Köln – Grace klingt manchmal so, als sei sie ein bisschen genervt vom Tod. „Am Schlimmsten ist der Satz: Es wird alles gut“, sagt Grace. „Oder: Ich weiß, wie du dich fühlst.“ Beides hohle Phrasen, die Grace sich anhören muss, seit sie fünf ist und ihr Vater an Krebs stirbt. Wie soll das wieder gut werden?, fragt sie sich bis heute, was soll der Satz überhaupt bedeuten? Die 13-Jährige sitzt an einem sonnigen aber kalten Frühjahrsabend in einem weißen, weiten T-Shirt des Popstars Billie Eilish am Deutzer Rheinufer. An der grün-gestrichenen Bank ziehen laufend die für diesen Feierabend ausgemachten Spazier-Paarungen vorbei.
Grace erinnert sich: Eine Woche nachdem ihr Vater gestorben ist, feiert sie einen lauten, bunten, fröhlichen Kindergeburtstag. Sie hatte eigentlich eine schöne Kindheit, sagt Grace, nur die Erwachsenen waren „ein bisschen dramatisch“. Eine Erzieherin im Kindergarten bemuttert sie sehr, mitleidige Blicke hasst die 13-Jährige bis heute. „Die Menschen reden nicht mehr normal mit dir, wenn sie wissen, dass dein Vater tot ist.“
Auch ein trauerndes Kind will lachen und spielen
Als Gesellschaft haben wir den Tod in Heime und Hospize verdrängt, sagt Trauerbegleiter Manuel Schweichler. Und wenn er uns außerhalb begegnet, wissen wir oft nicht, was wir sagen sollen. Deshalb leiden Kinder, von denen ein Familienmitglied gestorben ist, nicht nur unter dem Verlust eines geliebten Menschen, sondern auch unter den Reaktionen der anderen.
„Ein trauerndes Kind will genau wie jedes andere Kind spielen, lachen und die Welt entdecken“, sagt Schweichler vom Kölner Verein TrauBe, der Name ist eine Abkürzung für Trauerbegleitung. Er nennt das „Pfützen-Trauer“: Ein Kind springt mit beiden Beinen hinein, ist von einem auf den anderen Moment traurig oder wütend. Dann ist das Gefühl wieder vorbei. Erwachsene trauern anders, sie tragen das schlechte Gefühl kontinuierlich mit sich herum.
Für den Umgang mit diesen Gefühlen bietet der Verein TrauBe Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen seit zehn Jahren einen Raum. „Die Kinder kommen hier nicht zum Weinen hin“, sagt auch Schweichlers Kollegin Heike Brüggemann. „Sondern weil sie bei uns niemand bewertet.“
Auch TrauBe arbeitet zurzeit virtuell
Grace erinnert sich, dass sie beim ersten Besuch schüchtern ist. Es gibt eine Vorstellungsrunde, in der jedes Kind eine Kerze für seine oder seinen Verstorbenen anzündet. Während Grace mit anderen Kindern eine Erinnerungskiste gestaltet, mal backt oder malt, nimmt ihre Mutter an den Treffen für die Angehörigen teil, die parallel stattfinden. „Dort können sich die Familien über ihre Kinder austauschen oder über ihre eigene Trauer reden“, erklärt Brüggemann. Nur wenn die Erwachsenen lernen, mit ihrem Verlust zu leben, gelingt das auch den Kindern, sagt sie.
Grace’ Vater war professioneller Balletttänzer. Ihre Eltern haben sich beim Tango tanzen kennengelernt. Das würde Grace nach der Pandemie auch gerne lernen. Vieles funktioniert erstaunlich gut auf Abstand, aber nicht Tango. Dafür braucht es Emotionen, sagt Grace.
Die Arbeit von TrauBe wurde ins Digitale verlegt. Die über zehn Trauergruppen mit bis zu zwölf Personen treffen sich virtuell. „Wir dachten lange: So ein Thema online geht gar nicht“, erzählt Brüggemann. Aber es funktioniert, weil es eben nicht anders geht und Trauer nicht warten kann. In vielen Gesprächen gehe es um den Alltag in der Corona-Krise. Wie soll man sich von dem Verlust ablenken, wenn Sport oder Freunde treffen kaum erlaubt ist? Mit wem soll man Zuhause reden, wenn dort alle auf ihre Art leiden? Grace hatte irgendwann das Gefühl, dass sie TrauBe nicht mehr braucht. Weil sie Menschen kennengelernt hat, die nicht komisch reagieren, wenn sie von ihrem Vater erzählt. Und sie hat gelernt: Man darf auch einfach mal traurig sein.
Zehn Jahre Trauerarbeit in Köln
Der Verein „TrauBe – Trauerbegleitung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene“ wurde 2011 auf Initiative von „Domino – Zentrum für trauernde Kinder e.V.“, des Deutschen Kinderhospiz-Vereins und Professor Raymond Voltz, Palliativmediziner der Uni Köln, gegründet. Im Verein engagieren sich hauptsächlich Ehrenamtliche, das Angebot ist größtenteils spendenfinanziert und wird von Anfang an von „wir helfen“ unterstützt.
Zum zehnjährigen Bestehen hat der Verein das Buch „Hi, ich bin Grace“ verlegt, das Grace’ Geschichte in Form eines Comics erzählt.