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Kinder alkoholkranker ElternAngst vor den Kästen im Keller

Lesezeit 7 Minuten

Kinder begreifen meist erst nach Jahren, warum ihre Eltern sich anders verhalten, wenn sie Alkohol trinken.

Köln – Plötzlich war sie wieder in ihrem Kopf, die Erinnerung, und ging nicht mehr weg. Christa* muss vier Jahre alt gewesen sein. Es war nachts, ein Albtraum hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Sie weiß noch, dass sie geschrien hat. Nach ihrem Vater. Das hat sie sonst nie getan. „Warum habe ich nach meinem Vater geschrien?“

Die Bilder tauchen jetzt öfter auf. Immer wieder sieht sie sich selbst, vier Jahre alt, wie sie in ihrem Bett liegt und schreit aus Angst vor dem Albtraum. Danach ist alles schwarz. Was ist passiert? Hat der Vater sie allein gelassen? Oder ist er zu ihr gekommen? War er liebevoll? Wütend? Aggressiv?

Wenn Christa an ihre Kindheit denkt, ist diese Ungewissheit ein Teil davon. Christa ist heute Mitte 20 und heißt eigentlich anders, möchte aber anonym bleiben. Christas Vater ist alkoholkrank, sagt sie. Sie nehme das alles viel zu schlimm wahr, sagt ihr Vater. Die Darstellungen in diesem Text beruhen auf ihrer Erinnerung. Schon vor ihrer Geburt sei ihr Vater alkoholkrank gewesen. Als er mit ihrer Mutter zusammengekommen ist, habe er noch versucht, es zu verstecken, sagt Christa. Als dann die Kinder kamen, nicht mehr. Meist habe er Bier getrunken, bis zu acht Flaschen am Tag. Oder Wein, etwa drei Liter. Sie habe es schon an seinem Geruch gemerkt, sagt sie. Und an seinem glasigen Blick.

Die Aufmerksamkeit der Familie kreist um die Sucht

Lange hat sie nicht verstanden, warum Papa in dem einen Moment so war und im nächsten ganz anders. Warum er manchmal komisch gesprochen hat und hin und her getorkelt ist, wenn er sich im Haus bewegt hat. Warum er manchmal so wütend war, einfach aus dem nichts. Christa sagt, sie muss etwa acht Jahre alt gewesen sein, als sie zum ersten Mal begriffen hat, dass das Verhalten ihres Vaters mit der Menge der geleerten Flaschen zusammenhing. Von da an fürchtete sie sich vor den Kästen im Keller.

In der Schule soll niemand etwas mitbekommen. Durch Freunde lernt Christa andere Väter kennen. Sie merkt: „Papas Trinken ist komisch.“ Und schließt daraus: „Dann muss ich auch komisch sein.“ Christa will sich selbst schützen. Aber auch die Eltern. Sie will fröhlich sein und unbeschwert. Gute Noten schreiben. Besonders hilfreich sein, besonders witzig, besonders nett. Nur eins nicht: besonders anstrengend. Das kommt nicht gut an, das hat sie Zuhause gelernt. Die anderen haben schon genug Probleme, denkt Christa.

Der Kölner Suchtforscher Michael Klein schätzt, dass etwa 2,65 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland zeitweise oder dauerhaft mit einem alkoholkranken Elternteil aufwachsen. Die Kinder werden in einem Umfeld groß, in dem die Aufmerksamkeit der Familie um die Sucht kreist. Liebe und Geborgenheit bleiben oft auf der Strecke. Um das Familiensystem aufrecht zu erhalten, sagt Klein, werden viele Kinder zu Eltern ihrer Eltern. Sie wollen sich kümmern, die Sucht kontrollieren. Dabei werden sie um die Chance gebracht, emotional erwachsen zu werden.

Jeder kämpft für sich allein: Mutter, Tochter, Bruder

Zuhause wird ihr Zimmer der einzige Zufluchtsort. Mit Musik auf den Kopfhörern ist Christa für eine Weile geschützt vor den Schreien nebenan. Sie versucht auszublenden, wie der Vater hinter der Tür betrunkener wird, erst die Mutter und den Bruder beschimpft und dann seine Geschwister am Telefon anschreit. Wenn sie so traurig ist, dass sie es nicht mehr aushält, fängt sie an zu weinen und spricht ihren Vater auf den Alkohol an. Er wird dann wütend, so wütend, dass sie Angst bekommt.

„Ich habe mich schuldig gefühlt, dass wir so eine schlechte Beziehung haben und ihm die Schuld dafür gegeben, dass er sich nicht mehr bemüht. Ich war mir sicher, dass er mich mit Absicht verletzt“, sagt Christa. Um die Schmerzen zu betäuben, hilft ihr essen. Manchmal isst sie so wenig, dass sie nur noch den Hunger spürt. Wenn sie nach ein paar Tagen die immer kleiner werdenden Zahlen auf der Waage sieht, hat sie das Gefühl, irgendetwas in ihrem Leben kontrollieren zu können. An anderen Tagen kann sie sich nur beruhigen, wenn sie so lange isst, bis alles in ihr taub ist. Nur dann fühlt sie sich gut.

Ihre Mutter, sagt Christa, habe erst versucht die Schlichterin zu spielen und sich dann später mehr und mehr zurückgezogen. Mit ihrem älteren Bruder kann Christa nicht sprechen. Oft schreien er und der Vater sich an. Danach zieht er sich in sein Zimmer zurück. Irgendwie kämpft jeder für sich allein. Nur die Mutter versucht noch krampfhaft, die Harmonie in der Familie wiederherzustellen. Anfang 2018 ist sie an Krebs gestorben.

Etwa 1,6 Millionen Deutsche sind alkoholabhängig

„Für Papa war es nicht schwer zu denken, dass sein Trinkverhalten kein Problem war“, sagt Christa. Die Sucht war ein Familiengeheimnis. Gab es Probleme, habe die Mutter diese gelöst. Für den Vater habe sein Handeln so nie Konsequenzen gehabt, sagt Christa. 6,7 Millionen Menschen der 18- bis 64-jährigen Bevölkerung in Deutschland konsumieren Alkohol in einer Form, die gesundheitlich riskant ist. Etwa 1,6 Millionen Menschen dieser Altersgruppe gelten als alkoholabhängig.

Christa ist 15 Jahre alt, als sie das erste Mal mit Freunden selbst Alkohol trinkt. Dass der Alkohol auf sie keine abschreckende Wirkung mehr hat, überrascht sie selbst. Sie will jetzt wissen, was der Vater an den Flaschen findet. Und mag das Betrunkensein sofort. Plötzlich fühlt sie sich sicher und unbeschwert. Mit einer Freundin trinkt sie nun öfter, die Eltern bleiben entspannt. Manchmal wirkt es auf Christa so, als sei der Vater stolz auf sie, wenn sie nach Hause kommt und betrunken ist.

Etwa ein Drittel der Kinder, die mit alkoholkranken Eltern aufwachsen, sagt Suchtforscher Michael Klein, werde im Erwachsenenalter selbst alkoholkrank. Genetische Faktoren – der vererbte Alkoholstoffwechsel, der dazu führe, dass vor allem Söhne von Alkoholikern häufig mehr Alkohol vertragen – spiele eine Rolle, genauso wie das von den Eltern unbewusst als Kind abgeguckte Verhalten. Oft werde der Alkohol selbst wieder als „Problemlöser“ eingesetzt, um Erinnerungen zu verdrängen. Ein weiteres Drittel, teilweise überlappend mit dem ersten, kämpfe mit Angst- und Persönlichkeitsstörungen oder Depressionen.

Selbsthilfegruppe für erwachsene Kinder von alkoholkranken Eltern

Das letzte Drittel, sagt Klein, bleibe Untersuchungen zufolge psychisch gesund. „Das sind häufig Kinder, die eine hohe Stressresistenz haben oder Menschen in ihrem Umfeld hatten, die ihnen geholfen haben, gesund zu bleiben.“ Auch wenn der suchtkranke Elternteil sich früh für eine Behandlung entscheide, könne sich das positiv auf die Entwicklung des Kindes auswirken, sagt Klein. Entsprechende Symptome könnten sich zurückbilden.

Seit sie ausgezogen ist, sagt Christa, sei ihr Leben anders. Sie studiert mittlerweile und geht jetzt in eine Selbsthilfegruppe für erwachsene Kinder von alkoholkranken Eltern. „Hallo, ich bin Christa und ich bin ein erwachsenes Kind“, sagt sie dann und die anderen antworten mit: „Hallo Christa“. Christa kann dort von ihren Ängsten erzählen und der Erinnerung, die sie plötzlich verfolgt hat und nicht mehr weggehen wollte. Die anderen hören einfach zu. „ACA – Adult Children of Alcoholics“ heißt die Gruppe, die auf dem Programm der Anonymen Alkoholiker basiert. Seit der Pandemie finden die Meetings über das Internet statt.

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Treffen mit ihrem Vater dosiert sie heute jetzt ganz genau. Meistens kündige sie ein paar Tage vorher an, wenn sie vorbeikommt. So will sie sicher gehen, dass er noch nicht betrunken ist, wenn sie kommt. Sie reden dann über das Wetter und das Studium, nur nicht über den Alkohol. Länger als ein bis zwei Stunden hält sie es nicht aus. Dann fährt sie wieder nach Hause. Sie habe viel über den Alkoholismus gelernt, sagt Christa. Dass ihr Vater nicht willensschwach ist, sondern krank. Dass er Hilfe braucht. Und dass sie ihn nicht retten kann, niemals, sondern immer nur sich selbst.

*Name von der Redaktion geändert

So können Sie helfen

Mit unserer Aktion „wir helfen: damit unsere Kinder vor Gewalt geschützt werden“ bitten wir um Spenden für Projekte, die sich für ein friedliches und unversehrtes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in unserer Region einsetzen. Bislang sind 1 379 288,50 Euro eingegangen.

Die Spendenkonten lauten:

„wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“

Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 370 502 990 000 162 155

Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 370 501 980 022 252 225