Köln – Der Alltag von Maurice ist manchmal ein Kampf. Denn es genügen nur Kleinigkeiten, um den Jungen (11) aus der Bahn zu werfen. Mal verliert er beim Monopoly, mal ist es in der Klasse zu laut, mal will er einfach nicht die Zähne putzen – und schon verliert Maurice die Nerven. „Er hat seine Impulse nicht unter Kontrolle“, sagt Pflegemutter Ursula Hesse, die Maurice gemeinsam mit ihrem Mann Jürgen betreut seitdem er vier Monate alt ist.
Schwangere Trinkerinnen
Maurice ist eines von 10 000 Kindern, die jährlich mit einer fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) geboren werden. Die Erkrankung tritt auf, wenn Mütter während der Schwangerschaft Alkohol trinken, der dann über die Nabelschnur zum Fötus gelangt und die Bildung seiner Zellen schädigt. In der Folge können Organe und Skelett, vor allem aber das zentrale Nervensystem schwer geschädigt werden. Kinder mit FASD sind oft kleiner, haben einen geringeren Kopfumfang und Gesichtsveränderungen. Manchmal sind sie auch geistig eingeschränkt und verhaltensauffällig.
Vielen Betroffenen macht es Probleme, aufmerksam zu sein, zu lernen und zu planen. Manche begreifen komplexe Zusammenhänge nicht. Andere können sich schlecht in ihr Gegenüber hineinversetzen und verstehen soziale Codes nicht. Selbst kleinere unerwartete Abweichungen von Gewohntem führen zu Überforderungen, die sich oft in Gefühlsausbrüchen zeigen.
Maurices Alkoholspektrumstörung war nicht bekannt, als er zu Hesses kam. Im Mittelpunkt stand zunächst ein Herzfehler, an dem der Junge litt. Maurice wurde in der Uniklinik Köln zwei Mal operiert, hat einen Herzschrittmacher. Doch die Verhaltensauffälligkeiten zeigten sich schnell, sagt Ursula Hesse.
Mit den Zähnen in die Faust
„Kinder mit FASD haben eine unkontrollierbare Wut in sich, eine Art dunkle Macht, die raus muss“, sagt Susanne Falke vom Erziehungsbüro Rheinland, das Familie Hesse zur Seite steht. Kinder wie Maurice können schimpfen wie ein Rohrspatz. Andere reagieren mit Rückzug. „Eines unserer Mädchen beißt sich mit den Zähnen in die Faust, um den Druck auszuhalten, wenn es in der Schule überfordert wird“, sagt Falke. Zu Hause reagiert sie mit Kopf- und Bauchschmerzen, starkem Husten.
Ursula und Jürgen Hesse ahnten bereits, als Maurice fünf war, dass eine Störung vorliegen muss. Ein Arzt diagnostizierte zunächst ADHS, erst nach einem Test in der Tagesklinik Walstedde wurde deutlich, dass es sich um FASD handelt. Da war Maurice sieben Jahre alt. „Es war schrecklich, aber auch erleichternd, denn plötzlich war klar: Maurices auffälliges Verhalten ist nicht unserer Erziehung, sondern der Erkrankung geschuldet“, sagt Ursula Hesse.
Maurice wurde der Pflegegrad III anerkannt und eine Schwerbehinderung mit 70 Prozent. Die Familie schickte ihn in eine Regelschule, das funktioniert aber nicht. Seitdem er auf der Förderschule in Müngersdorf ist, betreut ihn ein Schulbegleiter im Unterricht und in den Übergangszeiten. Wenn es Maurice im Klassenraum nicht aushält, geht der Begleiter mit ihm in einen Raum, wo sich der Junge abreagieren kann. Die Hilfe gibt Maurice Struktur.
Ein fester Tagesablauf ist bei der Familie Hesse Pflicht: Hier findet Maurice Halt in einer Umgebung, die ihn schnell an seine Grenzen bringt. Nachts schläft er zum Beispiel in einem engem Schlafsack, weil der viele Platz im Bett Maurice irritiert. Die Stunden beim Therapeutischen Reiten tun Maurice gut, weil er Tiere liebt und die Pferde in ihm einfach einen Menschen und nicht einen Menschen mit Handicap sehen. Viele Freunde hat Maurice auch jetzt nicht. Seine Schimpftiraden schrecken viele Kinder ab. Es gibt aber auch Dinge, die Maurice hervorragend kann: Gesellschaftsspiele und Sport. Bei einem Schwimmwettbewerb ist er Erster geworden, und im Wohnzimmer zeigt er auf einem Hängestuhl akrobatische Kunststücke. Stolz präsentiert der Junge auch zwölf Fußball-Trikots und Autogrammkarten von den FC-Profis Timo Horn und Marcel Risse.
100 Kinder in der Region
Familie Hesse wird in vielerlei Hinsicht vom 1999 gegründeten Erziehungsbüro Rheinland unterstützt. Das Erziehungsbüro vermittelte zunächst Kinder in Fachpflegefamilien, mittlerweile werden etwa 100 Kinder in der Region betreut.
Seit 2013 gibt es einen Facharbeitskreis Pflege- und Adoptiveltern von Kindern mit fetalen Alkoholspektrumsstörungen, mittlerweile auch ein Fachzentrum für Pflegekinder mit FASD. Hier erhalten Pflegeeltern Hilfe durch Beratungen, Expertengespräche und Fortbildungen, hier steht ihnen ein Netzwerk mit anderen Familien zum Gedankenaustausch zur Verfügung. Gefördert wird das Fachzentrum von verschiedenen Stiftungen, eines seiner Projekte für Jugendliche auch mit Spenden von „wir helfen“.
Keine Hilfe weit und breit
Dass sich das Erziehungsbüro mit dem Thema FASD befasste, hat viel mit Susanne Falke zu tun. Als Fachpflegestelle hat sie gemeinsam mit ihrem Mann Matthias ein Pflegekind mit FASD großgezogen, bis beide vor vier Jahren das Fachzentrum für Pflegekinder mit FASD Köln gründeten. „Ich habe Hilfe gesucht, es gab aber nichts“, sagt sie. Erst auf einer Fachtagung des Selbsthilfeverbands FASD Deutschland e. V. wurde ihr klar, was mit ihrer Pflege-Tochter Katharina (heute 20), die nie aus der Trotzphase herausgekommen sei, los ist. „Es gab eine viel befahrene Straße, über die sie partout nicht gehen wollte. Sie hat sich auf den Boden geworfen und ich musste sie rüberziehen.“
70 Prozent können nicht alleine leben
In der Pubertät nahmen die Probleme zu. Erst schwänzte Katharina die Schule, schließlich wollte sie nicht mehr aufstehen und verriegelte die Tür. Mittlerweile lebt sie in einer Werkstatt für Menschen mit seelischen Behinderungen in der Eifel. Wenn alles gut läuft, könnte sie einmal in einer Einrichtung des betreuten Wohnens leben. Das wäre auch das Ziel für Maurice. Einer US-Studie zum Thema FASD zufolge können 70 Prozent der Betroffenen nicht alleine leben und nur zwölf Prozent einem Beruf nachgehen.