Hinter Kai Havertz liegt eine schwache Hinrunde, der Superstar steckt in seiner ersten Krise.
Im Trainingslager in La Manga wurde kein Versuch unterlassen, um den 20-Jährigen starkzureden.
Denn der Klub braucht Havertz in alter Stärke – nicht nur aus sportlichen Gründen.
La Manga/Leverkusen – Eine wunderbare Direktabnahme von der Strafraumkante mit links. Ein Schlenzer aus halbrechter Position ins untere Eck, ebenfalls mit links. Bei seinen beiden sehenswerten Toren beim ansonsten trostlosen 3:4 im Testspiel gegen den FC Utrecht zeigte Kai Havertz sein fußballerisches Genie – und Bayer 04 Leverkusen wurde vor Augen geführt, was der Mannschaft in der Hinrunde der Bundesliga fehlte. „Das war wieder der Kai, wie wir ihn alle kennen“, lobte Trainer Peter Bosz nach dem Testspiel am Freitag. Der Niederländer führte damit fort, was alle im sportlichen Bereich bei Bayer 04 Verantwortung tragende Personen im Trainingslager in La Manga früh begonnen hatten: das Starkreden ihres kriselnden Superstars vor dem Rückrundenstart am Sonntag in Paderborn (18 Uhr).
Havertz hatte nach seinem kometenhaften Aufstieg der vergangenen Jahre in der Hinserie das erste Tal seiner noch jungen Karriere durchschritten. Nach elf Toren in der Rückrunde 2019 gelangen ihm in der laufenden Saison nur zwei Treffer. Zeitweise wirkte der 20-Jährige ob der eigenen Leistung frustriert und ratlos, seine Bewegungen – mit denen er sonst scheinbar schwerelos das Spiel bestimmte – waren behäbig. Tiefpunkt war das 0:1 gegen Hertha BSC am 18. Dezember. Trainer Bosz wechselte Havertz nach 72 Minuten aus. Er traute seinem wichtigsten Mann nicht mehr zu, noch irgendeinen positiven Einfluss auf die Partie zu nehmen. „Es hat ihm wehgetan, wie er im Vergleich zur Vorsaison gespielt hat und was da sonst noch passiert ist“, sagte Bosz im Gespräch mit dieser Zeitung. Denn bei seiner Auswechslung hatte Havertz ein gellendes Pfeifkonzert der Leverkusener Fans ertragen müssen.
Ursache war in erster Linie die peinliche Derbypleite gegen den 1. FC Köln (0:2) nur vier Tage zuvor, dort hatte sich Frust auf die gesamte Werkself angestaut. Dass Havertz nun das meiste davon abbekam, hängt einerseits mit seiner wenig nach totaler Aufopferung aussehenden Spielweise zusammen. Dazu wurde ihm unterstellt, nicht mehr mit ganzem Herzen bei Bayer 04 zu sein, sondern schon bei einem anderen Klub, der ihn im Sommer für viele Millionen Euro verpflichten wird. Vehement wurde Havertz gegen diesen Vorwurf verteidigt, unter anderem von Jonathan Tah. „Ich find’s scheiße“, sagte der Nationalspieler nach der Pleite gegen Berlin. Im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ legte Tah nach. „Für Kai war es nicht einfach in der Hinrunde. Aber auch vorher schon, als es sehr gut lief. Wenn es heißt: Kai Havertz wird in fünf Jahren Weltfußballer und wechselt zu dem oder zu dem Klub. Und wenn du dann nicht so performst, wie es die Leute von dir erwarten, wird schnell auf dir rumgehackt“, sagte Tah. „Das ist aber weder fair noch richtig. Genauso, wie es nicht gut ist, jemanden so extrem zu loben. Nicht, weil Kai dann abheben könnte. Dafür ist er nicht der Typ. Ich finde, dass alles, was extrem ist, nicht gut ist. Und es war jetzt in beide Richtungen extrem.“
Der Hochtalentierte selbst schwieg im Trainingslager. Keine Presse-Interviews, keine Gespräche mit Klub-Medien. Über ihn geredet wurde allerdings reichlich. „Wenn man Kai jetzt im Training sieht – der Junge brennt, er will es allen zeigen“, sagte Sport-Geschäftsführer Rudi Völler. In den Einheiten wurde jede gelungene Aktion von Havertz lautstark gelobt, vom Trainerteam oder den Mitspielern. „Er ist spontaner, gelöster“, sagte Bosz. „Er kam nach der Winterpause in die Kabine, wir haben kurz miteinander gesprochen, dann hat er trainiert. Und ich habe gesehen: Ah, er ist frisch.“
Kaum Zweifel an Wechsel von Kai Havertz
Tatsächlich wirkte Havertz auf dem Rasen relativ locker. Aus seinen beiden Toren im Test gegen Utrecht auf eine gute Form zu schließen, wäre allerdings übereilt – dafür war die Mannschaftsleistung insgesamt zu schlecht und der Gegner nach vielen Wechseln zu unsortiert. Doch Bayer 04 braucht den Kai Havertz aus der vergangenen Rückrunde, als er mit dem schmerzlich von ihm vermissten Julian Brandt die Konkurrenz mit phänomenalem Spiel auf engstem Raum zerlegte. Denn nur dann sind die Ziele in der Bundesliga, DFB-Pokal und Europa League zu erreichen.
Der einzige Grund für die vermehrten Streicheleinheiten ist das allerdings nicht. Denn Havertz wird Bayer 04 im Sommer verlassen, für eine Rekordsumme und zu einem internationalen Topklub. Öffentlich kommuniziert wurde das zwar noch nicht, doch Zweifel bestehen eigentlich keine. Pläne für potenzielle Nachfolger wird Leverkusen bereits in der Schublade haben, auch wenn Trainer Bosz betont: „Es gibt keinen zweiten Spieler wie Kai Havertz. Da kann die Scouting-Abteilung auf jedem Feld in Europa suchen – nirgends wird es einen solchen Spieler geben.“ Bei der Suche helfen würde ein prall gefülltes Konto. Der Werksklub erhofft sich eine Ablöse von deutlich über 100 Millionen Euro – für den Kai Havertz aus dem ersten Halbjahr 2019 eine absolut realistische Vorstellung. Sollten allerdings weitere schlechte Monate folgen, könnte sich plötzlich ein ungewollter Verhandlungsspielraum ergeben. Dann würde auch kein gutes Zureden mehr helfen.