Köln – Erlerntes Scheitern nennt Olivier David den Mechanismus, der ihn sein Leben lang begleitet – oder „Scheitern als Lebensweg“. Er sei in der Familie immer der Unselbstständige gewesen, der, der es nicht hinkriegt. Zum Beispiel als er das Fachabitur nicht schafft und mit einem mittelmäßigen Realschulabschluss die Waldorfschule verlässt. „Ich fiel aus dem Raster und niemand nahm davon Notiz.“ Er trinkt und kifft in seiner Jugend täglich. Danach ackert er in diversen Nebenjobs, versucht sich als Schauspieler, muss sein Volontariat bei einer Hamburger Tageszeitung vorzeitig beenden, weil er den Stress nicht bewältigen kann.
„Wenn man sich anschaut, wie ich aufgewachsen bin, war das eigentlich gar kein Scheitern“, erklärt der Autor im Video-Interview. Er ist ein ruhiger, freundlicher Mann in Hoodie und mit schwarzumrandeter Brille. „Sondern ich habe genau die Erwartungen erfüllt, die die Gesellschaft an mich hat.“
Die Grundsicherung reicht zum Leben, aber nicht zur Teilhabe
In „Keine Aufstiegsgeschichte“ beschreibt nicht ein seiner Herkunft Entflohener, wie man es trotz aller Widerstande schaffen kann, sondern warum es in unserem Land immer unwahrscheinlicher wird, aufzusteigen. Und welchen Preis in Armut aufgewachsene Kinder dafür zahlen. Denn obwohl er nun erfolgreicher Nachwuchsautor ist, ein Studium angefangen hat und eben doch einen Bildungsaufstieg hingelegt hat, wirkt seine Kindheit in ihm nach.
Olivier David wuchs wie etwa jedes fünfte Kind in Deutschland unterhalb der Armutsgrenze auf. Sein Vater, erst Gemüse- später Drogendealer, verlässt die Familie, als er acht ist. Zurück lässt er Davids Mutter, von da an alleinerziehend mit zwei Kindern, viele Jahre arbeitslos, von einer gewalttätigen Kindheit selbst traumatisiert und depressiv. Es gibt in seinem biografischen Buch die Szene, in der er seine Mutter weinend in der Küche findet, weil sie kein Geld hat, um den Kühlschrank wieder aufzufüllen. Oder die, in der er den schamvollen Gang zum Lehrerpult beschreibt, wenn seine Klassenfahrt als Hartz-IV-Empfängerkind mal wieder vom Amt genehmigt werden muss. Es scheint, die Grundsicherung im deutschen Sozialsystem reicht zum Überleben, aber nicht zur gesellschaftlichen Teilhabe. Für die müssen sich Hartz-IV-Empfängerinnen und Empfänger jedes Mal eine Erlaubnis abholen.
Olivier David beschreibt die Gewalt in der Straße, in der er aufwächst, und auch die in der eigenen Familie. Er schreibt über die Wut, die ihn selbst immer wieder gegen die Wand boxen lässt. „Gewalt ist wie eine Sprache, die man als Kind lernt und dann spricht.“ Manchmal ist es seine einzige Art, sich auszudrücken, und Olivier David schaut auf Youtube Bürgerkriegsvideos, um extreme Ohnmachts- und Angstgefühle künstlich zu erzeugen. Eine Therapeutin diagnostiziert Olivier David ADHS und eine posttraumatische Belastungsstörung. Er googelt die Risikofaktoren und findet „Aufwachsen in Armut“, „Aufwachsen bei einem alleinerziehenden Elternteil“, „Kriminalität oder psychische Störungen eines Elternteils“. Da beginnt er, zu begreifen und alles aufzuschreiben.
Arme Kinder eher psychisch auffällig
Wissenschaftliche Studien belegen eindeutig, dass Armut krank machten kann. Eine Studie des Robert-Koch-Instituts zeigt beispielsweise, dass Kinder aus armen Familien drei Mal so häufig wie der Durchschnitt psychisch erkranken oder Verhaltensauffälligkeiten zeigen. „Diese Statistiken und Zahlen interessieren niemanden“, sagt Olivier David. „Aber vielleicht kann ich über meine Biografie Leute auf das Thema stoßen.“
So können Sie helfen
wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird
Mit unserer Aktion „wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird“ bitten wir um Spenden für Projekte, die Kinder und Jugendliche wieder in eine Gemeinschaft aufnehmen, in der ihre Sorgen ernst genommen werden.
Bislang sind1.328.993,90 Euro (Stand: 27.09.2022) eingegangen.Die Spendenkonten lauten:„wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 3705 0299 0000 1621 55Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 3705 0198 0022 2522 25
Relative Armut heißt in unserem Land für Kinder nicht, dass sie hungern müssen oder in Lumpen zur Schule gehen. Aber es heißt: Nicht zu Kindergeburtstagen gehen, weil man kein Geschenk kaufen kann. Keine Freunde mit nach Hause nehmen, weil man sich für die kleine Wohnung schämt. Lieber Ausreden erfinden, warum man nicht mit ins Schwimmbad geht, als den wahren Grund zuzugeben. „Mein Denken, Fühlen und Handeln folgte meinen Nöten und meinem Mangel“, schreibt David und ist auch im Interview schnell wieder beim Scheitern: Das Gefühl kennt er, das ist ihm vertraut, darin fühlt er sich zu Hause.
Kein Geld für Kindergeburtstage
Dabei macht der Autor immer wieder deutlich: Es geht nicht um sein individuelles Versagen, nicht um eine irgendwie geartete Schuld seiner Eltern. Im Gegenteil: Seine Mütter hätte alles versucht. In dem sie ihn an der Waldorfschule anmeldete, sei er mit Mitschülerinnen und Mitschülern aus gut bürgerlichen Familien in Kontakt gekommen. Wann immer es ging, sei sie mit ihren beiden Kindern raus aus der Stadt gefahren.
Olivier David geht in seinen Schilderungen darum, aufzuzeigen, „dass wir uns als Gesellschaft leisten, Armut zu verwalten, statt sie zu überwinden“. Dabei verursachen Menschen, die wegen psychischer Erkrankungen in die Langzeitarbeitslosigkeit rutschen, enorme Kosten für den Sozialstaat. Jeder Bildungsökonom würde Olivier David da sofort zustimmen. Die deutsche Gesellschaft scheint immer noch kollektiv an der Bekämpfung von Kinderarmut zu scheitern.
Olivier David: Keine Aufstiegsgeschichte. Warum Armut psychisch krank macht. Eden Books, 240 Seiten,16,95 Euro