ProjektSoundtrack der Zuversicht
Köln – Aus den Kellerfenstern des Backsteinhauses an der Buchheimer Guilleaumestraße 16 wabern Hip-Hop-Rhythmen in den Hof, auf dem Michelle (13) und Isabell (11) an einem großen Holztisch sitzen – ihre Köpfe tief über einen Block Papier gesenkt. Der Text für ihren dritten Song entsteht in diesen Minuten, nur wenige Zeilen fehlen noch. Das letzte Gemeinschaftswerk, „Hör genau zu“, ist ein Reggae-Stück – und ein Liebesbeweis an die Musik. „Wir singen jeden Tag, brauchen dafür keinen Plattenvertrag“, singen Michelle und Isabell im Wechsel – „Nur mit Musik ist das Leben wirklich geil.“
Grenzenlos
Die Teenager kennen sich aus der Nelson-Mandela-Schule und treffen sich fast jeden Dienstagabend im Jugendhaus Treffer. Dann öffnet Miguel Igler zwischen 16 und 19 Uhr das Tonstudio für seinen Rap-Workshop – der jedermann Willkommen heißt, egal, welches musische Talent er mitbringt, wo er herkommt oder welcher Religion er angehört. „Hier teilen alle ihre Begeisterung für Musik und überwinden in der Kreativität ihre Unterschiede“, sagt Igler.
Der Musik-Dozent für Schulen, Musikschulen und Jugendzentren – mit Schwerpunkt Musikproduktion – hilft den Jugendlichen, Songtexte zu schreiben, sie kritisch zu hinterfragen, den Beat darunter zu legen, den Song zu mischen und aufzunehmen. 15 Musikfans kommen regelmäßig in das Tonstudio, bis zu 100 junge Besucher sind es insgesamt pro Jahr.
Kein Geld in der Tasche
Frank alias Young Blood ist einer der Dauergäste. 2015 traf er zum ersten Mal auf das Treffer, gerade aus Nigeria gestrandet, 16 Jahre jung und kaum Geld in der Tasche – „No money in my pocket“ heißt treffenderweise sein erster, mit Igler produzierter Rap-Song. Der Text stammt einzig und allein aus Franks Feder. Wie beinahe jeder und jede hier, ist Frank noch heute begeistert von dem schnellen Erfolgserlebnis, das ihm der Song bescherte. Und das ihn vor allem dazu motivierte, die Sprache zu lernen, um die folgenden Rap-Texte peu à peu auf Deutsch zu schreiben. Und einen guten Schulabschluss zu schaffen.
Heute, drei Jahre später, hat er die Mittlere Reife in der Tasche und einen Ausbildungsvertrag zum Maurer – vielleicht nur ein kleiner beruflicher Schlenker auf seinem Weg zum Traumjob: Musikproduzent. Sein Übungsfeld: das Treffer-Tonstudio. Dort coacht er gemeinsam mit Miguel Igler die jungen Besucher bei der Entstehung ihrer Songs – und rappte unter anderem die „Hauptrolle“ in dem gemeinsam mit 50 anderen Treffer-Besuchern produzierten Youtube-Musikvideo „It doesn’t mean“.
Nationalität Mensch
Dessen Botschaft „Egal, von wo du kommst, du kannst alles erreichen!“ scheint zu gefallen: 2000-mal wurde es bereits aufgerufen, versehen mit motivierenden Beiträgen: „Super schönes Lied, es gibt nur eine Nationalität und die heißt Mensch“, kommentiert User „nicky“ – „Sehr schön, das Lied gibt mir Kraft!“, lobt „Tanguy“.
Nicht immer sind die Texte auf Anhieb positiv und motivierend, „häufig geben Texte von Rap-Anfänger nicht eigene Erfahrungen und Emotionen wieder, sondern reproduzieren einfach, was in den Medien gehört wird“, so Igler. Gangsta-, Agro-Raps mit frauenfeindlichen oder drogenverherrlichenden Passagen zum Beispiel. „Deshalb besprechen wir jeden Text inhaltlich und hinterfragen, ob es sich um die eigene Meinung handelt oder ob Themen nachgeahmt werden“, sagt Igler. Neben musikalischem und technischem Know-how lernen die Jugendlichen auf diese Art auch, dass Worte Macht haben. Weshalb man für jedes Wort, das im Tonstudio aufgenommen wird, Verantwortung übernehmen sollte. Schließlich trägt man sein Innerstes nach außen, lässt die Hörer an Gefühlen und Gedanken teilhaben, an Sehnsüchten und Sorgen, Meinungen und mehr.
Gemeinschaftsprojekte
Das Video „It doesn’t mean“ ist eines von vielen größer angelegten Projekten, die das „Treffer“-Team den Jugendlichen regelmäßig anbietet. „,Dabei geben wir das Thema vor, an dem die Teilnehmer dann in unterschiedlichen Workshops arbeiten“, sagt Treffer-Leiter Lutz Gebhard – denn: „Gemeinschaftsprojekte fördern die Identifikation mit dem Jugendhaus und stärken das Gemeinschaftsgefühl.“ Gebhards Leitungsteam-Kollegin Kristina Kilders ergänzt: „Uns ist es wichtig, dass die Jugendlichen eine Chance bekommen, die in den Workshops erarbeiteten Inhalte auch vor größerem Publikum aufführen zu können“ – denn: „Bühnenerfolge bauen Selbstvertrauen auf, schenken Anerkennung und Stolz.“
Viele junge Besucher des Treffers brauchen besonders viel Zuversicht und Sicherheit in der Ansprache, da Unterstützung und Verständnis der Eltern für ihre ambitionierten Auftritte leider nicht per se vorausgesetzt werden können. Buchheim ist ein Stadtteil mit signifikanter Sozialproblematik.
Fernab vom Alltag
Auch „Wovon wir träumen“ war ein solches Projekt, ein genreübergreifendes Musical, an dem rund 50 Jugendliche mitwirkten, Songs schrieben, Videos drehten, Tänze entwickelten, Texte verfassten, Klangcollagen produzierten – und eine rund 40-minütige Aufführung erarbeiteten. Dafür sind sie in den Herbstferien mehrere Tage in Klausur gegangen – fanden Ruhe in einem Seminarhaus in der Nähe von Solingen, fernab vom manchmal zermürbenden Alltag. „Es ist faszinierend, wie viel kreatives Potenzial, Motivation und Lebensfreude die Jugendlichen entwickeln, wenn sie losgelöst von Zwängen gemeinsam an einer Sache arbeiten“, sagt Igler, der selbstverständlich mit an Bord war.
Gerade stehen die jungen Treffer-Künstler kurz vor der Veröffentlichung ihres nächsten Großprojekts: Ende September wird ihre zweite CD mit dem Titel „Treffer Compilation 2“ erscheinen. Neben Rap, Hip-Hop und Reggae steht auch die „Hochkultur“ auf dem Programm. Das Treffer-Team organisiert regelmäßig Opern-, Museums- oder Theaterbesuche – was Jungen und Mädchen, die aus einem bildungsbenachteiligten Milieu stammen, eine Chance auf eine kulturelle Teilhabe ermöglicht. Positiver Nebeneffekt: Die Jugendlichen lernen verschiedene Berufsfelder und Künstler kennen, an denen sie sich orientieren können.
Hartes Musikgeschäft
Asan alias AKZ (15) zum Beispiel, will einmal Sänger werden. Doch durch viele Begegnungen, die ihm das Treffer ermöglichte und durch lange Gespräche mit Miguel Igler weiß er, wie hart das Musik-Business ist und dass er auch einmal einen Beruf erlernen möchte, mit dem er das nötige Geld verdient, um sich weiter seiner Leidenschaft widmen zu können. Auch das Treffer ist auf Geld angewiesen, genauer auf Spenden, die es dem Team weiterhin ermöglicht, Musikworkshops und andere professionell betreute Kultur- und Bildungsinitiativen anzubieten. Schwerpunkt des Jugendhauses ist zwar die Musikförderung, daneben können Jugendliche aber auch nähen, tanzen, im Chor singen, fotografieren, Texte schreiben, moderieren oder steinbildhauen.
Die Regelförderung sieht zwei hauptamtliche Mitarbeiter vor sowie die Miete für das heimelige Backsteinhaus. Alles andere, wie Freizeit-, Ferienangebote oder persönliche Förderung und 18 weitere Mitarbeiter und Referenten müssen über Spenden – unter anderem von „wir helfen“ und dem Rotary-Club Köln-Bonn-Millennium – finanziert werden.
Friedlich Miteinander
Den rund 100 Jugendlichen, für die das Treffer am Nachmittag zum Zuhause wird, seien Spenden von Herzen gegönnt. Denn wer einen Abend zu Besuch in der Guilleaumestraße 16 ist und Michelle, Isabell, Frank und Asan beobachtet, ahnt, dass das Team alles dafür tut, so Gebhard, „auch denen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, und die in ihrer persönlichen Entfaltung kaum unterstützt werden, Aufmerksamkeit, Förderung und Erfolg zu bieten.“ Die Jugendlichen sind der lebende Beweis dafür, dass gemeinsame kreative Aktionen der Schlüssel für ein lebendiges und friedliches Miteinander sind.
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