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Interview

Deutscher Ex-Botschafter in China
„Auf die maßlosen Zölle der USA haben die Chinesen hart, aber besonnen reagiert“

Lesezeit 9 Minuten
SUQIAN, CHINA - DECEMBER 14: Workers make surfboards for export at a factory on December 14, 2024 in Suqian, Jiangsu Province of China. PUBLICATIONxNOTxINxCHN Copyright: xVCGx 111536703429

Chinesische Arbeiterinnen in Suqian mit Stand-Up-Paddle-Boards, die in China für den Export produziert werden.

Der früher deutsche Botschafter in China Michael Schaefer über Trumps Zoll-Strategie, eine bipolare Weltpolitik und die Chancen von Europa, ein wichtiger Machtfaktor zu werden.

Herr Schaefer, die USA haben Einfuhrzölle für Waren aus China von bis zu 145 Prozent erhoben, Donald Trump will so den Aufstieg Chinas zur größten Wirtschaftsmacht stoppen. Wie nehmen Sie die Auswüchse der amerikanischen Zollpolitik wahr?

Michael Schaefer: Das Auf und Ab von Drohungen, Zöllen und Rücknahmen ist charakteristisch für Trumps erratische Politik. Er möchte seinen MAGA-Anhängern (Make America Great Again, die Red.) beweisen, dass er durch Druck für Amerika günstige Ergebnisse erzielen kann. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, ob es sich um Partner oder Gegner handelt. Global ist dies Teil einer dramatischen geopolitischen Transformation. Sie hat sich schon seit Jahren angedeutet, aber wir Europäer haben sie nie wirklich ernst genommen.

Meinen Sie damit, dass die USA vor allem China als Hauptkonkurrenten im Blick hat?

Viele haben nach dem Zerfall der Sowjetunion geglaubt, dass sich die bipolare Welt in eine multipolare Welt mit verschiedenen Kraft- und Machtzentren entwickelt. Tatsächlich leben wir aber immer noch in einer bipolaren Welt: USA und China, das die Sowjetunion ersetzt hat, agieren als Großmächte auf einer Ebene und stehen in einem unmittelbaren Machtkonflikt. Alle anderen Mächte haben eher regionale Bedeutung – das gilt für Europa, für Russland, für die größeren aufstrebenden Mächte des globalen Südens wie Indien, Brasilien, oder Mexiko. In den USA gibt es einen parteiübergreifenden Konsens, dass China der Hauptgegner ist.

Ein Porträt des Interviewpartners

Michael Schaefer war 35 Jahre im Auswärtigen Dienst – auch als Botschafter: Von 2007 bis 2013 vertrat er die Bundesrepublik Deutschland in China.

Warum sagen Sie „noch“, wenn Sie von zwei Supermächten sprechen?

Mittelfristig, das heißt in 20 oder 30 Jahren, werden wir voraussichtlich eine multipolare Welt erleben. Dann werden Länder wie Indien oder Brasilien im Konzert der Großen mitspielen – auch Europa könnte das. Ob Europa allerdings geopolitisch eine Rolle spielt, wird davon abhängen, ob und wie wir uns neu erfinden können.

Europa hat mit den lateinamerikanischen Staaten das Wirtschaftsabkommen Mercosur über eine der größten Freihandelszonen der Welt abgeschlossen. Experten werten das als wichtigen Schritt. Hat Europa hier zu lange geschlafen und China gewähren lassen?

China kann sich dank seines repressiven innenpolitischen Ein-Parteien-Systems schneller auf globale Veränderungen einstellen als demokratische Länder. Es ist gleichzeitig eine strategisch denkende und handelnde Macht und hat seinen Prozess der Diversifizierung der Handelsbeziehungen schon begonnen, als Europa noch nicht einmal darüber nachgedacht hat. Wir Europäer folgen noch zu oft nationalen Interessen und sind deshalb unfähig, zu schnellen und guten Ergebnissen zu kommen. Mercosur ist ein gutes Beispiel: Das wird seit 20 Jahren verhandelt. Am Ende ist es immer wieder gescheitert – zum Beispiel am Veto der italienischen oder französischen Landwirte oder anderen einzelstaatlichen Interessen.

Sie fordern schon lange, die EU müsse grundlegend reformiert werden und weg vom Einstimmigkeitsprinzip …

Bereits mit der Erweiterung der EU auf 27 Staaten hätten wir substanzielle innere Reformen ergreifen müssen. Die Ersetzung des Einstimmigkeitsprinzips durch Mehrheitsabstimmungen ist eine notwendige Maßnahme. Nur so können wir effizient und inhaltlich auf höchstem Niveau arbeiten. Ein anderer Weg ist die Bildung von Avantgarden mehrerer Mitgliedstaaten, die bereit und willens sind, die EU auf die nächste Stufe der Integration zu heben. Sie gehen voran und die Tür für Partner, die das noch nicht können oder wollen, bleibt offen. Der Schengen-Raum und der Euro sind gute Beispiele, wo das funktioniert hat.

Für viele Länder der Erde ist Europa als Handelspartner wegen seiner freiheitlichen Verfassungen attraktiv. Welche Chancen sehen Sie für Europa im Wettbewerb mit autokratischen Ländern wie China und Demokratien, die sich aktuell wie Autokratien gebärden, wie die USA?

Europa ist das beste Beispiel für gelungene regionale Integration zwischen Staaten, die über Jahrhunderte zerstritten waren. Aufbauend auf einer gemeinsamen Wertebasis und dem Ausgleich nationaler Interessen wurde eine gemeinsame Politik entwickelt, die uns Sicherheit und Wohlstand gebracht hat. Das wird von vielen Ländern in der Welt bewundert. Außerdem gilt Europa global immer noch als ehrlicher „Broker“, ein Vorteil gegenüber „America First“ und „China First“.

Zudem ist die EU auch ein starker Wirtschaftsmarkt …

…insgesamt sogar der größte weltweit. Nur nutzen wir diese wirtschaftliche Kraft selten effizient, weil wir nationalen Interessen Vorrang einräumen. Zudem erfordert geopolitische Macht immer auch eine sicherheitspolitische Stärke. Hier hat Europa das größte Defizit, da wir uns jahrzehntelang auf den amerikanischen Schutz verlassen haben. Wir haben es versäumt, eine europäische Sicherheitsstrategie zu entwickeln, es fehlt uns am Verteidigungswillen und eigenen Verteidigungsfähigkeiten. Jetzt, wo sich ein amerikanischer Präsident aus der Verantwortung der transatlantischen Allianz zurückzieht, wachen die Europäer erschrocken auf und stellen fest, dass sie ihre eigene Sicherheit nicht gewährleisten können.

Ich bin manchmal überrascht, dass viele immer noch nicht begreifen, dass dieser Krieg auf die liberalen Demokratien als Ganzes zielt – es geht Putin um eine neue Weltordnung
Michael Schaefer

Das weiß auch Wladimir Putin. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass er seine imperialistische Politik vorantreibt, solange Europa nur bedingt abwehrbereit ist?

Ich schätze sie als sehr hoch ein. Putin geht es um die Wiederherstellung des großrussischen Reichs. Zum anderen will er das System liberaler Demokratien zerstören oder zumindest stark schwächen. Beide Ziele wird er nicht aufgeben. Ich bin manchmal überrascht, dass viele immer noch nicht begreifen, dass dieser Krieg auf die liberalen Demokratien als Ganzes zielt – es geht Putin um eine neue Weltordnung. Der russische Präsident hat die europäische Sicherheitsarchitektur, die im Kalten Krieg in Abstimmung mit der Sowjetunion geschaffen wurde, zerstört. Er wird weiter gehen, scheint aber militärisch momentan nicht imstande, Europa anzugreifen. Es wird vorerst wohl bei Nadelstichen und hybriden Aktionen bleiben.

China's President Xi Jinping arrives for a meeting with Vietnam's National Assembly Chairman Tran Thanh Man in Hanoi on April 14, 2025. Chinese leader Xi Jinping warned that protectionism "leads nowhere" and that a trade war would have "no winners", state media said, as he arrived in Vietnam on April 14 on the first leg of a Southeast Asia tour. (Photo by Athit Perawongmetha / POOL / AFP)

Chinas Präsident Xi Jinping

Welche Rolle spielt China als Partner Russlands und doch Außenstehender im Ukraine-Krieg?

China ist der große Profiteur der Entwicklung. Durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Russland die Amerikaner in Europa gebunden; das hält Washington davon ab, sich auf den eigentlichen Gegner China zu fokussieren. Peking unterstützt Moskau allerdings nur passiv durch eine „Sowohl als auch“-Politik: Es liefert „dual use“-Güter, die zivil wie militärisch nutzbar sind, achtet aber darauf, sich nicht zum militärischen Partner Russlands zu machen. Bei allen gegen Moskau gerichteten UN-Resolutionen hat China sich wie Brasilien, Indien, Mexiko oder Südafrika enthalten. Peking hat es so verstanden, sich politisch auf die Seite des globalen Südens zu stellen – und dadurch an Kredit gewonnen. Trumps protektionistisch-nationalistische Politik ist eine Steilvorlage für Peking, um den globalen Süden zu gewinnen. Ein Beispiel war Xi Jinpings Auftritt in Davos, als er nach Trumps Absage an den Multilateralismus und die Globalisierung bekräftigte, dass Peking sich als Verteidiger des multilateralen Wirtschaftssystems und der Globalisierung sieht.

China hatte auch angeboten, zwischen den Kriegsparteien zu vermitteln.

Zusammen mit Brasilien und anderen BRICS-Staaten. Darauf ist niemand eingegangen, vor allem die USA nicht. Trump ist mit dem Ziel als US-Präsidentschaftskandidat angetreten, die internationalen Konflikte zu beenden. Er will unbedingt den Friedensnobelpreis gewinnen. Für die USA kommt China als Vermittler aus geopolitischen Interessen nicht infrage.

Trumps vollmundigen Vorhersagen, den Krieg in der Ukraine und den in Gaza schnell zu beenden, erscheinen unrealistischer denn je
Michael Schaefer

Von seinem Ziel, den Friedensnobelpreis zu bekommen, dürfte Trump weit entfernt sein, oder?

Er entfernt sich immer weiter davon. An allen Fronten. Seine vollmundigen Vorhersagen, den Krieg in der Ukraine und den in Gaza schnell zu beenden, erscheinen unrealistischer denn je.

Sie haben dem Westen immer wieder vorgeworfen, naiv mit China umzugehen. Weil die verantwortlichen Politiker nicht auf die Kultur des Landes achten?

Wenn man länger in China gelebt hat, begreift man, dass eine Gesellschaft, die in 4000 Jahren nur eine Top-down-Herrschaft erlebt hat, sich davon nicht so einfach lösen kann – der Herrscher wird in einem traditionell autokratischen System so lange akzeptiert, wie er als benevolenter Diktator angesehen wird. Das ist Teil des tief verankerten konfuzianischen Denkens. In den meisten westlichen Ländern gab es dagegen seit Deng Xiaopings Politik der Reform und Öffnung die Überzeugung: Wenn China sich wirtschaftlich öffnet, dann passiert etwas Ähnliches wie in Osteuropa – politischer Wandel durch Handel. Das war ein Trugschluss. China hat sich in den vergangenen 30 Jahren wirtschaftlich signifikant entwickelt: weg vom Billigproduktions- und hin zum Innovationsland. Politisch aber hat sich nichts geändert. Im Gegenteil.

Die deutsche Politik hat in den vergangenen Jahrzehnten vor allem den Schulterschluss mit Chinas Wirtschaft gesucht, Kanzlerin Merkel hat Menschenrechtsverletzungen eher leise angesprochen, die grüne Außenministerin Annalena Baerbock deutlich lauter – sie hat Xi Jinping offen als Diktator bezeichnet. Wie schauen Sie auf eine Politik, die versucht, einerseits Handel zu betreiben und andererseits die Verletzung von Menschenrechten in China nicht außer Acht zu lassen?

Angela Merkel hat in all ihren Gesprächen in China das Thema Menschenrechte angesprochen. Aber sie hat das im vertraulichen Rahmen und nicht vor laufenden Mikrofonen getan. Das hat ihr Kritik eingebracht, war aber durchaus erfolgreich, denn wir haben auf diese Weise zahlreiche Menschenrechtsfälle diskret lösen können. Wichtig ist es, nicht permanent verbal aufzurüsten, dann aber nichts zu tun, wenn die andere Seite unsere roten Linien überschreitet. Solche roten Linien gibt es zum Beispiel in der Menschenrechtspolitik, bei der Behinderung von Schifffahrtswegen im südchinesischen Meer oder bei Chinas Taiwan-Politik. Es braucht klare rote Linien und eine glaubwürdige Reaktion bei deren Überschreiten – aber ansonsten eine Konzentration auf gemeinsame Interessen. Laut zu reden und nicht zu handeln, ist nicht zielführend.

Für wie hoch schätzen Sie aktuell die Gefahr einer militärischen Intervention Chinas in Taiwan ein?

China hat drei vitale Interessen, bei deren Verletzung Peking nicht zögern würde, militärisch einzugreifen: Tibet, Hongkong und Taiwan. Taiwan ist ein zweischneidiges Schwert für Peking. Auf der einen Seite steht der Anspruch, dass Taiwan Teil von Festlandchina ist; zum anderen besteht ein gegenseitiges wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis. Taiwan ist der mit Abstand größte und wichtigste Wirtschaftspartner in der Region, für einige Hightech-Produkte sogar weltweit. Mit den permanenten Drohgebärden will China seine Macht zeigen – vor allem Richtung Taipeh, aber auch gegenüber USA und anderen asiatischen Nachbarn.

Ich denke, dass China derzeit nicht beabsichtigt, Taiwan militärisch anzugreifen; ich bin aber überzeugt, dass Xi Jinping nicht zögern würde, zu militärischer Gewalt zu greifen, wenn der Status quo von außen verändert und Taiwan seine Unabhängigkeit erklären würde.

China hat derzeit genug innenpolitische Probleme: Das Wirtschaftswachstum geht zurück, die Arbeitslosigkeit steigt.

China hat schon seit längerem Schwierigkeiten, den informellen Gesellschaftsvertrag – Akzeptanz der Entscheidungen der politischen Führung gegen Partizipation am wachsenden Wohlstand – zu erfüllen. Als man 2010 erkannte, dass das Binnenwachstum nicht ausreicht, um genügend Wachstum zu generieren, hat Peking die Strategie der neuen Seidenstraße entwickelt: zwei Korridore, eine Landbrücke über Zentralasien nach Europa und ein Seeweg über Afrika nach Europa, sollten neue Märkte und Arbeitsplätze schaffen. So wollte man das Defizit sinkender Binnenproduktion auffangen. Das ist teilweise gelungen, teilweise nicht.

China hat bei der Umsetzung dieser Strategie viele Fehler gemacht. Das hat Vertrauen gekostet und Misstrauen erhöht. Die Mehrzahl der Länder des globalen Südens will sich weder vor den amerikanischen noch vor den chinesischen Karren spannen lassen.

Eine Chance für Europa, zumal Trump mit seiner Welt- und Zollpolitik nicht nur China täglich provoziert und Vertrauen verspielt, oder?

Definitiv. Auf die maßlosen Zölle der USA haben die Chinesen hart, aber besonnen reagiert. Gleichzeitig nehmen die kooperativen Signale aus Peking in Richtung Europa zu. Das kann nicht überraschen, denn China braucht Europa ebenso wie Europa China: als Markt, aber auch als Partner bei der Lösung globaler Probleme wie dem Klimawandel. Das ist eine Chance für Europa. Es muss seine eigenen Interessen und Werte klar identifizieren und mit Selbstbewusstsein und Augenmaß in Verhandlungen einbringen, sowohl gegenüber Washington als auch Peking. Dabei geht es nicht um Äquidistanz. Aber in der gegenwärtigen Situation ist Europa der wichtigste Verteidiger der liberalen Demokratie in der Welt.


Zur Person Michael Schaefer war 35 Jahre im Auswärtigen Dienst, von 2007 bis 2013 vertrat er die Bundesrepublik Deutschland als Botschafter in der Volksrepublik China. Von 2013 bis 2020 war er Vorsitzender des Vorstands der BMW Foundation. In New York trug er auf seinem ersten Posten zum Zustandekommen der „Agenda für den Frieden“ von UN-Generalsekretär Kofi Annan bei. In Singapur förderte er deutsche Wirtschaftsinteressen in Südostasien. Vier Jahre lang vertrat er in Genf die Bundesrepublik Deutschland in der Menschenrechtskommission.

Anfang der 2000er Jahre setzte er sich als Leiter des Sonderstabs Westlicher Balkan für den demokratischen Wandel und den Wiederaufbau in der krisengeschüttelten Region ein. Unter dem ehemaligen Bundesaußenminister Joschka Fischer war er von 2002 bis 2007 Politischer Direktor des Auswärtigen Amtes und verhandelte die Grundzüge des Iran-Nuklearabkommens.

Der Volljurist studierte in München, Genf und Heidelberg. Er promovierte am Max-Planck-Institut für Völkerrecht in Heidelberg und erhielt eine Ehrenprofessur durch die China University for Political Science and Law.