Kölner Helferinnen alarmiert„Von manchen Mädchen haben wir seit Wochen nichts gehört“
- Anna Kuss ist Beraterin im Jugendtreff „Lobby für Mädchen“ in Köln-Mülheim. Aktuell hilft sie jungen Frauen hauptsächlich am Telefon.
- Viele Anruferinnen quälen Zukunftsängste: Kann ich meine Ausbildung anfangen? Was passiert, wenn meine Eltern ihre Arbeit verlieren?
- Im Interview spricht sie außerdem darüber, wie sich die Isolation auf Essstörungen auswirkt – und was sie tut, wenn ein Mädchen anruft und sagt: „Ich hab Angst Zuhause“.
Frau Kuss, beim deutschlandweiten Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist die Nachfrage laut Familienministerium um knapp 20 Prozent gestiegen. Wie sehr ist das Beratungsangebot der „Lobby für Mädchen“ in der Corona-Krise ausgelastet?
Wir haben viel zu tun und online eine Warteliste. Die Mädchen, die uns kennen, haben einen hohen Bedarf an Gesprächen. Besonders die Perspektivlosigkeit in Hinblick auf das Ende der Beschränkungen hat ihre Probleme verschärft. Die anfänglichen Fristen haben noch Sicherheit gegeben. Jetzt wissen viele nicht einmal, ob sie nach dem Sommer die geplante Ausbildung anfangen können. Dazu kommt die angespannte finanzielle Lage in vielen Familien, die Eltern haben Angst – und die Mädchen kriegen das mit. Andererseits haben wir kaum Neuanfragen.
Wie erklären Sie sich das?
Meist erfolgt der erste Kontakt mit uns über die offene Jugendarbeit hier im Zentrum. So bauen wir besonders den Kontakt zu den jüngeren Mädchen auf. Das fällt weg. Die Präventionsarbeit an Schulen fehlt. Dort hören viele das erste Mal von unserer Arbeit. Anderen Mädchen fehlt gerade die Privatsphäre, um mit uns in Kontakt zu treten. Für viele kostet es auch einfach eine enorme Überwindung, irgendwo anzurufen. Das beobachten wir schon, wenn ein Termin beim Amt vereinbart werden soll. Der Anruf in einer Beratungsstelle, wo ich nicht weiß, wer drangeht, ist einfach ein Riesenschritt.
Welche mädchenspezifischen Probleme ergeben sich in der Corona-Krise?
Mädchen sind deutlich häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen als Jungen. Ansonsten sprechen wir mit den Klientinnen über Themen, die sie auch sonst bewegen: Körperbilder, Essstörungen, Ängste, familiäre Probleme. Diese Notlagen sind nicht unbedingt geschlechtsspezifisch – aber die Mädchen haben sich genau unseren Schutzraum im Mädchenzentrum ausgesucht, um darüber zu sprechen. Diese geschützte Umgebung fehlt ihnen jetzt komplett.
Wie wirkt sich die Isolation zum Beispiel auf eine Essstörung aus?
Viele Mädchen hatten einen Umgang mit der Essstörung im Alltag gefunden. Jetzt gibt es diesen Alltag plötzlich nicht mehr. Nicht immer wissen die Eltern von der Erkrankung. Denn eine Essstörung zeigt sich nicht nur als Magersucht, sondern kann unterschiedliche Formen haben. Dafür fehlt in den Familien manchmal das Problembewusstsein.
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Welche konkreten Handlungsoptionen haben Sie, wenn ein Mädchen anruft und sagt: „Ich habe Angst zuhause“?
Dann frage ich erst einmal: Warum? Was ist passiert? Ist jemand gewalttätig? Das heißt: Ich würde zunächst abklären, wo das Mädchen gerade ist und dann weitere Fragen stellen, um die Situation besser einschätzen zu können. Dann finde ich heraus, ob es schon Hilfen in der Familie gibt, die intensiviert werden könnten. Ich kläre das Mädchen über seine Rechte und Möglichkeiten auf. Viele haben Angst, dass sie ihren Eltern noch mehr Probleme machen, wenn sie sich Hilfe holen. Wir haben einen internen Ablauf, wie wir bei einer Kindeswohlgefährdung vorgehen. Bei einem Anruf können wir helfen. Fast mehr Sorgen machen mir die Mädchen, die nicht anrufen.
Haben Sie da konkrete Klientinnen im Kopf?
Ja, von manchen Mädchen, deren schwierige Situation wir kennen, haben wir seit Wochen nichts gehört. Normalerweise kommen viele aus den Flüchtlingsunterkünften zu uns in das Mülheimer Zentrum. Dort sind die Lebensumstände für junge Frauen auch in normalen Zeiten schon sehr schwierig.
Lobby für Mädchen
Die „Lobby für Mädchen“ betreibt normalerweise zwei Treffpunkte für Mädchen und junge Frauen in Mülheim und am Eigelstein, außerdem eine Beratungsstelle in Ehrenfeld.