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Psychologe zu kindlichen Flutopfern„Die Eltern hilflos zu sehen, löst Stress aus“

Lesezeit 4 Minuten

Manche Kinder und Jugendliche haben die Zeit nach der Flut auch als Abenteuer erlebt.

Herr Darimont, die Flutkatastrophe im Rheinland ist drei Monate her. Ist es zu früh oder zu spät, um über die Folgeschäden für Kinder und Jugendliche zu reden?

Es ist keinesfalls zu spät, die psychischen Folgen zu thematisieren. Kinder waren in den ersten Wochen nicht im Fokus der Aufmerksamkeit. Erst einmal ging es in den Nachrichten um Tote, Verletzte, zerstörte Häuser und kaputte Infrastruktur. Die Familien waren mit existenziellen Schwierigkeiten konfrontiert: Wo schlafen wir? Was essen wir? Wie soll es weiter gehen? Erst wenn das geklärt ist, ist die Psyche dran. Posttraumatische Belastungsstörungen nach einschneidenden Erlebnissen können auch noch ein halbes Jahr danach auftreten.

Wie haben Kinder – im Gegensatz zu Erwachsenen – die Flutkatastrophe erlebt?

Das hängt sehr vom Alter und Entwicklungsstand ab. Es war für alle Menschen eine bedrohliche Situation, deren Folgen niemand abschätzen konnte. Für Kinder ist es besonders einschneidend, wenn sie ihre Eltern, die sonst für ihre Sicherheit sorgen, hilflos erleben müssen. Das löst extremen Stress aus.

Welche Folgen kann so ein Erlebnis auf die Psyche eines Kindes haben?

Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Es kommt darauf an, wie sehr die Flut das weitere Leben bestimmt. Es gibt Familien, die ihren gesamten Besitz verloren haben. In denen Angehörige verstorben sind. Andere sind vergleichsweise glimpflich davon gekommen. Mir ist ganz wichtig: Nicht jedes Kind, das etwas Schlimmes erlebt, ist traumatisiert.

Norbert Darimont arbeitet als Diplom-Psychologe in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LVR-Klinik Bonn und hat in der Traumaambulanz auch Flutopfer betreut.

Was sind „normale“ Reaktionen?

Es gibt akute Belastungsreaktionen in den ersten zwei bis drei Tagen, die ganz normal sind: Angst und Traurigkeit, Verlustängste, Schlafprobleme, eine gewisse Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit. Erst wenn diese natürlichen Reaktionen über Wochen anhalten, kann das auf eine posttraumatische Belastungsstörung hindeuten. Wenn das Kind dauerhaft traurig und antriebslos ist, sollte man eine Beratungsstelle oder einen Arzt aufsuchen.

Von welchen Faktoren hängt ab, ob ein Kind langfristig belastet ist?

Ein wichtiger Punkt ist, wie schnell die Eltern wieder einen Alltag mit einem festen Tagesablauf und Ritualen herstellen konnten. Das gibt Sicherheit zurück. Viele Kinder wurden erst einmal zu den Großeltern geschickt, damit sie versorgt sind. Das tut ihnen nicht unbedingt gut, weil sie sich dann extreme Sorgen um ihre Eltern machen und Angst haben, dass ihnen wieder etwas passiert. In der Notfallambulanz war uns wichtig, dass wir die Eltern beraten haben, wie sie jetzt am besten mit ihren Kindern umgehen.

Was sollten die Eltern beachten?

Sie müssen verstehen, dass Kinder ganz anders trauern und verarbeiten als Erwachsene. Sie können auch in der Katastrophe spielen und fröhlich sein. Manche haben diese chaotische Zeit vielleicht auch als großes Abenteuer erlebt. Erwachsene sollten ihre eigene Betroffenheit nicht auf das Kind projizieren: Ich mache mir Sorgen, also muss es auch meinem Kind schlecht gehen. Damit begünstigen sie unter Umständen eine Traumatisierung.

Mit welchen Problemen kamen die Familien zu Ihnen in die Bonner Notfallambulanz?

Es kamen hauptsächlich Kinder und Jugendliche zu uns in die psychiatrische Klinik, die vorbelastet waren und die wir oft schon kannten. Diese Familien litten in der Covid-19-Pandemie bereits unter Existenzängsten, Nöten und Problemen mit dem Homeschooling. Und dann kam die Flut. Zuvor unbelastete Kinder haben sich eher an die psycho-sozialen Hilfsangebote vor Ort gewendet, zeigt unsere Erfahrung.

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Was brauchen alle Kinder aus den Flutgebieten jetzt?

Alle Kinder haben einen Anspruch auf positive Erlebnisse, auf Ablenkung im besten Sinne. Ein Urlaub, ein Theatercamp oder kreative Schulprojekte wirken präventiv, um posttraumatischen Belastungen vorzubeugen. Außerdem sollte man natürlich die Kinder fragen, was sie sich jetzt wünschen. Die psycho-soziale Unterstützung darf nicht wie die anderen Fluthelfer einfach abrücken. Sie muss langfristig gewährleistet sein.

Neues Jahresmotto von „wir helfen“

„wir helfen“ will mit seinem neuen Jahresmotto gezielt Initiativen und Projekte in den von der Flut betroffenen Gebieten unterstützen. Gefördert werden können unter anderem Ausflüge, Ferienangebote, Schul- und Kunstprojekte für Kinder und Jugendliche. Den Antrag finden Interessierte online.