Im vergangenen Sommer wechselte Victor Boniface aus Belgien nach Leverkusen. Nun ist er nigerianischer Nationalspieler – und Deutscher Meister.
Bayer-Star Victor Boniface„Vizekusen – das habe ich noch nie gehört“
Herr Boniface, wie fühlt es sich an, gleich im ersten Jahr in Leverkusen die Deutsche Meisterschaft gewonnen zu haben?
Victor Boniface: Es fühlt sich sehr gut an, gleich so einen Erfolg mit der Mannschaft feiern zu können und jetzt Teil der Geschichte dieses Klubs zu sein. Ich bin sehr glücklich.
Schon vor Ihrer Unterschrift bei Bayer 04 schienen Sie einen guten Draht zum Verein und zu den Fans zu haben. Nach dem Europa-League-Spiel mit Ihrem damaligen Verein Saint-Gilloise in Leverkusen gab es viel Lob für Ihre Leistung.
Nach dem Spiel habe ich viele positive Nachrichten der Leverkusener Fans gelesen. Meistens gibt es nach Spielen überwiegend negative oder verrückte Nachrichten der gegnerischen Anhänger. Mit Bayer 04 war das anders.
Hat das eine Rolle vor Ihrem Wechsel im Sommer zu Bayer 04 gespielt?
Ja, schon nach dem Spiel hatte ich das Gefühl, dass es der richtige Verein für einen Wechsel ist. Die Entscheidung war leicht für mich.
Haben Sie sich damals einen solchen Erfolg irgendwie vorstellen können?
Nein, nein, nein. Ich war überzeugt von der Stärke des Kaders. Aber dass wir wirklich Deutscher Meister werden, hat vor Saisonbeginn wohl keiner der Spieler realistisch einkalkuliert.
Ab wann wurde Ihnen klar, dass diese Mannschaft mit diesem Trainer etwas Besonderes erreichen kann?
Vielleicht nach fünf oder sechs Spielen. Damals habe ich noch nicht unbedingt an die Liga gedacht, vielleicht eher an den Pokal. Spätestens nach der Hinrunde hat sich dann die Mentalität aber entscheidend geändert. Da waren wir überzeugt: Wir können Meister werden, wenn wir so weitermachen.
Können Sie etwas mit Unterhaching oder „Vizekusen“ anfangen?
Nein, das habe ich noch nie gehört.
In Unterhaching verlor Bayer 04 im Mai 2000 am letzten Spieltag 0:2 und verspielte damit die Meisterschaft, ein Punkt hätte gereicht. „Vizekusen“ war die spöttische Bezeichnung für den Verein nach vielen zweiten Plätzen und verlorenen Finals.
Das sagt mir beides nichts.
Nun gehört es auch zu einem abgeschlossenen Kapitel der Vereinshistorie. Sie sind Hauptdarsteller eines neuen…
… ich? Nein, da gibt es viele andere.
Einer der Hauptdarsteller…
… ja, okay.
Was könnte in diesem Kapitel in dieser Saison noch geschehen? Ein Triple? Ein Triple ohne Niederlage?
Wir wollen noch einiges erreichen. Unser großes Ziel ist es, jedes Spiel zu gewinnen. Aber wir schauen weiter von Spiel zu Spiel, jedes Mal aufs Neue. Unser Fokus liegt auf Samstag und dem Spiel gegen den VfB Stuttgart (18.30 Uhr/Bay-Arena, d. Red.). Und dann auf dem Halbfinal-Hinspiel in der Europa League in Rom.
War der Ansatz, von Spiel zu Spiel zu denken, eines der ersten Dinge, das Trainer Xabi Alonso eingefordert hat?
Ja, wir sollten uns nicht um die Zukunft kümmern. Die Zukunft wird sich von selbst ergeben. Wir sollten den Fokus voll auf die Gegenwart legen.
Bedeutete das ein Umdenken für Sie?
Nein, ich habe diese Mentalität schon eine ganze Weile. Ich kümmere mich im Fußball um das Hier und Jetzt. Mir ist egal, was morgen passiert.
Wie ist die Arbeit mit Xabi Alonso?
Großartig. Wir haben einen guten Trainer, einen super Trainer – er ist eine unglaubliche Legende des Spiels. Man hat beide Seiten, man kennt ihn als Spieler und als Coach. Und wenn Xabi bei einem Trainingsspiel mitkickt, gibst du noch einmal mehr – du willst in seinem Team nicht schlecht spielen.
Unter Xabi Alonso haben sieben Leverkusener Spieler für ihre Nationalteams debütiert – unter anderem Sie für Nigeria.
Sein Ziel ist es, uns alle besser zu machen. Individuell und als Mannschaft. Er zeigt uns, wo wir noch Defizite haben, dann arbeiten wir daran. Dass wir so viele Nationalspieler haben, zeigt, wie gut er ist.
Worin haben Sie sich unter Xabi Alonso verbessert?
Ich habe mehr Selbstvertrauen. Und ich habe gelernt, noch mehr meinen Mitspielern zu vertrauen – und meine eigene Leistung nicht nur an Toren und Vorlagen zu messen. Es läuft sehr gut für mich.
Die Verletzung vor dem Afrika-Cup war einer der schmerzhaftesten Momente in Bonifaces Karriere
Im Januar wollten Sie mit Nigeria zum Afrika-Cup. Doch in der Vorbereitung haben Sie sich eine Adduktorenverletzung zugezogen und mussten operiert werden. Wie haben Sie diese Diagnose verkraftet?
Es war schwierig, einer der schmerzhaftesten Momente meiner Karriere – nicht nur die Verletzung selbst, sondern natürlich auch mein Ausfall für den Afrika-Cup und einige wichtige Bundesliga-Spiele. Aber so ist der Fußball, du hast Höhen, du hast Tiefen. Es geht um deine Einstellung, dein Mindset. Du brauchst in solchen Momenten die richtigen Leute um dich herum. Ich hatte die Unterstützung des Vereins – das war wichtig.
Sie mussten das Turnier dann im Fernsehen verfolgen. Konnten Sie sich für Ihren Teamkollegen Odilon Kossounou freuen, der mit der Elfenbeinküste den Titel gewann?
Nein, ich konnte mich nicht für Odi freuen (lacht). Doch, natürlich konnte ich, aber nicht während des Finals, da war ich für Nigeria. Etwas später dann schon, er ist ein super Typ.
Sie spielen und leben seit 2019 in Europa. Gibt es etwas, das Sie besonders mögen? Oder etwas, das Sie besonders vermissen?
Eigentlich mag ich hier alles, vielleicht nicht das Wetter in Norwegen, da war es sehr kalt. Aber hier ist es okay. Das Einzige, das ich vermisse, ist meine Familie. Aber es ist eben der Fußball. Ich wollte diese Karriere, deshalb muss ich Opfer bringen.
Hilft es, dass es in Leverkusen viele afrikanische Profis und Spieler afrikanischer Herkunft gibt?
Es sind nicht nur die afrikanischen Spieler, die es mir leicht machen. Es sind alle aus dem Team, die Verbindung untereinander ist einfach super. Sie ist freundschaftlich, die Jungs hier sind nicht nur Teamkollegen.
Das Fußballspielen haben Sie in Nigeria auf einer Militärbasis gelernt, wo Ihr Großvater stationiert war. Wie war Ihr Alltag damals?
Der war sehr, sehr schwierig. Aber ich hatte seit frühester Kindheit die volle Unterstützung meiner Familie. Es war immer mein Traum, Fußballer zu werden. Einen Plan B gab es nicht – nur Fußball. Als Fußballspieler aus Afrika nach Europa zu kommen, ist aber nicht so leicht. Nicht viele Leute wissen, aus welchen Verhältnissen wir teilweise kommen. Aber wir wissen es – und wir wissen, wo wir hinwollen. Deshalb arbeiten wir jeden Tag hart. In meiner Position jetzt habe ich die Möglichkeit, meiner Familie und meinem Heimatort zu helfen. Meine Kindheit war sehr schwierig. Und ich möchte anderen Kindern dabei helfen, dass sie nicht solche Erfahrungen machen müssen.
2019 sind Sie nach Norwegen gewechselt. Wenige Wochen später erlitten Sie einen Kreuzbandriss. Wie geht man als 18-Jähriger fern der Heimat damit um?
Es war extrem schwer. Ich möchte jetzt nicht alles wieder hervorkramen, weil ich versuche, es zu vergessen.
Wenig später folgte ein weiterer Kreuzbandriss. Denken Sie noch an diese Verletzungen?
Ich versuche, das alles hinter mir zu lassen und mich sportlich nur auf die Gegenwart zu konzentrieren. Das kann ich kontrollieren, das Vergangene nicht.
Sie haben, wie viele Ihrer Teamkollegen, mit Ihren Leistungen für große Aufmerksamkeit gesorgt. Glauben Sie, dass alle Schlüsselspieler über den Sommer hinaus in Leverkusen bleiben?
Jeder Spieler des Teams ist ein Schlüsselspieler. Darum hoffe ich, dass jeder bleibt. Ich bin sehr glücklich in Leverkusen und hoffe, dass wir auch in der nächsten Saison Titel gewinnen. Aber erst einmal liegt der Fokus auf Stuttgart, dann auf der Europa League und den weiteren Spielen. Dann kommt ein schöner Urlaub – und danach bin ich bereit für die nächste Saison!