- In seiner Kolumne „Jetzt rege ich mich auf” beschäftigt sich Frank Nägele diesmal mit den Schmähungen gegen Hoffenheim-Mäzen Dietmar Hopp und anderen Dauerfehden.
- Für ihn steht fest: Fußball wird nie ohne Emotionen funktionieren, und um politische Korrektheit geht es nicht.
- Aber das rechtfertigt nicht das Verhalten der Ultras, die den Fußball durch Tabubrüche für sich vereinnahmen wollen.
Bei meinem ersten Fußball-Erlebnis war ich noch sehr jung, aber ich kann mich gut daran erinnern. Schuld daran ist mein Vater, der mich unbedingt ins Neckarstadion schleppen und zu einem VfB-Fan machen wollte. Das eine hat geklappt, das andere nicht. Das war tief in den 60er-Jahren eines vergangenen Jahrhunderts, als nur Männer auf den Tribünen saßen und immer durchgesagt wurde, wer den Spielball gestiftet hat.
Die Karten hat man sich noch direkt am Schalter gekauft. Kinder bis sechs durften umsonst rein, was dazu führte, dass ich drei Jahre lang sechs war, bis der Ordnungsdienst gegen meinen Vater handgreiflich wurde und ich zu weinen begann. Da wurde mir klar, dass beim Fußball Dinge möglich sind, die woanders nicht möglich sind.
Beim Fußball haben diese Männer auch Worte gesagt, die für mich verboten waren. „Arschloch“ und „Sau“ hat der kleine Junge ständig gehört und sich gefragt, ob er solche Worte als Erwachsener auch mal sagen darf, ohne die Ohren langgezogen zu bekommen. Man kann sich sowas als Kind schlecht vorstellen. Wenn der Junge schon groß gewesen wäre, hätte er sich in der Halbzeit auch nicht am Wurststand rumschubsen lassen müssen und mit Bier bekleckern und von Zigarren vollqualmen. Bier war überhaupt überall. Und diese latente Aggressivität auch. Aber vielleicht kam mir das nur so vor, weil ich als Kind ziemlich schreckhaft war.
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Vielleicht kann ich mich deshalb auch über 50 Jahre später nicht daran gewöhnen, dass es normal sein soll, jemanden in Wort und Schrift, in Rufen und auf Plakaten einen „Hurensohn“ zu nennen. Ich muss zugeben, dass mir nicht ganz klar ist, wen dieses Wort als Schmähung treffen soll. Ich sehe darin vor allem eine Verunglimpfung der Huren, denen man nicht zutraut, aus ihren Söhnen ordentliche Menschen zu machen. Aber es ist böse gemeint. Und es sind viele Kinder im Stadion, denen man das erklären muss.
Ich bin unbedingt dafür, ein Spiel abzubrechen, wenn jemand so beleidigt werden soll von Menschen, die zu dumm sind, sich ein Wort auszudenken, mit dem man präziser beleidigen könnte. Ich bin genauso dafür, ein Spiel auf der Stelle abzubrechen, wenn jemand wegen seiner Hautfarbe, Herkunft, seiner Persönlichkeit oder einfach nur so beleidigt wird. Aber ich fürchte, darum geht es nicht.
Ultras argumentieren mit einer Romantik, die es nie gab
Es geht darum, wem das Spiel gehört. Diese Leute in den Kurven und auf den Fan-Tribünen, die sich selbst „Ultras“ nennen, sind der Meinung, dass es ihnen gehört. Sie argumentieren mit Idealen und der Romantik einer Vergangenheit, die die meisten von ihnen nicht gekannt haben. Sonst wüssten sie auch, dass es keine Zeit gab in den vergangenen 100 Jahren, in denen Geld nicht das Wichtigste war.
Hans Schäfer, das große Idol des 1. FC Köln, der Weltmeister von 1954, hat mir einmal erzählt, dass lange, bevor es die Bundesliga gab, das Geld vor den Spielen immer in den Kickstiefeln steckte. Wenn es gefehlt hätte, wären nicht alle zum Anpfiff erschienen. Es ging da nicht um Millionen. Und keiner hatte nach der Karriere ausgesorgt. Aber ein Hunderter war 1950 viel Geld und 1000 Mark waren damals ein Vermögen.
Im Stadion gab es, als ich klein war, schon den Block mit den harten Fans, aber das war keine Gruppe, die den Ton bestimmt hat. Man konnte sich einfach zu ihnen stellen und wurde nicht als Fremder erkannt. Ein Schal in den richtigen Farben genügte als Insignium. Es gab keine Choreographien, keine Einpeitscher und keine Dauerchöre, dafür einen typischen Geräuschpegel mit Anfeuerungsrufen, Raunen, Murren und diesem gemeinschaftlichen Crescendo der Erregung, wenn sich ein Tor anbahnte, und die Entladung des Höhepunktes, wenn es fiel. Anfang der 80er kamen die Hooligans, Ende der 80er, importiert aus Italien, die Ultras. Darauf folgte das Internet, dann das Smartphone.
90 Prozent der Zuschauer zählen in den Augen der Ultras nichts
Ich gehöre zu den Laien, die sich von Fußball als Sport faszinieren lassen. Solche Menschen werden von Leuten, die andere auf Plakaten einen Hurensohn nennen, nicht ernst genommen, genauso wenig wie Menschen, die nur zu Heimspielen erscheinen oder den Verein ihrer Stadt unkompliziert lieb haben, die gerne unter anderen Menschen beim Fußballspiel sind oder sich einfach nur unterhalten lassen wollen.
All diese Menschen, die geschätzt 90 Prozent der Zuschauerschaft eines normalen Bundesliga-Spiels ausmachen, zählen nichts für jene, denen der Fußball angeblich gehört, die die Regeln bestimmen, die sich im Recht wähnen, wenn sie Spiele volltrunken in Hochrisikoangelegenheiten verwandeln, Bahnhöfe verwüsten, Pyros abbrennen, bei jedem Abstoß „Arschlochwichserhurensohn“ rufen und „Fick dich DFB!“ für eine normale Äußerung des Lebensgefühls halten.
Normalerweise müssten diese Schreihälse eine radikale Randgruppe sein. Das sind sie aber nicht, denn es geht von ihnen eine Faszination aus, die ihnen Bedeutung verleiht. Sie werden von Soziologen analysiert, von Intellektuellen bewundert und von Romantikern als ungehobelte, aber schützenswerte Spezies unter Artenschutz gestellt. In jedem Fall geht es um Vereinsliebe.
Man darf nicht vergessen, dass Zurechnungsfähigkeit auch bei den Gescheitesten endet, wo diese beginnt. Wer zum Beispiel die Bayern hasst oder die Mönchengladbacher, die Dortmunder oder Schalker, liebt alles, was ihnen schadet, weil sie Arschlöcher sind. Man soll das im Stadion laut hinausschreien dürfen. Denn das ist die Seele des Fußballs, egal was die Verbände sagen oder die Bedenkenträger oder all die, die das nicht verstehen. „Fick dich DFB!“.
Fußball wird ohne Wut und Emotionen nie funktionieren
Fußball war immer ein Ventil gegen den Alltagszwang zur politischen Korrektheit. Und nie war dieser Zwang größer als heute. Fußball wird ohne Geschrei, Verwünschungen, Flüche und momentanen Hass als Entsprechung zur Euphorie deshalb nie funktionieren. Die Vereine und Verbände in ihrer Hybris und Gigantomanie geben außerdem haufenweise Anlass zu sachlicher Kritik und auch Abscheu.
Das rechtfertigt allerdings nicht die von langer Hand geplanten Tabu-Brüche und Dauerfehden von Gruppen, die die Stadien gekapert haben und um ihre Macht kämpfen. Früher waren die Fans Kulisse dieses Spiels. Heute soll das Spiel Kulisse für diese Fans sein. Solange man darüber diskutiert, was davon richtig ist und was falsch, wird es keine Lösung geben.
Der Fußball gehört niemandem alleine. Seine Seele ist nicht vereinnahmbar. Jeder hat das Recht, sein Verhältnis zum Fußball, seinem Verein, seinen Spielern und zur Metaphysik des Spiels für sich selbst festzulegen. Fußball gehört allen. Auch dem kleinen Jungen, dem er damals so unheimlich war.