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Sexualisierte GewaltÜbergriffe auf Kinder passieren auch in Sportvereinen

Lesezeit 5 Minuten

Auch in Sportvereinen sind Konzepte zum Kinderschutz nötig.

Köln – Ihren ersten Übergriff erlebt Frau S. mit 13 Jahren im Hallenbad. Sie ist damals Mitglied der DLRG und übt mit jüngeren Kindern im Nichtschwimmerbecken die ersten Züge. Es macht ihr großen Spaß, erinnert sie sich. Nach der Schwimmstunde bleibt sie alleine im Becken, lässt sich noch ein bisschen treiben, bis die Duschen frei sind. Ein Mann steigt zu ihr ins Becken, nähert sich, zieht sie plötzlich an sich und taucht mit ihr unter, bis sie verzweifelt um Luft kämpft. „Der Kerl hat sich noch gefreut, dass ich mich so gewehrt habe“, erzählt Frau S. über 40 Jahre später am Telefon.

Sie sei damals „voller Wut von innen“ gewesen. Über den Vorfall sprechen geht nicht, obwohl es nicht nur einmal passiert. Als sie es versucht, sagen ihre Freundinnen: Dann geh doch nicht mehr hin. „Hätte ich mich vertreiben lassen sollen, von so einem Schwein?“, fragt sie, immer noch entrüstet, immer noch voller Wut. Frau S. will in diesem Text nicht als Opfer auftauchen, sondern auf ein Thema aufmerksam machen, das in den Köpfen kaum präsent ist: sexualisierte Gewalt im Vereinssport.

Interviews mit 72 Betroffenen

„Sport ist ein Lebensbereich, den wir mit positiven Werten verbinden: Gemeinschaft, Erfolge, Gesundheit. Da schaut man leicht über die Schattenseiten hinweg“, sagt Bettina Rulofs. Die Sportsoziologin befragte an der Kölner Sporthochschule in zwei Forschungsprojekten Menschen zu ihren Erfahrungen mit Übergriffen. Laut der Studie „Safe Sport“ aus dem Jahr 2016 erlebte mehr als ein Drittel von 1800 befragten Leistungssportlerinnen und Leistungssportlern eine Form von sexualisierter Gewalt. Es geht um ungewollte Berührungen wie bei Frau S., sexistische Sprüche, Stalking bis hin zu sexuellem Missbrauch.

In einem zweiten Projekt, an dem auch Frau S. teilnahm, forschte Rulofs mit Kolleginnen und Kollegen zu den Umständen, den Tätern und den Folgen der Übergriffe. Das europäische Wissenschaftlerteam führte 72 Interviews mit Betroffenen aus sieben Ländern. Auch die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung arbeitet zurzeit Fälle aus dem Sport auf.

Wenn Erwachsene Macht über Kinder haben

Im „Voice“-Projekt von Rulofs zeigte sich: Übergriffe kommen in allen Sportarten vor, der Sport bietet für Täter viele günstige Gelegenheiten, sich Kindern und Jugendlichen zu nähern, bei Massagen, Hilfestellungen, in der Umkleide und Dusche. „Viele berichteten uns von Übergriffen im Auto“, sagt Rulofs. Dort seien Kinder und Jugendliche auf dem Weg zu Wettkämpfen manchmal stundenlang alleine mit einem Erwachsenen. „Dort, wo Erwachsene Macht über Kinder haben, kann diese Position ausgenutzt werden.“

Die Sportsoziologin Bettina Ruolfs forscht zu sexualisierter Gewalt im Sport.

In den untersuchten Fällen des „Voice“-Projekts ist der Täter meistens männlich – und oft der Trainer. Er ist die zentrale Figur beim Training, mal der strenge Fordernde, der die Sportler und Sportlerinnen für Leistungen an ihre Grenzen treibt, mal der Kumpel, um dessen Gunst alle buhlen. Besonders der zweite Trainer-Typ ist laut Rulofs für das Umfeld schwer als Täter zu erkennen. Er nutzt die enge Bindung zu den Kindern aus, geht strategisch vor. Unangebrachte Berührungen sind von freundschaftlichen Balgereien kaum zu unterscheiden und leicht abzustreiten. Nach Rulofs Erfahrung werden Beschwerden in Vereinen noch viel zu oft bagatellisiert. Mädchen mögen sich nicht so anstellen, Jungen sollten sich halt wehren, hieße es dort.

Gemeinsam Regeln erarbeiten

„Die meisten Mitarbeitenden im Verein sind ehrenamtlich aktiv. Die Vereine sind heutzutage über jeden und jede froh, der oder die sich engagiert“, weiß Dorota Sahle vom Landessportbund NRW, dem über 18 000 Vereine angehören. Deshalb werden Probleme vielleicht eher verschwiegen, um ein engagiertes Mitglied nicht zu vergraulen. Sahle beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit sexualisierter Gewalt im Sport. Sie hält Vorträge, veranstaltet Fortbildungen und vermittelt bei akuten Fällen an Beratungsstellen.

Ihre Arbeit stößt in Vereinen durchaus noch auf Widerstand: „So etwas gibt es bei uns nicht“, wenn auch längst nicht mehr so oft wie früher. Dabei gehe es ihr nicht darum, jemanden zu verdächtigen, sondern die Vereinsmitglieder zu sensibilisieren. „Ich bestärke die Verantwortlichen, über das Thema offen zu sprechen. Wenn man Regeln erarbeitet, zum Beispiel zur Hilfestellung oder Trainingsgestaltung, trägt dies zur Sicherheit und Transparenz für alle bei.“ Insgesamt sei man in den letzten Jahren offener gegenüber ihrer Arbeit geworden, betont Sahle.

Auch Worte können übergriffig sein

Frau S. fordert Ansprechpartner in jedem Verein, flächendeckende Fortbildungen für Ehrenamtliche und die Pflicht zum erweiterten Führungszeugnis. Außerdem wirbt sie für eine Kultur des Hinschauens im Verein. Das heißt für sie: Auch Worte können übergriffig sein. Sexuelle Anspielungen seien nicht lustig und dürften nicht einfach überhört werden. Stattdessen sollen die Mithörenden einen respektvollen Umgang miteinander einfordern. „Eltern müssen zuhören, was ihre Kinder sagen“, sagt sie, die selbst zwei Kinder hat und weiß, dass so ein Vorfall traumatisierend sein kann.

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Wie massiv ein sexueller Übergriff das spätere Leben beeinflussen kann, hat auch die Soziologin Rulofs erschüttert. In ihren Untersuchungen berichteten viele Befragte von Scham- und Ohnmachtsgefühlen, aber auch schweren gesundheitlichen Problemen, Depressionen und Suizidversuchen. „Das muss uns als Gesellschaft aufrütteln. Wir haben als Erwachsene die Verantwortung, Kinder und Jugendliche zu schützen.“

So können Sie helfen

Mit unserer Aktion „wir helfen: damit unsere Kinder vor Gewalt geschützt werden“ bitten wir um Spenden für Projekte, die sich für ein friedliches und unversehrtes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in unserer Region einsetzen.

Die Spendenkonten lauten:

„wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“

Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 370 502 990 000 162 155

Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 370 501 980 022 252 225