An Rett-Syndrom erkranktKatharina kann nicht mehr reden
Rösrath – Auf die Frage, was sie am liebsten isst, fixiert Katharina eines der bunten quadratischen Felder auf dem Bildschirm. Sie schwingt übermütig mit ihrem Oberkörper vor und zurück, die dunklen halblangen Haare wippen heftig, sie kommt dabei gefährlich nahe mit ihrer Stirn an den Computer. Nach ein paar Sekunden leuchtet auf dem Symbol, das Katharina mit ihrem Blick fixiert, ein roter Punkt und der Sprachcomputer sagt mit mechanischer Stimme: „Fisch“.
„Wir hatten heute Sushi“, kommentiert Claudia Petzold lächelnd die Antwort ihrer Tochter. Beide sitzen in der Küche des Einfamilienhauses in einem kleinen Ort bei Rösrath, auf dem Wohnzimmertisch stehen noch die bunten Strüßje aus dem Kölner Rosenmontagszug in kleinen Vasen.
Die Krankheit ist kaum bekannt
Katharina kann nicht sprechen und ihre Hände nicht benutzen. Nicht mehr. Sie kam als gesundes Mädchen zur Welt, entwickelte sich normal, konnte mit 22 Monaten 48 Wörter sagen. Dann wurden es weniger. Drei Monate später hörte sie ganz auf zu sprechen. Katharina hat das Rett-Syndrom – eine neurologische Erkrankung, unter der fast ausschließlich Mädchen leiden und die in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist. Obwohl es 350 000 Betroffene weltweit gibt, über 5000 davon in Deutschland. Die Behinderung ist die zweithäufigste nach dem Down-Syndrom.
„Je älter Katharina wird, desto schwieriger ist es“, erzählt die alleinerziehende Mutter, nachdem sie ihrer Tochter im Wohnzimmer ihre Lieblingsserie auf dem Tablet angestellt hat. „Obwohl sie versteht, was um sie herum geschieht, kann sie nicht kommunizieren. Und zieht sich in letzter Zeit immer mehr zurück.“ Als Kind besuchte Katharina eine Regelgrundschule, kam anfangs gut zurecht, wurde von ihren Mitschülern mitgezogen und von einer Schulbegleiterin unterstützt. Sie bekam den Unterrichtsstoff vereinfacht auf Karten vorgelegt, auf die richtige Lösung musste sie zeigen. Auf Fragen antwortet sie mit ihren Ja-Nein-Karten, die sie immer an ihrer Jeans trägt. Irgendwann wurde es schwierig: Die Mitschüler hatten keine Geduld mehr mit Katharina, wollten sie nicht mehr dabeihaben.
„Das System grenzt meine Tochter aus“
Seit ein paar Jahren geht die Jugendliche auf eine Förderschule, fällt dort durchs Raster, sagt Petzold. „Das System grenzt meine Tochter aus. Es fördert nur Kinder, die sprechen und schreiben können.“ Deshalb ist Katharina auf engagierte Klassenlehrer und eine empathische Schulbegleitung angewiesen. Auf jemanden, der sich auf sie einlässt. Um Katharina zu verstehen, braucht es Jahre, sagt Petzold.
Ihr Krankheitsverlauf ist typisch, weiß Bernd Wilken, Chefarzt der Kinderneurologie am Klinikum Kassel. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Rett-Patienten, sieht etwa 120 erkrankte Mädchen pro Jahr und bietet deutschlandweit die einzige Erwachsenen-Sprechstunde für die Krankheit an. Patienten reisen aus ganz Deutschland, der Schweiz und Österreich an. Wilken kennt sogar eine Handvoll Jungen, die erkrankt sind, ein statistisch verschwindend geringer Anteil. Er weiß: Alle Rett-Kinder zeigen erst im Kleinkindalter Symptome und verlieren dann nach und nach die erworbenen Fähigkeiten wie Sprechen und die Kontrolle über ihre Hände.
Die Behinderung ist die Folge einer Genmutation
Katharina faltet ihre Hände unkontrolliert, andere kneten sie oder reiben sie wie zum Händewaschen aneinander. Darüber hinaus hat die 14-jährige Katharina eine milde Form der Erkrankung. Im Gegensatz zu vielen Rett-Mädchen, die im Rollstuhl sitzen, ist sie körperlich fit. Sie reitet, schwimmt, fährt Ski und Fahrrad. Alles mit entsprechenden Hilfsmitteln – und trotzdem mit großer Begeisterung. Reiten soll insbesondere Skoliose vorbeugen, eine Verkrümmung der Wirbelsäule, an der viele Betroffene als Folge von Fehlhaltung leiden.
Der Ursprung der Behinderung ist eine Genmutation, die die Verknüpfung der Zellen im Gehirn stört. Dort setzt die Forschung an, für die Petzold mit ihrem Verein „Rett Syndrom Deutschland“ Spenden sammelt. Petzold ist weltweit mit Eltern von Rett-Mädchen vernetzt, die Betroffenen haben nun nach zehn Jahren gemeinsam finanzierter Grundlagenforschung eine Firma in den USA gefunden, die erste klinische Studien zum Rett-Syndrom durchführt.
Gentherapie in der Vorbereitung
Für die Pharmaindustrie ist das Projekt nicht attraktiv – zu wenige Betroffene. Zu wenig Aussicht auf Profit. Auch Spenden generieren ist schwierig. „Niemand spendet Geld für Forschung. Aber sie ist nun einmal unsere einzige Chance“, sagt Petzold. Das erkläre sie auch immer den Eltern, die sich meist noch mit dem ersten Diagnose-Schock bei ihr melden.
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Eine mögliche Behandlung des Rett-Syndroms könnte auch wichtige Erkenntnisse zu Erkrankungen wie Parkinson oder Autismus liefern, glauben die Mediziner. Zurzeit beschäftigen sich die Wissenschaftler mit einer Gentherapie, bei der die kranken Gene gegen gesunde ausgetauscht werden sollen. Und die Chancen stehen nicht schlecht, weil man über das Rett-System im Vergleich zu anderen Krankheiten viel weiß: Wo sie genau entsteht, dass die Mutation keine Gehirnzellen sterben lässt, dass die Symptome nicht zwangsläufig irreparabel sind. Dennoch sind die Heilungschancen ungewiss, sagt Wilken.
Für Katharina wünscht sich ihre Mutter, dass sie in ein paar Jahren ausziehen kann. Die 14-Jährige hat eine normale Lebenserwartung. „Sie soll nicht nur bei mir hocken.“ Dazu bräuchte die Jugendliche ein Wohnangebot mit 24-Stunden-Betreuung. Mit Personal, das sich auf Katharina und ihre seltene Krankheit einlässt.
Informationen zum Verein Rett-Syndrom-Deutschland finden Interessierte im Internet.