MissbrauchWie Freunde Betroffenen helfen können
Prolog
Am Anfang war das Empfinden ... von zum Himmel schreiender Ungerechtigkeit. Während seiner Recherchen in der rechten Szene für seinen Abschlussfilm an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) stößt Florian Forsch auf den grausamen Fall des Tino B., der im großen Stil minderjährige Jungen manipulierte, um sie später an Freier zu prostituieren.
Die Erkenntnis, dass sich Täter in einer Komfortzone befinden, weil sexueller Missbrauch in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabuthema ist, lässt den Filmstudenten nicht los. „Wüsste man mehr über Täterstrategien, könnte man junge Opfer wesentlich besser schützen,“ denkt sich Florian Forsch, beginnt im Frühjahr 2017 mit den Arbeiten an seinem Film „Bester Mann“ und überzeugt damit auch „Zartbitter e.V.“
Die Kölner Beratungs- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen beschließt spontan, den Film inhaltlich zu begleiten und zu fördern. „Schon das Drehbuch überzeugte uns durch die äußerst einfühlsame Aufarbeitung der Problematik sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen“, sagt „Zartbitter“-Geschäftsführerin Ursula Enders, „und durch die differenzierte Darstellung der Täterstrategien.“
Wie Täter beispielsweise Jugendliche täuschen, Intrigen spinnen, damit Betroffene von der Klasse oder Clique isoliert sind. Wie sie Gelegenheiten schaffen, in denen sie missbrauchen können. Oder wie sie die Übergriffe mehr und mehr steigern und Kindern und Jugendlichen einreden, sie hätten das doch selbst gewollt.
Part zwei
„»Bester Mann« klärt darüber auf, wie Jugendliche in den Missbrauch hineingeraten, mir lag eine zweite Produktion am Herzen, die als eine Art pädagogischer Begleitfilm beschreibt, wie man wieder rauskommt, welche Möglichkeiten der Verarbeitung es gibt und wie wichtig dabei Gleichaltrige sind“, sagt Forsch. Die Idee für den Dokumentarfilm „Was hilft“ war geboren.
Auch dieses Anliegen, darüber zu informieren, wie Freunde und Freundinnen jungen Missbrauchsopfern helfen können teilt der Regisseur mit „Zartbitter“, also beschließt der Verein auch diese zweite Produktion zu begleiten – und „wir helfen“ als Förderer zu gewinnen.
Das Problem
„Ich behaupte, annähernd jede und jeder kennt jemanden, der von sexuellem Missbrauch in seinem Umfeld betroffenen ist. Deshalb ist es für jeden von uns wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, um richtig reagieren und helfen zu können“, sagt Forsch. Die „Speak“-Studie über sexualisierte Gewalt in der Erfahrung Jugendlicher gibt ihm Recht: Laut der haben 48 Prozent der befragten Neunt- und Zehntklässler mindestens eine Form nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt erlebt, fast ein Viertel (23 Prozent) hat mindestens einmal eine körperlich sexualisierte Gewalterfahrungen gemacht, und 70 Prozent, also mehr als zwei Drittel haben sexualisierte Gewalt beobachtet.
Tipps von „Zartbitter e.V.“
Das sollten Freunde vermeiden:
• Nachfragen, was genau passiert ist, dadurch kommen Bilder an den Missbrauch hoch, die aufs Neue belasten.
• Betroffene mit Ideen überfrachten, auf sie einreden und ihnen Ratschläge geben à la „Du musst“.
• Sie zu oft auf den Missbrauch ansprechen, das gibt ihnen das Gefühl, auf die Missbrauchserfahrung reduziert zu werden.
• Racheakte planen, vorschlagen, dem Täter Gewalt anzudrohen. Dadurch macht man sich selber strafbar und sich dem Täter gleich.
• Mitleid kann belasten, weil die Betroffenen damit auf die Opferrolle reduziert werden und einen unangenehmen Sonderstatus erhalten.
• Über die sexuellen Gewalterfahrungen der Betroffenen tratschen. Dann haben diese keine Kontrolle mehr darüber, was andere über sie erzählen und eventuell dazu erfinden. Die Betroffenen fühlen sich erneut ausgeliefert, entblößt und beschämt.
So können Freunde wirklich helfen:
• Betroffene ganz normal behandeln und für sie da sein, wenn sie es wünschen.
• Ihre Stärken wahrnehmen und mit ihnen normale Dinge unternehmen – sie aber nicht dazu drängen sondern ermutigen.
• Ihnen Zeit lassen, Ideen zu sammeln und in Ruhe abzuwägen, was hilft.
• Trösten und Verständnis zeigen, da sein, wenn die/der Betroffene sich wohler fühlt, wenn jemand anwesend ist.
• Akzeptieren, wenn Betroffene den Täter oder die Täterin trotz allem noch mögen.
•Sich über Möglichkeiten der Unterstützung informieren, z.B. im Fall einer Strafanzeiger über das Recht auf anwaltliche Vertretung im Rahmen einer Nebenklage ab 14 Jahren unabhängig von den Eltern. Die Kosten werden über die Prozesskostenhilfe abgerechnet.
Der Protagonist
Auf der Suche nach einer Hauptfigur für „Was hilft“ entdeckt Forsch im Internet den Blog des damals 15-jährigen Kevin Cane, in dem der Jugendliche, der als Kind von einem Minderjährigen sexuell missbraucht wurde, seine Erfahrungen verarbeitet – und öffentlich macht. „Nach dem Prozess gegen meinen Peiniger, knapp ein Jahrzehnt nach den Taten, herrschte lange Zeit Stille,“ sagt Kevin, „vorher habe ich oft mit Freunden darüber geredet, doch mit der Verhandlung schien für viele das Thema abgehakt zu sein.“
Nicht für Kevin. „In und mit meinem Blog sah ich die Chance, andere Betroffene zu erreichen, ihnen zu helfen – eben nicht über das direkte Gespräch, sondern über den indirekten, eher anonymen Austausch im Netz.“ Kevin bricht das Schweigen – und lebt seine Vision: Betroffenen Jugendlichen Mut zu machen, sich anderen anzuvertrauen und Hilfe zu suchen. Nach mehreren Treffen und intensiven Gesprächen mit Florian Forsch und seinen Eltern ist klar, dass Kevin, heute 17, der perfekte Protagonist für „Was hilft“ ist.
Szenenwechsel
Kevin ist drei, vier Jahre alt, als der Teenager-Freund seines großen Bruders immer dann, wenn er zu Besuch und der Bruder abgelenkt ist, den kleinen Jungen mit einer vermeintlichen Überraschung in das Schlafzimmer seiner Eltern lockt – und sexuell missbraucht. Kevin stottert über Nacht, nässt wieder ein, zieht sich in sich zurück – niemand kann sich einen Reim darauf machen. Bis Kevin acht Jahre später, 11, den Täter, den er nach einem Autounfall Jahre zuvor als tot wähnte, per Zufall bei einer Familienfeier im Garten seines Opas begegnet.
Kevin reagiert, wie viele Traumatisierte, mit Übelkeit, Angstzuständen, Wut und Tränen. Seine Mutter ist alarmiert, fragt nach dem Grund seines „Ausbruchs“ – bis erstmals das Wort „sexuelle Belästigung“ fällt. Einen Tag später versucht Kevin, sich das Leben zu nehmen. In einer Arztpraxis entdeckt die Mutter kurz drauf einen Flyer der Beratungsstelle „Schutzhöhle e.V.“, wo Kevin in den folgenden zwölf Monaten geholfen wird. Kevin und seine Mutter erstatten Anzeige, werden auf dem Weg zum Prozess und währenddessen begleitet und beraten. „Ich habe mit Hilfe von »Schutzhöhle« sehr gut gelernt, mit meinen Erfahrungen umzugehen“, sagt Kevin. Auch wichtig waren die Gespräche mit Gleichaltrigen – allen voran Alex, selbst von sexuellem Missbrauch betroffen, den Kevin im Sommer 2017 über seinen Blog kennenlernt.
Heldenreise
Alex beschließt, Kevin im Film „Was hilft“ auf einer Etappe seiner Reise in einem alten Campingbus von Oberfranken nach Holland zu begleiten. „Alex und ich haben uns spontan sehr verbunden gefühlt. Der Austausch mit ihm hat mir geholfen, ich habe zum ersten Mal gespürt, dass ich nicht alleine bin mit meinen Erlebnissen“, sagt Kevin. Genau dieses Gefühl wollen die beiden anderen betroffenen Jugendlichen geben – und zeigen, wie grenzachtender Umgang untereinander funktioniert. Schließlich vertrauen sich Jugendliche wesentlich häufiger ihren Freunden an als Erwachsenen. Laut „Speak“-Studie sprechen 60 Prozent der von körperlicher, sexualisierter Gewalt betroffenen Jugendlichen generell darüber – 85 Prozent davon mit Freundin oder Freund, 30 Prozent mit Mutter, 15 Prozent mit Mitschülern. 75 Prozent geben an, dass es ihnen geholfen hat, mit jemanden zu sprechen. 82 Prozent der Jugendlichen, die Zeugen von sexualisierter Gewalt wurden oder von ihr gehört haben, wenden sich ebenfalls an Gleichaltrige.
„Jugendliche brauchen folglich Informationen, wie sie Betroffene nach sexuellen Gewalterfahrungen und bei der Suche nach Hilfe unterstützen können, ohne sich dabei selbst zu überfordern. Denn auch durch das Hören-Sagen können Jugendliche sehr belastet werden“, sagt Enders und lobt Kevins „bewundernswertes Engagement jugendlicher Selbsthilfe.“
Ausblick
Geplant ist, dass der von „wir helfen“ geförderte Film, gemeinsam mit „Bester Mann“ im Rahmen von Schulveranstaltungen in Kinos gezeigt wird, in Klassen während Workshops und in Beratungsstellen. Flankierend wird es die Homepage „washilft.org“ geben, auf der Jugendliche unter anderem darüber informiert werden, wo sie welche beratende oder rechtliche Hilfe bekommen, wie man selber Bilder und Filme im Kopf stoppen kann, und wie man – wie Kevin, wieder auf die Beine kommt. „Mit verheilten Narben kann man leben, die muss man nicht verstecken“, sagt Kevin.
Kein Spoiler
Um den künftigen Zuschauern nicht die Spannung zu verderben, sei nur so viel vorab verraten: Ein Brief an den Täter macht klar, wie sehr Kevin an Stärke gewonnen hat, sein Peiniger aber wird weiter mit seiner Schwäche leben müssen – und mit der bedrückenden Scham.
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