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Therapiezentrum für FolteropferWurzeln schlagen als Lebensziel

Lesezeit 6 Minuten

Bei der Sandspieltherapie werden Erfahrungen oder unbewusste Konflikte dargestellt.

Köln – Jede Minute werden irgendwo auf der Welt 20 Menschen zur Flucht gezwungen. Sie laufen Milizen und Bürgerkriegen davon, Hunger und Durst, Umwelt- und anderen Katastrophen. Entfliehen dem Mangel an Zukunft.

65,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene sind es weltweit – 890 000 davon suchten im 2015 in Deutschland ihren Frieden. Auch Mohammed Hamdy (Name geändert).

Da war der gebürtige Afghane 17 Jahre jung, mit traumatischen Erlebnissen im Gepäck, aber ohne Papiere und Kontakte. Er kam über den Iran, Griechenland, die Balkanroute nach Passau und letztendlich nach Köln.

Scham weicht Schauder

Zu Fuß, in maroden Booten oder auf altersschwachen Lastwagen... Man kennt diese menschenunwürdigen Fluchtgeschichten, die einem die Schamesröte ins Gesicht treiben.

Doch wenn Mohamed, der sie er-, durch- und überlebt hat, davon berichtet, weicht die Scham einem Schauder. Weil man die große Not dieser Menschen nachempfindet.

Tagelange Fußmärsche, Nächte ohne Schlaf und Tage ohne Mahlzeit, Polizeischikanen, Gewaltandrohungen – sechs Monate war Mohammed unterwegs, und noch heute, zwei Jahre später, ist er auf dem Weg.

Oder: „Rastlos, aus familiären und sozialen Zusammenhängen gerissen“, wie Marcus Böhmer Mohammeds Situation beschreibt. Böhmer ist Psychologe im Therapiezentrum für Folteropfer der Caritas, das von „wir helfen“ unterstützt wird.

Allein, fremd und minderjährig

Obwohl er im Therapiezentrum, inmitten des Kölner Gereonsviertels gelegen, einen geschützten Ort gefunden hat, „wird noch viel Zeit vergehen, bis Mohammed in Köln angekommen ist, Wurzeln schlagen und wachsen kann“, sagt Böhmer. Anderes Klima, anderer Boden, andere Kultur.

UMAs – Unbegleitete minderjährige Ausländer – heißen Mohammed und geschätzte 10000 weitere junge Menschen unter 18 Jahren, die in Deutschland Schutz suchen – weltweit sollen es bis zehn Millionen sein.

Was sachlich klingt, steht für Schicksalhaftes: Viele dieser Menschen sind durch die Erlebnisse in ihrer Heimat und auf der Flucht traumatisiert, haben Mord, Kinderarbeit, Vergewaltigung, Folter, organisierte Gewalt erfahren oder wurden als Kindersoldaten eingesetzt.

Die meisten von ihnen kennen keine Sicherheit, keinen normalen Alltag – mit regelmäßigen Schulbesuchen und Mahlzeiten, ohne wirtschaftliche Not. Mohammed, ältestes von drei Kindern, war zehn Jahre alt, als ihn sein Vater zum Arbeiten auf die Straße schickte – als Schuhputzer, Handlanger eines Elektrikers. Was gerade anfiel.

Seine Eltern waren arm. Der Vater, der Gelegenheitsjobs erledigte, war wahrscheinlich selbst traumatisiert von der Gewalt in Afghanistan – „er war impulsiv und verhielt sich häufig auch unberechenbar“. Eine Schule Mohammed nie besucht, der Zugang dazu blieb ihm im Iran verwehrt. Aber er war wissbegierig, also ließ er sich von einem Afghanen unterrichten. Bis es die Arbeit auf der Straße nicht mehr erlaubte.

Eine Parabel der Flucht

Mohammeds Leben gleicht einer Parabel der Flucht: Seine Heimat Afghanistan musste er, zweijährig, mit seiner Familie verlassen. Aus Sorge und Angst vor der Taliban-Miliz flüchteten sie in den Iran, wo sie von einem Versteck zum nächsten zogen, um nicht entdeckt und des Landes verwiesen zu werden.

Die Frage, warum Mohammed sich auf Initiative seiner Mutter und mit ihrer Hilfe 2015 alleine auf den gefährlichen Weg nach Europa machte, beantwortet er knapp mit „Lebensgefahr“. Mehr kann und will er nicht erzählen.

„Zu groß wäre die Gefahr der Retraumatisierung“, sagt Böhmer. Und meint damit: Eine Wiederholung seines seelischen Traumas. Gewalt, Kinderarbeit, Armut. Lebensgefahr – und in der Folge: Alpträume und Angstzustände.

Zwei von vielen Symptomen, an denen Opfer eines Traumas leiden – egal, ob sie aus Krisen- oder Kriegsgebieten stammen, aus armen oder reichen Ländern – oder aus Köln. „Minderjährige, unbegleitete, traumatisierte Flüchtlinge sind noch weiteren, starken Belastungen ausgesetzt,“ sagt Böhmer. „Sie müssen, auf sich alleine gestellt, den Verlust von Heimat und Familie bewältigen, die erlebten Traumata verarbeiten, ohne die Sprache zu beherrschen, die Kultur und Werte zu kennen.“

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Von seiner Odyssee in Köln nach seiner Ankunft vor zwei Jahren erzählt Mohammed mit starrer Mimik: Ankunft am Kölner Hauptbahnhof, empfangen von Polizeibeamten, die in ihm aufgrund der Erfahrungen in seiner Heimat und auf der Flucht massive Ängste erzeugten, eine Nacht im Jugendamt, dann in einer Erstaufnahmeeinrichtung, dort ein Zimmer mit ihm völlig fremden Menschen, vielen Fragen und ohne Schlaf: „Was erwartet mich? Welche Pflichten habe ich? Wie kann ich mich verständigen? Sind meine Geschwister außer Gefahr?“

„Der nicht gelebte Abschied von der Familie, der uneindeutige Verlust, denn man weiß ja nicht, ob die Angehörigen noch leben, ist bei vielen Flüchtlingen, die alleine gekommen sind, ein großes Thema“, sagt Böhmer. Und eine der vielen Ursachen ihrer Angstzustände und Alpträume – nicht selten auch Depression.

„Diese bedrückende Situation wird durch die Anforderungen, die der fremde Alltag an sie stellt, und die ständige Angst vor Abschiebung intensiviert.“ Es gab eine Zeit, in der Mohammed an den meisten Tagen von seiner Trauer und von Panikattacken überflutet wurde – er Abend für Abend weinte.

Doch es gab auch einen Ort der Hoffnung: Die Zentralbibliothek, die er so oft es ging besuchte, um Bücher zu lesen und sich so Stück für Stück Deutsch beizubringen. Irgendwann traf Mohammed, hoffnungslos – „Ich wollte nicht mehr weiter leben“ – auf der Straße einen Afghanen, der seine Lage erkannte und ihm das Therapiezentrum ans Herz legte.

Dort wurde ihm geholfen, seine Ängste zu verringern und auch seinen seelischen Schmerz zu lindern. Er konnte wieder hoffnungsvoller in die Zukunft schauen.

Wieder Mut fassen

Wodurch? „Indem wir Kindern und Jugendlichen, die das Urvertrauen in die Welt verloren haben, helfen, wieder Mut und Vertrauen zu fassen“, sagt Böhmer. In die eigenen Fähigkeiten. In das Wissen über den Einfluss auf das eigene Leben. In stabile Bindungen. In Bildung und Interessen.

„Wir“, damit meint Böhmer ein 20-köpfiges Team spezialisierter Therapeuten, Sozialpädagogen und Sozialarbeiter sowie Honorarkräften, ehrenamtlichen Helfern und Dolmetschern, die daran arbeiten, dass der jeweilige Betroffene im Leben wieder Boden unter die Füße bekommt – und sich schrittweise und sehr allmählich von der Beschäftigung mit dem Trauma lösen lernt.

Wesentlich sei dabei auch, sich wieder als handlungsfähig zu erleben und mit der Trauer leben zu können. Außerdem begleitet das Team die jungen Betroffenen bei Behördengängen oder ins Gericht, hilft bei der Vermittlung von Deutschkursen, der Suche nach einem Schul- oder Ausbildungsplatz, nach einer Wohnung und Kontakten zu Gleichaltrigen. Kurz: „Wir helfen, unseren Klienten, wieder Halt zu erleben und sich ein normales Alltagsleben aufzubauen.“

Fast glücklich

Wenn Mohammed, mit plötzlich strahlenden Augen, von seinen Plänen spricht, scheinen diese Ziele Wirklichkeit werden zu können. Die Mittlere Reife hat er, dank der im Therapiezentrum freigelegten Stärken, in der Tasche, auch ein Angebot zur Ausbildung in einem Pflegeberuf.

Sein großer Wunsch: „Anderen Menschen zu helfen, so wie mir geholfen wurde“, sagt Mohammed. „Ich möchte ihnen allen etwas zurückgeben.“

Bislang finanziert sich das Therapiezentrum für Folteropfer über Bundes- und Landesmittel sowie über kommunale und kirchliche Förderungen. Die reichten aber, so Böhmer, längst nicht aus, weshalb das Team auf Spenden angewiesen sei.

„Unser großer Wunsch, wäre eine zumindest mittelfristig gesicherte Regelfinanzierung.“ Mit deren Hilfe könnte noch mehr jungen Flüchtlingen in der Kölner Region geholfen werden, einmal wie Mohammed „fast glücklich“ zu sein.