Leverkusen – Schiedsrichter Jan Keizer aus den Niederlanden bläst dreimal in seine Pfeife, und plötzlich ist der Rasen voller Menschen. Die Räume des Fußballs sind für gewöhnlich strikt getrennt. Innen sind die Spieler, Betreuer und Trainer. Außen die Zuschauer. Die Haupttribüne des Stadions, das damals noch Ulrich-Haberland-Stadion hieß, befand sich allerdings in der Endphase des Umbaus. Nur mit einer Sondergenehmigung durfte hier das Rückspiel des Uefa-Pokal-Finales zwischen Bayer 04 Leverkusen und Espanyol Barcelona stattfinden.
Und weil kein Zaun, keine Absperrung außer ein paar Plastikstreifen als Begrenzung vorhanden waren, bevölkerten plötzlich eine Hundertschaft Menschen, die da nicht hingehörten, den Innenraum. Es wurde eines der kuriosesten Elfmeterschießen in der Geschichte des Fußballs. Und viele sahen aus unzulässiger Nähe, wie Bayer 04 doch noch gegen Espanyol gewann und sich den bis heute größten Titel seiner Klubgeschichte holte.
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Man muss sich das Jahr 1988 als eine andere Zeit vorstellen. Die Menschen in Deutschland waren in zwei Staaten geteilt. Niemand konnte sich im Jahr, bevor die Mauer fiel, ernsthaft vorstellen, dass sich daran so schnell etwas ändern würde. Internet existierte für die Allgemeinheit noch nicht. Manche hatten Mobiltelefone, die so groß waren wie Schlagbohrer. Journalisten hackten ihre Texte noch in ihre Schreibmaschinen und übermittelten sie inmitten der Geräuschkulisse schreiend einem verzweifelten Stenotypisten. Da dies an jenem Abend der verdiente Kollege Jupp Müller erledigte, rannte der Autor dieses Artikels mit dem dienstlichen Auftrag auf den Platz, die Stimmen zu holen.
Bayer 04 ging im Hinspiel unter
Es gab viele Stimmen. Hunderte, tausende. Alle erhoben sich gleichzeitig und setzten nur ab, wenn gerade wieder ein Elfmeter geschossen wurde. Im Hinspiel des Wettbewerbes, der damals noch nicht in einem großen Endspiel entschieden wurde, war Bayer 04 im inzwischen abgerissenen Estadi Sarria 0:3 untergegangen. Die Mannschaft von Erich Ribbeck war gegen die technisch und taktisch überlegenen Spieler des königstreuen Klubs aus Katalonien gänzlich chancenlos. Niemand brachte die Fantasie auf, wie sich zwei Wochen später im Rückspiel daran etwas ändern sollte.
Anders war auch, dass die Werkself damals nicht Werkself genannt werden wollte. Bayer 04 war wie alle deutschen Profi-Vereine noch keine ausgegliederte Gesellschaft und litt schwer unter dem Image eines Pillenklubs. Die Mannschaft bestand aus Stars wie Kun-Bum Cha und Wolfgang Rolff, hoch bezahlten Hoffnungsträgern, die auf den Durchbruch warteten wie Herbert Waas und aus braven Arbeitern wie Erich Seckler. Und sie hatte in Rüdiger Vollborn einen Torhüter, der seine sportliche Sternstunde erlebte.
Das Spiel
Bayer 04 Leverkusen: Vollborn - Rolff, Seckler, A. Reinhardt - Schreier (46. Waas), Buncol, Falkenmayer, K. Reinhardt - Cha, Götz, Tita (62. Täuber). – Espanyol Barcelona: Nkono - Gallart, Miguel Angel, Golobart - Urquiaga, Job, Orejuela (64. Zubilaga), Inaki - Soler, Losado. – Schiedsrichter: Keizer (Niederlande). – Zuschauer: 22 000 (ausverkauft). – Tore: 1:0 Tita (57.), 2:0 Götz (63.), 3:0 Cha (81.). – Elfmeterschießen: Alonso 0:1, Falkenmayer vergibt, Job 0:2, Rolff 1:2, Urqiaga vergibt, Waas 2:2, Zuniga vergibt, Täuber 3:2, Losada vergibt.
Allerdings deutete auch zur Halbzeit des Rückspiels am 18. Mai noch nichts auf eine Wende hin. Es stand 0:0. Espanyol hatte alles im Griff. Man hackte schon den Beginn der Geschichte des Scheiterns in die Schreibmaschinen. Als Tita, der erste Brasilianer, der je im Bayer-Trikot spielte, nach knapp einer Stunde aus kurzer Entfernung das 1:0 erzielte, war das für die Spanier noch kein Alarmzeichen.
Tita, Götz und Cha treffen
Das änderte sich etwas mit dem 2:0 von Falko Götz. Und als der freundliche Südkoreaner Cha, damals schon 35 Jahre alt, den Ball zum 3:0 ins Tor rammte, stand die Fußball-Welt plötzlich Kopf. Beide Teams schleppten sich in der Verlängerung, dem Elfmeterschießen entgegen. Leverkusen begann. Ralf Falkenmayer, der als Hoffnungsträger von Eintracht Frankfurt im Sommer zuvor an die Dhünn gewechselt war, vergab. Espanyol führte nach Elfmetern schnell 2:0. Der Hesse wollte sich am liebsten im Rasen vergraben, aber da war ja alles voller Menschen, die wild durcheinander rannten. Und es gab noch Rüdiger Vollborn, der die nächsten beiden Elfmeter hielt. Weil Rolff und Waas getroffen hatten, stand es plötzlich 2:2. Falkenmayer hatte sich wieder erhoben und ging dem Mittelkreis entgegen. Der Autor stand im Weg und fragte, weil er ja Stimmen besorgen musste: „Bist du jetzt erleichtert?“ Falkenmayer entgegnete: „Das ist die dümmste Frage, die ich in meinem Leben gehört habe.“ Vollborn hielt wieder, Klaus Täuber hatte seinen verwandelt. Und dann knallte Losada den Ball in den Nachthimmel. Die Emotionen kannten kein Halten mehr. Bayer musste nachher eine gepfefferte Strafe an die Uefa bezahlen. Unterlassene Sicherungsmaßnahmen. Es hätte alles passieren können.
Das interessierte an diesem 18. Mai 1988 niemanden. Bayer 04 Leverkusen, der erste Bundesliga-Werksklub der Fußball-Geschichte, war Europapokalsieger, ohne jemals eine deutsche Spitzenmannschaft gewesen zu sein. Mit einem sechsten Platz in der Saison zuvor war er in den Wettbewerb gerutscht. Auch im Jahr des Triumphes wurde die Mannschaft von Trainer Erich Ribbeck Sechster. Und bis sie nach dem Plan des damals aufstrebenden Netzwerkers Reiner Calmund dann wirklich eine Klasse-Mannschaft wurde, sollten noch ein paar Jahre vergehen.
Es ist auch noch 32 Jahre später schwer zu verstehen, was an diesem wundersamen Abend in Leverkusen geschah in dieser Zeit, die so anders war als die heutige.
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