Köln/Halver – Erst als Levi ständig hinfällt, ist Kai Hellmann ernsthaft besorgt. Er und seine Frau waren zu diesem Zeitpunkt schon öfter mit ihrem dreijährigen Sohn im Krankenhaus, weil er Krampfanfälle hat. Außerdem geht Levi zu einer Logopädin, weil er nicht so gut sprechen kann wie Gleichaltrige. „Aber sonst war er gesund, ein ausgeglichenes Kind, immer gut drauf“, erzählt Kai Hellmann im Video-Chat, man sieht nur sein Gesicht mit dichtem Bart und Brille. Eigentlich hatte er zu sich nach Hause ins Bergische Land eingeladen, die Pandemie verhindert es. Ein Foto aus dem Herbst 2017 zeigt den blonden Jungen mit blau-weiß-gestreifter Mütze und einer gelben Matschhose am Nordseestrand. Er hält einen Ball in beiden Händen und grinst in die Kamera.
Verzögerte Entwicklung, Krampfanfälle, Bewegungsstörungen – Kai Hellmann googelt auf der Couch, was Levi haben könnte, und findet: Kinderdemenz. „Ich habe kreidebleich zu meiner Frau gesagt: Guck’ mal, die Symptome passen genau. Aber das ist so selten. Das kann es nicht sein.“ Ein paar Wochen später bekommen sie in einer Spezialklinik für Epilepsie in Bielefeld die Diagnose: spätinfantile Neuronale Ceroid Lipofuszinose (NCL2), umgangssprachlich: Kinderdemenz.
Die Nerven im Gehirn sterben langsam ab
NCL ist eine seltene neurodegenerative Krankheit. Wegen eines defekten Enzyms im Gehirn können bestimmte Eiweißablagerungen nicht abgebaut werden. Die Ablagerungen zerstören das Nervensystem, vermüllen es quasi. Vom Prinzip her ähnelt NCL der Altersdemenz. Weil die Nerven langsam absterben, verliert der Patient alle geistigen und körperlichen Fähigkeiten. Von etwa 300 bis 700 betroffenen Kindern in Deutschland geht die NCL-Stiftung aus.
„Die Diagnose war ein Riesenschock“, erinnert sich Kai Hellmann. „Aber, so furchtbar das klingt, es war auch eine Erleichterung, weil wir endlich wussten, was mit Levi los ist.“ Insgesamt gibt es 14 verschiedene Arten der Krankheit, erklärt Professor Thomas Langmann, der an der Universität Köln zur Immunologie des Auges auch im Zusammenhang mit NCL forscht. „Aber die Folgen sind sehr ähnlich.“ Alle erkrankten Kinder und Jugendlichen erblinden. Langmann untersucht, was genau im Auge passiert, um Rückschlüsse auf andere vererbte Augenkrankheiten zu ziehen.
Die Therapie kann die Krankheit nur verlangsamen
Die erkrankten Kinder und Jugendlichen werden außerdem vergesslich und können irgendwann nicht mehr laufen. Wenn der Schluckreflex nachlässt, müssen sie durch eine Magensonde ernährt werden. Am Ende versagen die Lebensfunktionen und das Herz bleibt stehen. Sie werden nicht älter als 30 Jahre. Am Anfang macht sich die Familie noch Hoffnung. Etwa zu der Zeit als sie Levis Diagnose bekommt, wird in Hamburg die erste Therapie zugelassen. Das Enzym, das den NCL2-Patienten fehlt, kann künstlich hergestellt werden.
So können Sie helfen
wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird
Mit unserer Aktion „wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird“ bitten wir um Spenden für Projekte, die Kinder und Jugendliche wieder in eine Gemeinschaft aufnehmen, in der ihre Sorgen ernst genommen werden.
Bislang sind 1.328.993,90 Euro (Stand: 27.09.2022) eingegangen.Die Spendenkonten lauten:„wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 3705 0299 0000 1621 55Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 3705 0198 0022 2522 25
Mehr Informationen und Möglichkeiten zum Spenden unter www.wirhelfen-koeln.de.
In der Behandlung leitet ein Schlauch das Ersatzenzym alle zwei Wochen in die Gehirnflüssigkeit des Patienten. Familie Hellmann fährt nach Hamburg und lässt sich von den Ärzten alles genau erklären. Und versteht: Was weg ist, bleibt weg. „Das Gehirn ist enorm komplex. Ein künstliches Enzym kann nicht das gleiche leisten wie ein natürliches“, erklärt Professor Langmann. Die Krankheit wird verlangsamt, nicht gestoppt.
„Wir verstecken uns nicht“
Familie Hellmann entscheidet sich gegen die Behandlung und wer Kai Hellmann zuhört, merkt, wie oft er das schon erklären musste. „Natürlich hätten wir das alles auf uns genommen, die viele Zeit im Krankenhaus. Aber Levis Krankheit war schon zu weit fortgeschritten. Wir wollen ihm seine restliche Zeit so schön wie möglich machen“, sagt er. Vier Jahre später bereut er die Entscheidung nicht. Er und seine Frau haben etwa ein Jahr nach der Diagnose eine gesunde Tochter bekommen. Die Krankheit wird rezessiv vererbt. Da er und seine Frau beide Träger des Gendefekts sind, hatte auch sie eine 25-prozentige Chance zu erkranken.
Über NCL informieren
Die NCL-Stiftung aus Hamburg arbeitet seit 20 Jahren zur Krankheit und hat auch den Namen „Kinderdemenz“ eingeführt. Sie finanziert Forschungsprojekte.
www.ncl-stiftung.de
In der NCL Gruppe Deutschland vernetzten sich betroffene Familien bundesweit.
www.ncl-deutschland.de
Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf bietet eine NCL-Spezialsprechstunde an.
ncl-netz.de/sprechstunde.htm
Levi hat sich so entwickelt, wie die Ärzte es voraussagten. Er kann sich nicht mehr bewegen, ist erblindet und wird durch eine Magensonde ernährt. Levi geht in eine Förderschule, nachts kommt ein Pflegedienst und überwacht seine Atmung. „Wir gehen viel raus, wir verstecken uns nicht“, erzählt Kai Hellmann über den Familienalltag. „Levi liebt es immer noch, wenn um ihn herum Trubel ist.“
Eltern wünschen sich weniger Bürokratie
Kai Hellmann engagiert sich in der NCL-Gruppe Deutschland, dort tauschen sich Eltern über Reha-Maßnahmen, Hilfsmittel und Krankenkassenzuschläge aus. Ein schwerbehindertes Kind haben heißt auch immer: viele Formulare ausfüllen. Oder wie Kai Hellmann sagt: „Je nach Krankenkasse klagt man sich von Pontius zu Pilatus.“ Auslaugende Schriftwechsel und kräftezehrende Telefonate fressen wertvolle Zeit, die er lieber mit seinem Sohn verbringen würde. Gerade bei einer seltenen Erkrankung muss man viel erklären. Frank Stehr ist im Vorstand der NCL-Stiftung, die seit 20 Jahren über die Krankheit informiert. „Wir wollen besonders Augen- und Kinderärzte aufklären, damit die Krankheit möglichst früh erkannt wird.“
Das könnte Sie auch interessieren:
Das schlimmste an der Krankheit seien die vielen kleinen Abschiede, sagt Kai Hellmann. Er erinnert sich noch an den Tag, an dem Levi sein letztes Wort gesprochen hat. Papa. Wie sie das schaffen würden, wird er oft gefragt. „Es klingt kitschig, aber: Jeden Tag mehr lieben als trauern.“