Ukrainische Lehrer„Es geht gar nicht so sehr ums Lernen, sondern um Stabilität“
- Um die geflüchteten Kinder aus der Ukraine zu beschulen, hat das NRW-Bildungsministerium 1.052 Stellen geschaffen, die auch mit ukrainischen Lehrerinnen besetzt werden können.
- Zwei der 61 ukrainischen Lehrkräfte, die bislang eingestellt wurden, haben wir begleitet.
- Oksana Kamyschanska hat ihre Heimat und ihre alte Schwiegermutter zurückgelassen und unterrichtet nun am AMG in Bensberg. Sie sagt: „Die Ukraine wird nur eine Chance haben, wenn die jungen Leute, die jetzt hier sind, eine solide Ausbildung bekommen.“
Köln – Der Witz kommt nicht an bei Paulina, das liegt aber eher an ihrer Nervosität als an der Sprache. Das Mädchen aus der Ukraine steht vor ihren sieben Mitschülern und der Lehrerin, sie ist ein bisschen blass um die Nase und hält einen Vortrag auf Deutsch. Das Thema: Ernährung. Dazu: Eine auf dem Handy erstellte PowerPoint-Präsentation mit Bildern von Pizza, Obst und Gemüse. Beim Obst steht da: „Wenn ich Obst esse, macht mich das fröhlich.“ Also fragt die Deutschlehrerin Oksana Kamyschanska lächelnd: „Hast Du heute noch kein Obst gegessen, oder warum bist du nicht fröhlich?“
Paulina blickt etwas irritiert drein. Sie ist erst wieder froh, als sie das Referat hinter sich gebracht hat. Ihre Mitschüler applaudieren. 16 Stunden pro Woche haben sie zurzeit am Albertus-Magnus-Gymnasium in Bergisch Gladbach Bensberg Deutschunterricht. Heute sind zwei Siebtklässler auf Klassenfahrt. Die übrigen zwei Achtklässler und sechs Zehntklässler feilen mit Kamyschanska an ihrem Fragewörter-Repertoire. „Welches Obst magst Du am liebsten?“, „Wie oft isst Du Salat?“, „Wo kaufst Du Deine Pizza?“, fragen sie Paulina.
Unterricht mit Strenge und Humor
Es ist erstaunlich, wie viel Deutsch diese jungen Menschen bereits können. Findet der Gast. Findet auch Rolf Faymonville, der Schulleiter am AMG in Bensberg. Oksana Kamyschanska tut das Lob ab: „Sie haben ja auch viel Deutschunterricht. Wie bei einem Intensivkurs am Goethe-Institut.“ Ihre Stunde ist mit einer guten Portion klassischer Lehrer-Strenge gewürzt. Aber eben auch mit dezentem Humor.
Und es schwingt ein Grund-Mitgefühl für diese Jugendlichen mit, denen es geht wie ihr selbst. Die hier unverhofft in ein neues Leben geworfen wurden, während zu Hause ein Krieg tobt. Die sich in Deutschland einen neuen Alltag aufbauen sollen, während der, den sie kennen, gerade in Stücke bombardiert wird.
„So viele Länder helfen uns“, sagt Kamyschanska, „da ist es doch das Mindeste, dass auch wir Ukrainer uns gegenseitig helfen.“ Seit Russland 2014 die Krim besetzt hat, habe sie mit ihren Schülern in einem Vorort von Kiew regelmäßig Spenden für die ukrainischen Soldaten gesammelt. Das geht jetzt nicht mehr. Und doch sei da dieses Gefühl: „Ich muss meiner Ukraine, meinem Heimatland Hilfe leisten.“ Und die Gewissheit: „Die Ukraine wird nur eine Chance haben, wenn die jungen Leute, die jetzt hier sind, eine solide Ausbildung bekommen.“ Dabei will Oksana Kamyschanska helfen. Das ist jetzt ihre Aufgabe.
61 Lehrkräfte für 23.639 Schülerinnen und Schüler
Zuletzt hatte das Schul- und Bildungsministerium NRW zum Stichtag 8. Juni 23.639 neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine an den Schulen im Land registriert, im Regierungsbezirk Köln waren es 6.074. Um die Beschulung dieser Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten, wurden 1.052 zusätzliche Stellen geschaffen. Und diese können auch mit aus der Ukraine geflüchteten Lehrkräften besetzt werden.
Allerdings hat das Land bislang erst 61 ukrainische Lehrkräfte eingestellt, weitere 185 hätten konkretes Interesse bekundet und seien entsprechend beraten worden, teilte das Schulministerium mit. Bei 4844 Schulen im Land sind das wenige Tropfen auf viele kochend heiße Steine.
„Wenn ukrainische Lehrkräfte den Weg an unsere Schulen finden, dann ist das für alle Beteiligten ein Gewinn“, sagt Noch-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP). Den Kindern ist geholfen, weil sie an ihren neuen Schulen einen Ansprechpartner haben, der ihre Sprache spricht. Den Lehrerinnen – es sind ja vornehmlich Frauen aus der Ukraine geflüchtet – ist geholfen, weil sie die Möglichkeit bekommen, auch hier ihren Beruf auszuüben. Und den Schulen ist geholfen, die plötzliche ganze Gruppen von Schülern integrieren müssen, deren Sprache kaum ein deutscher Lehrer spricht.
Eine klare Win-Win-Situation also, und man darf der scheidenden Bildungsministerin durchaus anrechnen, dass sie nach viel Corona-Chaos in diesem Fall sehr zügig und unbürokratisch den Weg geebnet und Einstellungen möglich gemacht hat. Die befristeten Vertretungsstellen können Lehrerinnen und Lehrer aus der Ukraine inzwischen sehr zeitnah antreten, es reicht das Zeugnis eines Hochschulabschlusses.
Sasha Yatsenko kam durch Zufall zur Lehrerinnen-Stelle
Allerdings sind es noch vornehmlich glückliche Zufälle, die ukrainische Lehrerinnen an die eine oder andere Schule führen. Sasha Yatsenko, Pianistin und Musiklehrerin, war in Köln mit ihrer vierjährigen Tochter Anja auf dem Spielplatz, traf dort die Nachbarin von Sara Westphal mit deren Kindern – und arbeitet nun an der Peter-Ustinov-Realschule in Nippes, wo Westphal Klassenlehrerin in einer von nun zwei Integrationsklassen ist.
Oksana Kamyschanska fand ihren Weg ans AMG in Bensberg, weil sie ihren 16 Jahre alten Sohn Arsen dort anmeldete. Er ist der Grund, warum sie überhaupt flüchtete. In der Ukraine unterrichtete Kamyschanska Ukrainisch, ukrainische Literatur – und Deutsch. Ein Superglücksfall für das AMG, um den die Kollegen der Peter-Ustinov-Realschule bei allem eigenen Glück mit Sasha Yatsenko die Bensberger doch ein bisschen beneiden. „Eine ukrainischsprachige Deutschlehrerin wäre der Oberknaller“, sagt Westphal.
Aber auch Yatsenko sei eine Riesenhilfe. Sie ist bei Problemen die erste Anlaufstelle für die ukrainischen Schülerinnen und Schüler, übersetzt im Deutschunterricht, wo es nötig ist, vermittelt bei Konflikten, bei denen die deutschen Kollegen auf Grund der Sprachbarriere oft gar nicht direkt herausfinden können, worum es geht.
Spracherwerb dauert ein bis zwei Jahre
Hinreichende Deutschkenntnisse zu erwerben, ist der erste wichtige Schritt, um im deutschen Bildungssystem Fuß zu fassen. Für Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine ebenso wie für zugewanderte Kinder aus anderen Ländern. Ein bis zweieinhalb Jahre dauere das, so die Erfahrung von Rolf Faymonville in Bensberg. „Es ist nicht so einfach, so gut Deutsch zu lernen, dass man dem Unterricht folgen und Klausuren schreiben kann“, sagt er.
Für ältere Schüler jenseits der 16 Jahre wird es daher knapp, die Oberstufen-Zugangsberechtigung zu erhalten. Ihr Weg führt eher übers Berufskolleg, was aber kein Nachteil sein muss, betont Faymonville: „Viele hier in Deutschland wissen gar nicht, dass das Gymnasium nicht die einzige Schulform ist, an der man ein Abitur bekommen kann.“ Und wer einen Handwerksberuf erlerne und eine Meisterprüfung ablege, könne anschließend auch an einer Fachhochschule studieren. „Und musste sich dafür nicht mit Shakespeare rumschlagen“, so der Schulleiter.
Für die Deutschklasse von Oksana Kamyschanska geht es auch noch deutlich bodenständiger zu. Auf die Fragewörter folgt Wohn-Vokabular. Die Lehrerin verteilt Arbeitsblätter mit dem Bild einer Zweizimmerwohnung. Mobiliar wie Stuhl, Bett oder Kühlschrank soll in die entsprechenden Räume geordnet werden. Die Schüler geraten bei der Aussprache von Couch ins Straucheln, kennen sich ansonsten aber gut aus. Wohnungen und Möbel zu finden, beschäftigt sie und ihre Familien gerade auch außerhalb des Unterrichts.
12 bis 14 Stunden in der Regelklasse
Der Weg zur vollen Integration ist je nach Schule unterschiedlich. In Bensberg haben die zugewanderten Kinder gesonderten Deutschunterricht, verbringen zusätzlich aber direkt zwölf bis 14 Stunden in so genannten Regelklassen. Lernen also Bio, Mathe oder Englisch mit anderen Schülern ihres Alters. An der Peter-Ustinov-Schule kommen Kinder ohne hinreichende Deutschkenntnisse zunächst für zwei Jahre in eine internationale Förderklasse. Dort lernen sie Deutsch, werden aber auch in anderen Fächern unterrichtet. Nach einem Jahr findet eine Teilintegration in der Klasse statt, in die sie nach zwei Jahren voraussichtlich einsteigen werden. Variante eins hat den Vorteil, dass die Kinder und Jugendlichen von Beginn an mit Gleichaltrigen zusammenkommen. Variante zwei punktet damit, dass der Unterricht in allen Fächern den Sprachkenntnissen angepasst wird.
Oksana Kamyschanska ist seit Anfang März in Deutschland. Die Mutter einer ihrer Nachhilfeschülerinnen war nach Overath zu einer Cousine geflohen, die seit 25 Jahren in Deutschland lebt. Sie rief immer wieder bei Kamyschanska an und sagte: „Komm her, du musst Arsene retten.“ Die Entscheidung sei ihr sehr schwergefallen, sagt die Lehrerin. Ihre Mutter ist 83 Jahre alt und lebt in einem Pflegeheim. „Ich wollte sie nicht allein lassen.“ Ihres Sohnes wegen sei sie schließlich doch geflohen. Jetzt kümmert sich ihr Ex-Mann um seine Ex-Schwiegermutter und Kamyschanska ruft jeden Tag an. „Ich bin halb hier und halb dort“, sagt sie. Aber ihrem Sohn gehe es gut. „Ihm gefällt alles hier.“
Auf gepackten Koffern als die ersten Bomben fielen
Sasha Yatsenko ist ein paar Tage später nach Deutschland gekommen. Aber ihren Heimatort nördlich von Kiew hatte sie gleich am ersten Tag des Krieges zusammen mit ihrer Tochter verlassen. Sie saß schon auf gepackten Koffern, als die ersten Bomben fielen. Alle wichtigen Dokumente lagen bereit, etwa ihr Hochschulzeugnis. „Ich weiß ja nicht, ob mein Haus noch steht, wenn ich zurückkomme“, sagt sie. Mit Anja fuhr sie zu ihren Eltern in die West-Ukraine, blieb dort zwei Wochen, und flüchtete dann mit ihrer Tochter weiter nach Köln. Die ukrainischen Schüler an der Peter-Ustinov-Schule seien „überrascht und glücklich“ gewesen, als sie zum ersten Mal in den Unterricht kam. Endlich jemand, der sie versteht. Endlich jemand, mit dem sie problemlos reden können.
Schülerinnen weinen, Schüler machen nichts
„Das haben wir dringend gebraucht“, sagt Sara Westphal. Sie hätten ein 16-jähriges Mädchen unter den Schülerinnen und Schülern aus der Ukraine, die jeden Tag am Abend zu Hause weint. Und eine Zehnjährige, die in der Schule vor ihren Aufgaben sitzt und einfach nichts macht. „Die möchte nicht hier sein, die möchte nach Hause zu ihren Freunden.“ Yatsenko versucht jetzt, nach und nach eine Verbindung zu den Kindern und Jugendlichen aufzubauen. „Oft sieht es aus, als sei alles okay mit ihnen“, sagt sie. „Aber wir wissen nicht, wie es in ihrem Innern aussieht. All die Bomben, der Lärm, die Sirenen, das steckt in ihnen.“
Oksana Kamyschanska hat bis Ende Mai neben ihrem Deutschunterricht am AMG in Bensberg noch ihre in alle Welt verstreuten ukrainischen Schüler digital mit Lernmaterial und Aufgaben versorgt. Jetzt ist das Schuljahr in der Ukraine vorbei, für die nächsten drei Monate sind Ferien. Wie es danach weitergeht, weiß niemand. Die Bildungsbiografien unzähliger Kinder drehen gerade unberechenbare Pirouetten, die Gefahr der Bruchlandung ist groß. Rolf Faymonville sagt: „Unsere Erkenntnis ist, dass es hier jetzt erstmal gar nicht so sehr ums Lernen geht, sondern um Ruhe und Stabilität.“
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Sasha Yatsenko ist froh über ihre Arbeit an der Schule. Auch wenn sie sagt: „Ich bin hier keine Lehrerin, sondern eher eine Assistentin. Ich muss noch mehr Deutsch lernen.“ Sie wechselt beim Erzählen manchmal ins Englische, das kommt ihr flüssiger über die Lippen. Ihre Tochter hat einen Kindergartenplatz. Die beiden haben eine eigene Wohnung in Deutz gefunden und einige neue Freunde. „Und ich besitze sogar ein Fahrrad“, sagt die 32-Jährige. Das alles sei schön. Aber auch bedrückend. „Je länger ich hier bin, umso mehr will ich nach Hause.“ Yatsenko mag ihr Leben in Köln. Aber es geht ihr wie ihren Schülern: Sie hat sich dieses Leben nicht ausgesucht. Sie will ihr altes zurück, das der russische Präsident Wladimir Putin ihr mit seinem Krieg genommen hat.