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Interview mit Sexualpädagogin„Sexualisierte Gewalt geschieht nie spontan“

Lesezeit 6 Minuten

Dr. Nadine Schicha ist Erziehungswissenschaftlerin und Sexualpädagogin.

Köln – Nach den Missbrauchsfällen in Lügde, Bergisch Gladbach und Münster wurde den Behörden immer wieder systematisches Versagen vorgeworfen. Es gab Hinweise auf die grausamen Taten, aber niemanden, der sie verhindern konnte. Bei der neu eingerichteten Landesfachstelle für „Prävention sexualisierte Gewalt“ sollen nun die Expertise in NRW gebündelt und Hilfsangebote besser vernetzt werden. Sie soll eine Anlaufstelle für Fachkräfte und Einrichtungen sein, um Kinder und Jugendlichen künftig vor Übergriffen zu schützen.

Die Landesstelle hat gerade erst die Räumlichkeiten in der Kölner Innenstadt bezogen, einige Büros sind pandemiebedingt noch leer, die Internetseite befindet sich im Aufbau. Leiterin Nadine Schicha empfängt trotzdem schon zum Interview.

Frau Schicha, an wen wende ich mich, wenn ich den Verdacht habe, dass ein Kind in meinem Umfeld Opfer von sexuellen Übergriffen wird?

Nadine Schicha: Jeder kann sich an eine Fachberatungsstelle wie den Kinderschutzbund wenden, wo die Mitarbeiter die Wahrnehmungen mit dem Hilfesuchenden abgleichen. Fachkräfte können sich auch an die örtlichen Jugendämter wenden. Auf keinen Fall sollten Sie versuchen, so etwas alleine zu lösen. Da kommt man schnell an die eigenen Grenzen.

Wo fängt sexualisierte Gewalt Ihrer Meinung nach an?

Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern geschieht nie spontan. Täterinnen und Täter bereiten sich strategisch vor und tun sehr viel dafür, unentdeckt zu bleiben. Beim so genannten Grooming, also der Kontaktanbahnung, führt die Täterin oder der Täter Begegnungen oder Berührungen herbei, die in der Situation völlig unangemessen sind. Bevor es zum eigentlichen Übergriff kommt, werden viele kleine Grenzverletzungen verübt, die das Schamempfinden des Opfers sukzessive erweitern sollen. Wenn wir Erwachsenen solche Grenzverletzungen erkennen und entsprechend handeln, ist meines Erachtens schon sehr viel getan.

Fangen Grenzverletzungen auch schon mit Worten an?

Ja, grenzverletzendes Verhalten zeigt sich selbstverständlich auch in der Kommunikation. Es gibt Einrichtungen, die haben eine regelrechte Kultur der Grenzverletzungen etabliert. Dort prägen verbale Demütigungen und Verletzungen den Alltag.

Was kann ich als Außenstehende tun, wenn ich mitkriege, dass ein Erwachsener unangemessen mit einem Kind spricht?

Dann sollten Sie Haltung beziehen und Ihre Wahrnehmung deutlich benennen. Wir müssen uns klarmachen: Nicht nur Institutionen, sondern auch jeder erwachsene Mensch hat die Pflicht, einem Kind in Not zu helfen.

Sie wollen als neue Landesfachstelle flächendeckende Kinderschutzkonzepte in allen Einrichtungen, in denen Kinder zusammenkommen. Wie sieht so ein Konzept aus?

Das besteht aus vielen Puzzleteilen, die auf unterschiedlichen Ebenen wirken, sowohl strukturell als auch zwischenmenschlich. Auf der strukturellen Ebene geht es zum Beispiel darum, dass jede Person, die mit Kindern arbeitet, ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen muss und das Thema schon in Vorstellungsgesprächen mit Bewerbern angesprochen wird. Die Einrichtungen sollen bewusst nach außen tragen: Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um für Mädchen und Jungen sicher zu sein. Auf der zwischenmenschlichen Ebene geht es darum, wie wir miteinander in Beziehung treten.

Können Sie das genauer erklären?

Es müssen wichtige Fragen diskutiert werden. Wie viel Nähe und Distanz ist im professionellen Kontext angemessen? Was für eine Fehlerkultur pflegt die Einrichtung? Außerdem finde ich, dass sexuelle Bildung oft noch vernachlässigt wird. Prävention erschöpft sich nicht im „Nein“, sondern beginnt mit dem „Ja“ zu den eigenen Bedürfnissen, dem Eigensinn und der Wahrnehmung von Gefühlen. Deshalb muss sexuelle Bildung in einem Schutzkonzept auch schon in Kitas und Grundschulen mitgedacht werden.

Die neue Landesfachstelle in Köln will Konzepte etablieren, die Kinder in Einrichtungen besser vor Übergriffen schützen.

Reicht es nicht, Sexualität im Biologieunterricht ab der achten Klasse mit Jugendlichen zu besprechen?

Diese Denkweise legt ein grundlegendes Problem offen, denn Sexualität beinhaltet viel mehr als Aufklärung über Zeugung, Schwangerschaft und Geburt. Es geht auch um Beziehungen und Wertvorstellungen. Prävention in diesem Bereich bedeutet auch: Wissen und Aufklärung für uns Erwachsene. Nur wenn wir in der Lage sind, Sexuelles zu thematisieren, signalisieren wir unseren Kindern gegenüber eine Ansprechbarkeit.

Was meinen Sie damit?

Wir müssen darüber sprechen, dass der Mensch von Natur aus ein sexuelles Wesen ist und auch schon Kinder sich mit ihrer Sexualität beschäftigen. Es geht in einer sexualfreundlichen Erziehung nicht darum, Kinder mit altersunangemessenen Aspekten aus der Erwachsenensexualität zu konfrontieren, sondern Fragen der Kinder aufzugreifen und altersangemessen zu beantworten. Kinder sprechen nur dann über etwaige Grenzverletzungen, wenn sie erfahren, dass sexuelle Themen kein Tabu sind.

Worüber sprechen wir in Bezug auf sexualisierte Gewalt noch zu wenig?

Zu viele haben noch das Bild vom fremden männlichen Täter im Kopf, der ein Kind vom Bürgersteig in seinen schwarzen Van zieht. Wir müssen darüber reden, dass Übergriffe in der Regel im sozialen Nahfeld passieren. Und über Frauen als Täterinnen. Wir gestehen Frauen, besonders im frühkindlichen Bildungsbereich, viel mehr Nähe zu den Kindern zu als Männern. Gleichzeitig ist unser Blick auf Männer sehr eingeschränkt. Männer dürfen in manchen Kitas nicht wickeln oder es wird gleich argwöhnisch geschaut, wenn sie ein Kind zum Trösten auf den Schoß nehmen.

Was hat das mit der Prävention von Übergriffen zu tun?

Wenn ich Männer unter Generalverdacht stelle, habe ich keinen professionellen Blick darauf, wie sie mit Kindern interagieren. Das gleiche gilt für Frauen. Wenn wir alles, was Frauen tun, unter dem Aspekt der mütterlichen Fürsorge sehen, sind wir auch nicht mehr in der Lage, Grenzverletzungen als solche zu erkennen. Ständiges Tätscheln und auf den Schoß nehmen, wenn das nicht der Wunsch der Kinder ist, ist auch grenzverletzendes Verhalten.

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Wie bewerten sie den Gesetzentwurf, der vorsieht, Kindesmissbrauch künftig als Verbrechen einzustufen und mit einer Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren zu bestrafen?

Ich sehe das neue Gesetz als große Errungenschaft. Sexualisierte Gewalt wird endlich als Verbrechen festgeschrieben. Eine abschreckende Wirkung für Täterinnen und Täter haben die hohen Strafen aber vermutlich nicht.

An wen können sich Opfer und Angehörige wenden?

Kinderschutzbund Köln: In der Familienberatungsstelle an der Bonner Straße können sich Privatpersonen mit jeglichen Problemen Hilfe holen. Die Mitarbeiter beraten auch am Telefon zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung. Ein von „wir helfen“ mitfinanziertes Präventionsprojekt zu sexualisierter Gewalt in Grundschulklassen startet bald. Tel: 0221/57 77 70

Zartbitter: Der Verein ist eine der ältesten Stellen in Deutschland, die Mädchen und Jungen nach sexuellen Übergriffen Hilfe bietet. Der Verein berät und interveniert bei akuten Krisen. Außerdem gibt es online zahlreiche Informationen, auch zu sexuellen Übergriffen unter Kindern, Missbrauch in Institutionen, in den neuen Medien oder im Sport. Viele der Präventionsangebote in Kitas und Schulen werden schon seit Jahren von „wir helfen“ begleitet.

Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS NRW): Die AJS ist eine landesweit tätige Fachstelle, die besonders in pädagogischen Institutionen über sexualisierte Gewalt aufklärt. Sie unterstützt die Arbeit der Jugendämter, freien Träger und Bildungseinrichtungen und unterhält eine Hotline für Fragen zum Kinder und Jugendschutz. Tel: 0221/92 13 92 33

Hilfetelefon der Bundesregierung: Das „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“ ist eine bundesweite, kostenfreie und anonyme Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt und ihre Angehörigen. Tel: 0800/2 25 55 30