeter groß. Zehn Schritte nach links, sechs nach vorne. Oft wachte ich nachts auf, weil jemand unglaublich stark schrie. Da haben sie jemanden geschlagen oder ihm die Finger gebrochen. Es ist schwer zu sagen, wer die Opfer waren. Ich glaube, es waren Zivilisten, die die Russen für Soldaten hielten. Ich habe sie aber nicht gesehen.

Haben Sie geglaubt, dass sie da jemals wieder lebend rauskommen?

Nach einem Tag denkt man nicht mehr darüber nach. Dann sitzt du einfach da und wartest. Aber ich wusste, dass ihnen ein Menschenleben nichts bedeutet.

Wovor hatten Sie am meisten Angst?

Am meisten Angst hatte ich, weil ich nicht wusste, wo meine Eltern und mein Team waren. Ich wusste, dass sie alles tun, was sie können, um mich zu retten. Das bedeutete aber wiederum, dass auch sie möglicherweise nicht sicher waren. Ich konnte in all diesen Tagen mit niemandem sprechen.

Fedorow hörte nichts von Kölner Friedensdemo am Rosenmontag

Es heißt, die russischen Soldaten hätten Sie auch deshalb entführt, weil Sie Demonstrationen in Ihrer Stadt nicht verboten hatten. Hier in Köln gab es an Rosenmontag eine riesige Friedensdemo, davor und danach weitere Kundgebungen. Haben die Bilder der Demos Sie und die anderen Menschen in Ihrer Stadt erreicht?

Ich habe davon nichts gehört. Aber als ich heute in Köln ankam, war ich positiv überrascht von den vielen ukrainischen Flaggen und Solidaritätsbekundungen. Was die Demonstrationen in Melitopol betrifft: Die Menschen kamen zu friedlichen Protesten und ich konnte und wollte sie nicht verbieten. Das war eindeutig einer der Gründe, warum ich entführt wurde.

Sind die Demos ein starkes Zeichen für den Frieden, oder bringen die letztlich doch nichts, weil Ihnen am Ende nur Waffen, Lebensmittel und Medikamente helfen?

Demonstrationen spielen eine enorme Rolle. Sie sind Ausdruck des inneren Geistes der Bevölkerung. Proteste gehören zum Größten, wozu eine zivilisierte Gesellschaft im Stande ist. Und sie haben die Russen am meisten überrascht. Aber die Stimme des Volkes wird leider nur vor Wahlen gehört, danach für lange Zeit nicht mehr. Und das ist schlimm.

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Auch wenn in Köln hunderttausende für den Frieden auf die Straße gegangen sind und viele Menschen spenden und sich für Geflüchtete engagieren. Wir leben größtenteils weiterhin unser normales Leben. Sollten wir ein schlechtes Gewissen haben?

Wenn ich aus dem Fenster gucke und die Menschen auf der Straße sehe, glaube ich nicht, dass sie ein schlechtes Gewissen haben sollten. Aber ich kann Ihnen sagen, dass ich gerade dasselbe fühle. Von dem Moment an, als ich die Grenze zur Ukraine überquerte, fühlte ich mich innerlich unwohl. Wie die Menschen in Deutschland damit umgehen sollen? Es gibt nur eine Lösung dafür. Deutschland ist ein demokratisches Land. Wenn alle Menschen Druck auf die Regierung ausüben würden, um die Ukraine zu unterstützen, ist das das Beste, was sie tun können. Also: Gehen Sie bitte weiter für uns auf die Straße.

Befürchten Sie, dass die russische Propaganda in Ihrer Stadt irgendwann derart wirkt, dass die Menschen ihr glauben?

Ja. Davor habe ich große Angst. Russische Propaganda funktioniert sehr gut. Dafür gibt es zwei Beweise: Erstens eine Umfrage: 70% der russischen Bevölkerung unterstützen den Krieg in der Ukraine. 70% der Menschen unterstützen, dass andere Menschen sterben. Weil sie daran glauben, was ihnen im Fernsehen gesagt wird. Weil sie glauben, dass in der Ukraine Nazis wohnen. Und der zweite Beweis dafür ist EU. Seit 2014 hat EU nicht gesehen, dass im Donbass Krieg herrscht und dass die Krim annektiert wurde. Sie sehen also: Die russische Propaganda wirkt.

Wie lange geht der Krieg noch und wie geht er zu Ende?

Der Sieg der Ukraine wird kommen. Aber niemand hat eine Antwort darauf, wann es soweit sein wird. Es ist eine Gleichung mit vielen Unbekannten. Und eine der Unbekannten ist: Wie verrückt ist Putin? Nur ein bisschen, oder viel? Wenn er nur ein bisschen verrückt ist, wird es bald vorbei sein. Wenn er sehr verrückt ist, wird es eine Katastrophe für die gesamte Welt.