Europa müsse aufpassen, im All nicht abgehängt zu werden, sagt der deutsche Astronaut. Der 53-Jährige berichtet zudem vom Toilettengang auf der ISS.
Astronaut Matthias Maurer im Interview„Auf dem Mond kann man momentan noch kein Geld verdienen“
Herr Maurer, so ernst wie wir uns das hier auf der Erde vielleicht vorstellen, scheint es nicht zuzugehen da oben im Weltall, oder? So klingt es zumindest in Ihrem Buch über Ihre Zeit auf der ISS.
Matthias Maurer: Wenn man ein halbes Jahr im All lebt und forscht, dann braucht man natürlich auch ein bisschen Freizeit und Ablenkung. Nur wenn die Teamdynamik passt, kann man da oben zu hundert Prozent effizient die Arbeit erledigen, für die man hochgeschickt wurde. Außerhalb der Kernarbeitszeit von 7.30 Uhr morgens bis 7.30 abends haben wir deshalb auch noch ein bisschen Privatleben.
Privatleben im All?
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Genau.
Was macht man da?
Acht Stunden sind vorgesehen zum Schlafen.
Bleiben vier Stunden.
Ja, viel bleibt nicht. In der Zeit muss man dann E-Mails von der Erde beantworten. Ich habe auch viele Fotos und Erklärvideos gemacht, weil ich meine Erfahrungen teilen möchte. Gemeinsame Freizeit mit der Crew ist ebenfalls wichtig. Wir haben Freitagsabends immer beisammen gegessen und geredet, wie das so ist, wenn man sich mit Freunden trifft. Samstagsabends haben wir meistens einen Film geschaut.
Hatten Sie da oben Amazon oder Netflix?
Alles funktioniert da oben. Ich konnte Musik und Podcasts hören und Nachrichten gucken. Aber in dem Fall ruft man einfach bei der Nasa an, dann schicken die den gewünschten Film hoch.
Zur Person: Matthias Maurer, 1970 in St. Wendel im Saarland geboren, ist Materialwissenschaftler und Astronaut. Vom 11. November 2021 bis zum 6. Mai 2022 war er auf der Internationalen Raumstation ISS und damit als zwölfter Deutscher im Weltraum. Aktuell ist er für die Mond-Trainingshalle zuständig, die auf dem Gelände des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums (DLR) in Köln gebaut wird und nimmt dazu an Trainings zur Mondlandung der Nasa in Houston teil.
Das Buch: Matthias Maurer, „Cosmic Kiss: Sechs Monate auf der ISS – Eine Liebeserklärung an den Weltraum“, Droemer, 432 Seiten, 24 Euro.
In Ihrem Buch erläutern Sie auch die Tücken des Toilettengangs in der Schwerelosigkeit, feste Ausscheidungen müssten „abgekoppelt“ werden, entweder unter Zuhilfenahme von Einweghandschuhen oder mit einem besonderen Hüftschwung. Sie lösen aber nicht auf, welche Art der Abkoppelung Ihre favorisierte wurde.
Ich bin Hüftschwinger. Natürlich.
Schlafen ist auch besonders auf der ISS. Es gibt offenbar überall in den Modulen verteilt unterschiedlich bequeme Schlafplätze. Sie hatten die Chance, verschiedene zu testen.
Die Schlafgelegenheiten in einem Modul sind gleich, aber von Modul zu Modul unterscheiden sie sich schon sehr. Normalerweise, wenn vier Amerikaner oder Europäer auf der Raumstation sind, gibt es vier Kabinen in Knoten 2. Diese sind alle gleich. Aber in meinem Fall waren vier Amerikaner und ich als Europäer dort. Es fehlte also eine Kabine. Deswegen hatte mein Vorgänger mir eine neue im Columbus-Modul eingerichtet.
Das ist das Modul der Europäischen Weltraumagentur Esa.
Genau. Auf der russischen Seite in einem der ganz alten Module gibt es zwei Kabinen. Die haben Fenster, das ist der Vorteil. Dafür sind sie ein bisschen staubiger und der Ventilator rattert sehr laut. Da habe ich am schlechtesten gepennt. Zusätzlich befindet sich in dem neuesten russischen Modul eine sehr moderne, aufwändig gestaltete Kabine. Da konnte ich gut schlafen.
Sie schreiben davon in Ihrem Buch. Die hat auch ein Fenster.
Aber das ist ein Paradebeispiel dafür, wie man eine Anforderung schlecht formuliert. Die Kosmonauten hatten sich ein Fenster gewünscht. Wir denken dabei an ein Fenster nach draußen, damit man die Erde sieht. Die Ingenieure haben aber ein Fenster in die Tür gebaut, zum Gang hin, nach innen. Das ist auf der ISS ein Running Gag. Man kommt an dieser Tür vorbei und kann reinschauen, wie jemand dort schläft. Aber der Sinn und Zweck, dass man die Erde sieht, ist nicht erfüllt.
Deutsch-russisches Bettentauschen – das ist hier unten auf der Erde gerade nicht so gut vorstellbar.
Ja, das stimmt leider. Aber da oben ist man eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft. Wir waren Freunde und sind es geblieben.
Ob Sie die Freundschaft zu den russischen Kollegen würden aufrechterhalten können, haben Sie in Ihrem Buch als Sorge formuliert. Gelingt es?
Wir alle wissen, dass die russischen Medien nicht so neutral berichten können, wie wir das hier im Westen gewöhnt sind. Von daher erhalten auch unsere Kosmonautenkollegen ganz andere Informationen. Dieser Punkt war allen bewusst und wir haben das angesprochen. Wenn man nicht zu tief in das Thema Ukraine einsteigt und sich auf die Werte konzentriert, die wir alle mit hochgenommen haben: dass wir Botschafter sind für die Erde, dass wir die Erde bewahren müssen, dass Krieg keine Lösung ist – dann haben wir eine gemeinsame Basis.
Sie sind sozusagen auf dem zweiten Bildungsweg Raumfahrer geworden: Erst als einer der letzten zehn Kandidaten einer harten Auswahlprozedur aussortiert, dann doch noch als Ersatz nachgerückt und zur ISS geflogen. Jetzt gelten sie als Anwärter für die erste Mondlandung eines Deutschen. Wie wahrscheinlich ist das?
Momentan sind wir sechs europäische Astronauten, die die Möglichkeit haben, auf dem Mond zu landen. Ein Franzose, zwei Italiener, ein Däne, Alexander Gerst und ich aus Deutschland. Wir haben alle die gleiche Ausbildung und die Erfahrung, auf der ISS gewesen zu sein. Ich habe den kleinen Vorteil, dass ich der Mondspezialist bin. Ich bin für die Mond-Trainingsanlage zuständig, die in Köln gebaut wird. Diese muss kompatibel zu den Nasa-Trainings sein. Mir ist es aber nicht wichtig, der allererste Europäer auf dem Mond zu sein, sondern die Reise zum Mond überhaupt zu schaffen. Das ist mein großer Traum.
Der erste europäische Astronaut soll 2030 auf dem Mond landen. Dann wären Sie 60 Jahre alt. Gibt es ein Höchstalter für die Reise zum Mond?
Entscheidend ist, dass man körperlich gesund und fit ist. Ein Thema ist auf jeden Fall die Strahlenbelastung: Zweimal sechs Monate auf der ISS entsprechen ungefähr dem, was man auf der Erde maximal an Strahlenbelastung erhalten dürfte, wenn man im Bereich Kernkraft oder ähnlichem arbeitet. Als Astronaut darf man etwas länger fliegen. Dennoch ist die Strahlung auf dem Mond noch sechsmal stärker als auf der ISS. Ein Monat Mond ist ungefähr so viel wie ein halbes Jahr ISS. Aber je älter man ist, desto weniger Strahlenschäden nimmt man mit. Im jungen Alter mutieren die Zellen viel schneller, da ist das Krebsrisiko höher. In diesem Fall ist das Alter also ein Vorteil.
Die amerikanische Raumfahrtbehörde Nasa will mit den Artemis-Missionen den Mond neu erobern. Europas Eintrittskarte zum Mitfliegen ist Technik, die von der europäischen Raumfahrtbehörde Esa beigesteuert wird. Richtig?
Ja. Die Esa macht mit der Nasa Tauschgeschäfte. Mit europäischen Geldern wird von der europäischen Wirtschaft etwas gebaut, das sinnvoll ist für die Nasa. Als Gegenleistung erhalten wir Mitfluggelegenheiten. Im Moment geht es um zwei Bauteile: Der Argonaut ist eine Landeeinheit zum Transport von Fracht, die 2030 zum ersten Mal zum Mond fliegen soll. Das andere ist das europäische Service-Modul im Orion-Raumschiff. Das wird in Bremen gebaut und zu 50 Prozent von Deutschland finanziert. Es beinhaltet den Raketenantrieb für die Orion-Kapsel, die ganzen Gase zum Atmen und zum Betrieb der Kapsel, Batterien und was es sonst noch an Infrastruktur braucht. Ohne dieses Stück Technik aus Europa wäre die Nasa nicht in der Lage, zum Mond zu fliegen.
Das Artemis-Programm
Die amerikanische Weltraumbehörde Nasa beschreibt das unter US-Führung stehende Mond-Projekt so: „Ein innovatives und nachhaltiges Erkundungs-Programm mit kommerziellen und internationalen Partnern, um dem Menschen die Expansion in unser Sonnensystem zu ermöglichen und neues Wissen und neue Möglichkeiten zur Erde zurückzubringen.“
Artemis I: Ende 2022 wurde bei einer unbemannten Mondumrundung das neue Raumschiff Orion getestet. Mit dabei: Zwei Puppen aus Porz, sogenannte Phantome, die Strahlen-Experten des DLR zu Testzwecken dienen.
Artemis II: Soll Ende 2024 folgen. Vorgesehen ist eine bemannte Mondumrundung mit vier Astronauten, um alle Systeme des Raumschiffs mit menschlicher Besatzung im Einsatz zu testen.
Artemis III: Ist für 2025 geplant. Zwei Astronauten sollen auf dem Mond aussteigen und über die Oberfläche laufen. Die Nasa will die erste Frau und den ersten dunkelhäutigen Menschen auf den Mond bringen. Die Landung soll mit dem Starship, der Mondlander-Version von US-Milliardär Elon Musk, erfolgen. Ob es in zwei Jahren fertig entwickelt und betriebsbereit sein wird, ist nach dem fehlgeschlagenen Erstflug im April 2023 aber unklar. Eine Verzögerung ist wahrscheinlich.
Artemis IV und folgende: Eine Station auf dem Mond soll eingerichtet werden, um Ressourcen zu schaffen für eine Mission zum Mars. 2030 soll der erste Europäer auf dem Mond landen.
Die Nasa, die Esa, kommerzielle Privatfirmen wie SpaceX von Elon Musk, andere Länder wie Indien, China oder Russland – es gibt aktuell sehr viele Aktivitäten im All. Hat ein neuer Wettlauf um die Erschließung des Mondes begonnen?
Ich würde sagen, es gibt zwei Wettläufe: Das eine ist der zum Mond. China hat Ambitionen, 2029 möchte es dort mit eigenen Taikonauten landen. Die Nasa sagt, sie lasse sich von China nicht überholen. Die Chinesen sprechen nicht von einem Wettlauf. Der Mond ist die neue erste Liga. Indien möchte ebenfalls zeigen, dass es in der Lage ist, dort mitzuspielen. Der Weltraum dagegen ist derzeit das, was das Internet vor 20 Jahren war: ein neuer Markt. Der erdnahe Orbit…
… da, wo die ISS fliegt.
Wo die ISS fliegt und wo die ganzen Satelliten rumfliegen. Da findet das eigentliche Wettrennen statt. Sehr viele kommerzielle Anbieter behaupten, dass sie es besser können als die Nasa. Das ist gewollt von der amerikanischen Regierung, die auch der Meinung ist, dass die Industrie besser und schneller ist. Die Nasa soll sich auf das konzentrieren, was wirtschaftlich noch keinen Profit bringt. Auf dem Mond kann man momentan noch kein Geld verdienen. Aber in der Zukunft werden Raumstationen im erdnahen Orbit kommerziell sein.
Betrieben von amerikanischen Firmen.
Und die wollen nichts von dem, was wir in Bremen bauen. Die wollen Geld. Die sagen, sie können alles schneller und besser bauen. Das ist ein Problem für Europa. Unser Geschäftsmodell bricht weg. Das ist eine sehr große Gefahr. Die amerikanische Firma Axiom zum Beispiel kauft sich bei SpaceX Mitfluggelegenheiten zur ISS und sagt: Bei uns können Milliardäre mitfliegen, aber auch Staaten. Ein Schwede nutzt diese Möglichkeit. Ich weiß es nicht genau, aber so ein Flug wird 40 bis 50 Millionen Euro kosten. Schwedische Steuergelder, die über den Teich gehen. Eigentlich hätten sie nach Europa gehört, um dort Innovationen zu schaffen. Wir haben ungarische, türkische, polnische Astronauten, die mit Axiom fliegen wollen, anstatt mit der Esa. Dadurch wird Europa geschwächt.
Was wäre die Lösung?
Wir müssten als Europäer zusammenrücken und einen eigenen europäischen Zugang zum All schaffen. Wir brauchen eine eigene europäische Rakete und eine eigene Kapsel. Damit wir unabhängig werden. Das heißt nicht, dass wir alles selbst machen müssen. Aber wir sollten zumindest konkurrenzfähig sein und uns nicht abhängen lassen.
Der Mensch hat schon auf der Erde Zerstörung angerichtet. Jetzt drängt er mehr denn je in den Weltraum. Ist das überhaupt eine gute Idee, kann er dort sorgsamer agieren?
Wir Menschen handeln nicht immer klug, aber wir sind lernfähig. Inzwischen wissen wir, dass wir keinen Müll in die Meere werfen sollten, weil er in der Nahrungskette wiederzufinden sein wird. Im Weltraum machen wir aber den gleichen Fehler und hinterlassen dort unseren Schrott. Wir werden wohl schmerzlich lernen müssen, dass auch der erdnahe Orbit nicht unendlich ist. Nicht nur Astronauten, sondern auch all die für unser modernes Leben wichtigen Satelliten brauchen Zugang zum All. Deshalb müssen wir den Weltraum als schützenswerte Umgebung betrachten. Irgendwann sind wir auf dem Mond, dann auf dem Mars. Ich hoffe sehr, dass wir nicht immer wieder diese gleiche Fehlerkette durchlaufen.