Streit der WocheBraucht die Wirtschaft immer mehr Wachstum?
- Die Corona-Krise stürzt auch die Wirtschaft in große Schwierigkeiten.
- Die Progression verlangsamt sich, stagniert gar.
- Es stellt sich die Sinnfrage: Ist immer mehr Wachstum noch die richtige Strategie?
Contra: „Wie gesund sind die Menschen? Wie gleichberechtigt? Wie glücklich?”
von Claudia Lehnen
Wir applaudieren. Für die Pflegerinnen und Pfleger. Für die Kassiererinnen und Kassierer. Für die Mütter und Väter, die jetzt ihrem Neunjährigen das Multiplizieren beibringen, ihre 17-Jährige aufs Abi vorbereiten, ihre Vierjährige davon abhalten, die Tapete anzumalen und gleichzeitig per Skype über Unternehmensziele parlieren. Systemrelevant scheinen diese Tätigkeiten zu sein, wie wir seit der Krise wissen. Allen gemein ist, dass sie mit Menschen zu tun haben – und dass sie schlecht bis gar nicht bezahlt werden.
Unser Wirtschaftssystem zielt darauf ab, dass der Motor der Produktion auf Hochtouren läuft. Das Geld, das wir haben, stecken wir in den Handel mit Finanzen, also mit noch mehr Geld, oder in die Produktion von Waren. Was zur Folge hat, dass Broker oder Autobauer sehr viel Geld verdienen. Nicht so wichtig erscheint uns die Grundlage für all unser Wirtschaften: Ein intakter Planet, die Reproduktion, Erziehung und Gesunderhaltung der Menschen. Weshalb in Umweltschutz lange nur widerwillig investiert wurde, Krankenpfleger wenig verdienen und Hausfrauen und Hausmänner mit Kindern quasi gar nichts.
Und jetzt? Stockt der Motor. Die Weltwirtschaft wächst langsamer, stagniert mancherorts gar. Es stellt sich die Frage nach neuen Zielen unseres Wirtschaftens. Ist vielleicht gar nicht immer mehr Profit die Währung der Zukunft? Ist der Zeitpunkt gekommen, umzuschwenken auf andere Werte, neue Fragen?
Wie sozial und ökologisch sind die Lösungen, die Unternehmen für ihre Kunden bieten? Wie nachhaltig? Wie steht es um die Bildung im Land? Wie gesund sind die Menschen? Wie gleichberechtigt? Am Ende sogar: wie glücklich?
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Well-being-Index nennen das die Neuseeländer unter Regierungschefin Jacinda Ardern zum Beispiel und richten seit vergangenem Jahr ihr Handeln – und auch ihre Investitionen – danach aus, statt nur auf das Bruttoinlandsprodukt zu schielen. Die Idee dahinter: Probleme wie Kinderarmut, große soziale Ungleichheit oder Klimawandel sind nur zu lösen, wenn das Wirtschaften nicht nur immer höhere Gewinne zum Ziel hat, sondern immer auch die Frage: Wie gerecht verteilen wir das Geld? Wie gut geht es unserem Planeten? Unseren Kindern? Werden auch künftige Generationen unsere Entscheidungen richtig finden? Krankenpfleger und Erzieher gewinnen aus dieser Perspektive automatisch an Wert – und kriegen dafür nicht nur Applaus, sondern auch mehr Gehalt. Und weil Berufe im sozialen Sektor überproportional von Frauen ausgeübt werden, trägt das ganz nebenbei auch zu einer Verkleinerung des Gender-Pay-Gap bei.
Eine Wirtschaft, die nicht nur nach immer mehr Umsatz trachtet und sich notgedrungen unabhängiger machen muss von globalen Handelsketten, birgt automatisch Vorteile: Sie gewinnt an Nachhaltigkeit. Denn wo kapitalistische Konsummuster nicht mehr wie gewohnt funktionieren, floriert das Geschäft regionaler Anbieter umso besser, gewinnen traditionelle Handwerkstechniken oder nachhaltige Anbaumethoden wie Urban Farming an Bedeutung. Vielleicht führt das auch zu einem Minus an Masse. Weniger Klamotten, weniger Fleisch, weniger Spielsachen. Dafür zu einem Plus an Qualität der Produkte. Beides tut nicht nur den Konsumenten gut. Sondern ganz nebenbei auch dem Planeten.
„Pro: Ohne Wachstum gibt es keinen Impfstoff und keinen Klimaschutz”
von Thorsten Breitkopf
Die Idee einer Wirtschaft ohne Wachstum ist eine blumige Form der Sozialromantik. Ohne Wachstum ist die Existenz unserer Sozialen Marktwirtschaft undenkbar. Die Diskussion um die Notwendigkeit von Wachstum hat dabei theoretische und praktische Aspekte. Erstmal die Theorie. Wachstum schafft Gerechtigkeit. Das mag sich auf den ersten Blick paradox anhören. Aber das Ziel, die Armen besser zu stellen, könnte ohne Wachstum nur erreicht werden, wenn man irgendjemandem in diesem System etwas wegnimmt, ihn also schlechter stellt als zuvor. Ob es hohe Steuern wären oder gar Enteignungen, es wären keine vertretbaren oder gar gerechten Eingriffe.
Die Annahme, dass es allen, insbesondere in unserem Land, gut genug geht, ist falsch. Fragen Sie wahllos Menschen auf der Straße und Sie werden feststellen, dass ein Großteil eine Besserung der eigenen wirtschaftlichen Lage wünscht, etwa in Bezug auf Wohnen oder Leben. Diesen Wunsch ohne schädliche Verteilungskämpfe zu erfüllen, ist nur mit einem kontinuierlichen Wachstum möglich.
Wachstum schädigt Klima und Gesundheit, sagen die Wachstumsgegner. Das Gegenteil ist der Fall. Nur mit einem wirtschaftlichen Zuwachs ist es möglich, fortschrittlichere Produkte zu erzeugen, die umweltfreundlicher sind. Auf die stinkende Dampflok folgte die saubere E-Lok. Gewinnanreize führten dazu, den ersten FCKW-freien Kühlschrank zu entwickeln. Sparsame Autos oder Waschmaschinen wurden deshalb auf den Markt gebracht, weil deren Produzenten damit mehr Geld verdienen als mit Energieschleudern. Dieses Gewinnstreben führt zu Wachstum und Klimaschutz, nicht einem von beiden.
Damit dieser Gleichschritt nicht aus dem Takt gerät, ist natürlich eine notwendige Bedingung zu erfüllen. Und zwar mit den Gesetzen der Ökonomie. Der Verbrauch oder die Schädigung von Umwelt muss „eingepreist“ werden. CO2 -Zertifikate sind ein gutes Beispiel und nur ein Anfang. Wer weniger CO2 emittiert, muss weniger davon kaufen, schont also die Umwelt und gleichzeitig seinen Geldbeutel. Sein Wachstumsstreben nützt also beiden Zielen.
Die aktuelle Corona-Krise zeigt ganz praktisch, wie essenziell Wachstum für uns alle ist: Auf der Welt forschen Pharmafirmen derzeit um die Wette, nach einem Impfstoff, nach Medikamenten für die Behandlung von Infizierten, nach Schutz. Die Akteure, die das anstreben, tun dies vielleicht auch aus Idealismus. Sie tun es aber auch, um zu wachsen. Der Anreiz, mehr Geld zu verdienen, lässt sie Tag und Nacht forschen. Denn es ist klar: Wer einen Impfstoff als Erster auf den Markt bringt, der hat die Chance, reichster Mensch des Planeten zu werden. Am Ende aber werden neben den Patienten (oder denen, die es dank Impfstoff nie geworden sind) viele Menschen von dieser wachstumsgetriebenen Innovation profitieren. Denn einer allein kann keine Milliarden Impfstoffe herstellen.
Dieses überlebensnotwendige Wachstum aber braucht eines als Voraussetzung: den freien Handel. Nur wenn jeder Akteur auf der Welt das macht, was er am besten kann, werden wir alle gemeinsam zu mehr Wohlstand und einem saubereren und gesünderen Planeten kommen.