„Wir sind kein Sportland“DFB-Trainerin Voss-Tecklenburg über die Fußball-Entwicklung
Frankfurt – Frau Voss-Tecklenburg, Sie haben von 1984 bis 2000 selbst für die deutsche Nationalmannschaft 125 Länderspiele bestritten. Es war eine Epoche, in der der EM-Titel fast wie auf Knopfdruck nach Deutschland ging. In ihrer Vita stehen vier gewonnene EM-Titel von 1989 bis 1997. Was ist bei Ihnen als prägendste Erinnerung haften geblieben?
Die Frage ist total einfach zu beantworten: der erste EM-Titel 1989, weil es einfach ein besonderer Rahmen war. Es ging mit dem Halbfinale gegen Italien in Siegen los, wo wir ins Elfmeterschießen mussten. Ich galt mit als sicherste Schützin und habe gleich den ersten Ball fünf Meters übers Tor geschossen – den suchen sie heute noch. Unsere Torhüterin Marion Isbert hat dann drei Elfmeter gehalten und den entscheidenden selbst verwandelt. Plötzlich wussten die Menschen: Es gibt eine deutsche Frauen-Nationalmannschaft, die im Endspiel der Europameisterschaft steht.
Und dann?
Fährst du nach Osnabrück zum Finale und auf einmal ist das Stadion an der Bremer Brücke ausverkauft, das Fernsehen überträgt live – und du spielst dich gegen Norwegen in einen Rausch. Mit dem Moment wurde für die gesamte Entwicklung des Frauen- und Mädchenfußballs in Deutschland etwas losgetreten.
Zur Person
Martina Voss-Tecklenburg, geboren 1967 in Duisburg, ist seit 2018 Bundestrainerin der deutschen Frauen-Fußballnationalmannschaft. Als Spielerin bestritt sie zwischen 1984 und 200 insgesamt 125 Länderspiele und erzielte 27 Treffer. Mit dem DFB-Team gewann sie 1989, 1991, 1995 und 1997 den EM-Titel und wurde 1995 Vize-Weltmeisterin. (ksta)
Warum war Deutschland in den Folgejahren im Frauenfußball so viel besser als andere Nationen und wurde bis 2013 insgesamt acht Mal Europameister?
Wir sind in einer Welt groß geworden, in der wir nur mit den Jungs unterwegs waren, uns durchsetzen mussten, und wo wir eine andere Überzeugung in uns getragen haben. Ich habe mich mit Birgit Prinz (die Rekordspielerin arbeitet als Teampsychologin bei den DFB-Frauen, Anm. d. Red.) über das Thema noch mal unterhalten: Wenn eine von uns mal draußen gesessen hat, kamen wir mit einem Selbstverständnis auf den Platz, dass wir das Spiel verändern. Wir hatten mit Gero Bisanz einen überragenden Trainer und eine hohe Identifikation mitgebracht. Wir hatten amateurhafte Strukturen, aber im Herzen waren wir Topprofis! Ich habe überall geschaut, wo kann ich mich verbessern. Dafür habe ich beim MSV Duisburg mittrainiert und meinen Arbeitgeber so gewählt, dass ich möglichst viel Fußball spielen kann – mit dem Wissen, dass ich damit aber kein Geld verdiene, aber es war meine Leidenschaft. Deutschland ist eben eine Fußball-Nation, und das ist geschlechterunabhängig gewesen.
Können Sie diese Eigenschaften bei ihren Spielerinnen verankern?
Wir wollen ja nicht immer von früher reden, aber wir können versuchen, an diesen Themen zu arbeiten. Ich glaube ja immer noch, dass auch wir eine richtig gute Mannschaft bei der EM sein werden, wenn unsere Spielerinnen eine innere Überzeugung von ihrer Leistungsfähigkeit besitzen. Da sind uns andere Nationen vielleicht ein bisschen voraus.
Warum?
Das hat mit unserer Ausbildung im Fußball zu tun. Vieles ist sehr strukturiert, auch sehr kaserniert. Es ist wenig kreativ, dafür sehr gleichförmig geworden – auch in unserer Gesellschaft. Typen, die ausbrechen, sind selten geworden. Es geht meist darum, keine Fehler zu machen, keine Schwäche zu zeigen – und am besten auch keine schlechten Noten zu schreiben. Dazu kommt: Wir sind einfach kein Sportland! Wir haben keine Sportkultur wie Island. Ein kleines Land, aber der Sport spielt überall eine wichtige Rolle.
Hierzulande nicht?
Ich habe mit unserem DFB-Präsidenten Bernd Neuendorf kürzlich darüber gesprochen, dass der Sport politisch nicht optimal vertreten ist. Wir sind in der Schule die ersten, die beim Sportunterricht kürzen. Hallenbäder werden geschlossen, Turnhallen für andere Dinge benötigt, in der Corona-Krise waren Sporteinrichtungen monatelang geschlossen. Die Kinder werden immer übergewichtiger, obwohl erwiesen ist, dass Aktivität auch das Lernvermögen steigert. Auf dieser Grundebene ist Deutschland für mich kein Sportland mehr.
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Wie gut ist Ihr Verhältnis zu Hansi Flick? Schreibt man sich, sieht man sich?
Für die Kürze der Zeit haben wir schon sehr viel Austausch gehabt. Wir haben uns vor einigen Wochen mit beiden Trainerteams in Frankfurt getroffen und sehr lange zusammengesessen. Es ist wirklich so, dass ich mit Hansi schon mehrfach lange telefoniert habe. Und wir merken beide, dass es sich lohnt, in den Austausch zu gehen, der auch über die Akademie, die Direktion Nationalmannschaften oder das Teammanagement zustande kommt. Außerdem haben wir mit unserem Torwarttrainer Michael Fuchs jemand, der kürzlich auch bei den Männern dabei war. Wir versuchen voneinander zu profitieren.
Ihre Kapitänin Svenja Huth redet wie selbstverständlich davon, dass sie den Urlaub bis zum Trainingslager genutzt hat, ihre Lebensgefährtin zu heiraten. Es wäre im Gegenzug kaum denkbar, dass so etwas von einem Männer-Nationalspieler käme.
Die Männer sagen doch auch, wenn sie heiraten! (lacht laut).
Sie wissen ja, was gemeint ist.
Ich hoffe, dass wir ein Vorbild für Diversität sind! Bei uns werden viele gesellschaftliche relevante Themen mit großer Offenheit gelebt. Diesen werteorientierten Umgang miteinander haben sich die Spielerinnen selbst erarbeitet. Letztlich muss jede selbst entscheiden, ob sie so etwas wie eine sexuelle Orientierung oder eine gleichgeschlechtliche Heirat öffentlich macht. Der Umgang mit solchen Themen ist bei uns viel, viel offener, und vielleicht auch mit einem größeren Selbstbewusstsein versehen. Ich find’s toll, wenn man sich in seiner Lebensbeziehung nicht verstecken will, aber man muss auch nicht alles nach außen tragen.
Sie bringen ja selbst eine facettenreiche Vita mit. Kommen da Spielerinnen bei diesen Themen auf Sie zu?
Wir sprechen über so, so viele Dinge: Das geschieht automatisch. Dabei geht es auch um das Thema Kinder Wir haben so viele spannende Themen, dass wir an den Tischen selten noch über Fußball reden. Das zeigt einfach, welche großartigen Persönlichkeiten und spannende Menschen wir bei uns haben. Bedingt dadurch, dass Frauen Kinder auf die Welt bringen, setzen sie sich anders mit diesen Themen auseinander als Männer. Es hat ja eine andere Konsequenz während der Karriere.
Ihr Ehemann, der Unternehmer Hermann Tecklenburg ist bekanntlich sehr fußballaffin, ohne ihn würde der SV Straelen nicht in der Regionalliga West spielen. Wie oft holen Sie sich Rat von ihm?
Wir schätzen uns als gegenseitige Ratgeber, weil Herrmann natürlich einen anderen Blick hat. Ich habe den emotionalen Blick auf meine Nationalmannschaft, er hat ihn auf den SV Straelen. Aber Emotionalität heißt nicht immer Objektivität, so dass der jeweils andere ruhig etwas Hilfreiches sagen kann.