Unfall vor 40 JahrenAls sich das Leben von Joachim Deckarm schlagartig änderte
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Weggefährten und Freunde bis heute: Joachim Deckarm (vorne r.) und Heiner Brand.
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Vor 40 Jahren verändert ein Unfall sein Leben schlagartig.
Joachim Deckarm, damals weltbester Handballer, ist nach einem Sturz auf dem Spielfeld auf Hilfe angewiesen.
Aufgegeben hat er nie.
Köln – Der Name der Stadt Tatabanya, gelegen im Nordwesten Ungarns, ist unter Handball-Fans auch nach 40 Jahren noch so präsent wie der gestrige Tag. Tatabanya, ein Wort mit vielen Vokalen, melodischer Klang, vielleicht auch deshalb so leicht zu merken. Aber Tatabanya wäre dennoch weitestgehend unbekannt in Deutschland, wenn dort nicht ein schrecklicher Unfall passiert wäre. Für Joachim Deckarm ist diese Stadt, konkret: die Halle des Handballvereins Banyasz Tatabanya, ein Schicksalsort, an dem sich von der einen auf die andere Sekunde sein Leben brutal und komplett veränderte. Dort wurde aus dem weltbesten Handballspieler seiner Zeit, seit 1973 beim VfL Gummersbach engagiert, ein Schwerverletzter, ein Pflegefall. Am Samstag jährt sich der Tag der Partie zwischen Tatabanya und dem VfL, das Rückspiel im Halbfinale des Europapokals der Pokalsieger, zum 40. Mal.
Die 23. Minute läuft an jenem Freitag, dem 30. März 1979. Gummersbach hat das Hinspiel klar gewonnen, 18:10, auch jetzt führen die Oberbergischen hoch. Und haben gleich die nächste große Chance auf ein Tor. Heiner Brand fängt einen Abwurf des ungarischen Torhüters ab, leitet den Ball weiter auf Deckarm, 25 Jahre alt, der nimmt ihn an, sieht aber nicht, dass sich vor ihm Lajos Panovics befindet, ein Gegenspieler am Kreis. Deckarm und Panovics knallen mit den Köpfen aneinander. Deckarm, vermutlich schon bewusstlos, fliegt anschließend mit dem Schädel voraus ungebremst auf den Hallenboden aus Beton, überzogen nur von einer dünnen PVC-Schicht. Panovics hält sich den Kopf, steht auf, alles gut. Doch um Deckarm steht es schlimm. Sein Gesicht quillt auf, er ist bewusstlos.
Deckarm nach dem Unfall in Tatabanya
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Die Diagnose ist ein Schock: Doppelter Schädelbasisbruch, Gehirnhautriss und schwere Gehirnquetschungen. 131 Tage liegt Deckarm im Koma, er wird erst in Tatabanya, dann Budapest, Köln und schließlich in Homburg in seiner Heimat, dem Saarland, behandelt. Deckarms Attribute lauten bis eben noch: 1,93 Meter groß, 90 Kilo schwer, ein ehemaliger Zehnkämpfer, Handball-Weltmeister 1978, mit dem VfL dreimal Deutscher Meister, dazu Pokalsieger sowie Gewinner des Europapokals der Landesmeister und der Pokalsieger, eine Art Cristiano Ronaldo des Handballs. Und plötzlich wird mit jedem Tag, den er weiter bewusstlos ist, klarer, dass dieser elegante Schütze aus dem linken Rückraum nie mehr so wird spielen können, wie er es noch in Tatabanya tat.
Heiner Brand: „Vor lauter Lebensfreude kaum wiederzuerkennen“
40 Jahre später, August 2018: Der 64 Jahre alte Deckarm verlässt Saarbrücken, er wohnt nun in Gummersbach, im Evangelischen Seniorenzentrum. Und fühlt sich wohl, blüht auf. „Jo ist vor lauter Lebensfreude kaum wiederzuerkennen“, sagt Heiner Brand, der Freund und einstige Mitspieler. Deckarm steht nun mitten in seinem zweiten Leben. Eine große Leistung.
Denn als er aus dem Koma erwacht, ist sein Hirn schwer geschädigt. Werner Hürter, ein pensionierter Polizeibeamter und einst einer von Deckarms Trainern in Saarbrücken, wird ab 1982 im Saarland Lebensbetreuer des Schwerverletzten, erstellt ein spezielles Programm – zuvor haben Neurologen wenig Hoffnung auf eine deutliche Besserung geäußert. Deckarm muss alles neu lernen: denken, sprechen, gehen, essen, schreiben. Und es passiert, was die meisten Ärzte nicht für möglich gehalten haben: Deckarms Zustand bessert sich sukzessive. „Ich verdanke Werner Hürter mein Leben“, sagt Deckarm.
In der Rehabilitation – 20 Jahre danach
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In Gummersbach betreut nun Fynn Gonschor (19) den einstigen Handball-Star. Gonschor will selbst mal einer werden, er spielt beim VfL in der A-Jugend-Bundesliga und in der zweiten Mannschaft auf Linksaußen und in der Rückraum-Mitte. Und er ist Teil eines spannenden Projektes, bei dessen Umsetzung auch Heiner Brand half. Gonschor absolviert ein Freiwilliges Soziales Jahr für den VfL, vornehmlich als Betreuer von Deckarm. Montags bis donnerstags ist er mit ihm unterwegs, unterhält sich, wird im Würfeln und Schach von Deckarm geschlagen, keine Chance. Mittwochs und donnerstags gibt es dann außerdem noch Lauf- und Gleichgewichtsübungen in einem Reha-Zentrum. Stehen kann Deckarm alleine, gehen mit Begleitung. Er spricht langsam.
Großer Auftritt in Köln
Bei der mit Dänemark geteilten Heim-WM, Deutschland spielt in Köln gegen Island, hat Deckarm am 19. Januar dieses Jahres in der Halbzeit einen großen Auftritt: Die Weltmeister von 1978 schieben ihn im Rollstuhl aufs Parkett, es ist sein 65. Geburtstag und fast 20 000 Zuschauer singen „Happy Birthday“ für ihn. Deckarm sagt später zu Gonschor: „Das war ein berührender Moment, den ich nie vergessen werde.“
Glückwünsche für Deckarm (vorne) bei der WM 2019
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Der Weltmeister schaut sich alle Spiele des Nachwuchsspielers an, gibt Tipps, übt Kritik, Gonschor ist darüber sehr stolz. Die Bundesliga-Spiele des abstiegsbedrohten VfL verfolgt Deckarm auch, er sitzt dann im Rollstuhl gleich neben der Bank – und leidet: „Den schlechten Tabellenstand findet der Jo schockierend“, sagt Gonschor.
Deckarms Motto: „Ich kann. Ich will. Ich muss.“
„Unser aller Leben war nach Jos Unfall nicht mehr so wie vorher. Wir waren alle in der Verantwortung“, sagt Brand und meint besonders die 78er-Weltmeister. Doch es ist vor allem Deckarm, der alle verblüfft: er steckt nie auf, will seine Lebensumstände unbedingt verbessern. Sein Motto: „Ich kann. Ich will. Ich muss.“ Das inspiriert auch die Weltmeister von 1978 in ihrem Leben. Sie helfen einander bei Bedarf. Brand etwa taucht häufig bei Deckarm auf, aber auch viele andere 78er-Kollegen sind oft zu Gast, im Briefkasten liegt immer mal wieder Post von einstigen Weggefährten. Gonschor sagt: „Für den Jo ist das super, hier in Gummersbach zu sein, er kann sich viel unterhalten und nachdenken, sich erinnern und sein Gedächtnis trainieren. Er sieht sehr glücklich aus im Moment.“
Deckarm hat sein Schicksal angenommen. Lajos Panovics, seinen Gegenspieler von einst, der nach dem Unfall unter Depressionen litt, sprach er bei einem Treffen Jahre später von jeder Schuld frei: „Du kannst nichts dafür. Es war ein Unglück.“ Seit 2013 ist Deckarm Teil der Hall of Fame des deutschen Sports. Als vorbildlicher Kämpfer.