Digitale Gesundheit„Es besteht die Hoffnung, überhaupt nicht mehr krank zu werden“
- Laut Mediziner André Nemat birgt Künstliche Intelligenz die Hoffnung, unseren Geist unsterblich zu machen
- Außerdem habe Google das Arzt-Patienten-Verhältnis nachhaltig verändert, so eine These.
- Die Medizin wandle sich aktuell von der Behandlung zur Verhinderung von Krankheiten, sagt André Nemat.
Köln – André Nemat ist Gründer und seit 2018 Geschäftsführer des Institute for Digital Transformation in Healthcare an der Universität Witten/Herdecke, dessen Ziel eine humanzentrierte Digitalisierung der Gesundheitsbranche ist. Im Interview spricht der promovierte Mediziner Nemat über die Vorstellung, den menschlichen Geist mit dem Internet zu verknüpfen, die Prävention von Krankheiten und die Gefahr, dass Krankenkassen unser Verhalten beeinflussen werden.
Herr Nemat, verlängert der digitale, technologische Fortschritt unser Leben?
Nein, aber er kann die Gesundheitsversorgung verbessern. Er kann dafür sorgen, dass ich längere Zeit gut und gesund lebe. Allerdings erhoffen sich Menschen von ihm genauso viel, wie sie sich vor ihm fürchten. Auch weil sich digitale Technologien mit einer so unheimlichen Dynamik entwickeln, dass wir oft das Gefühl haben übermannt zu werden.
Zur Person
André Nemat, 1965 geboren, ist Gründer und seit 2018 Geschäftsführer des Institute for Digital Transformation in Healthcare an der Universität Witten/Herdecke, dessen Ziel eine humanzentrierte Digitalisierung der Gesundheitsbranche ist. Der promovierte Mediziner besitzt mehr als 15 Jahre klinischer Erfahrung als Chefarzt in der Thoraxchirurgie und baute zwei Lungenzentren auf.
Inwiefern?
Wir haben es zum Teil mit sogenannten exponentiellen Technologien zu tun. Jeder Mensch kann sich vorstellen, wie weit er ungefähr geht, wenn er 30 lineare, also gleich große Schritte machen soll. Nun schätzen Sie mal, wie weit Sie gehen würden, wenn Sie 30 exponentielle Schritte machen.
Bis zum amerikanischen Kontinent?
Etwa 28-mal schaffen Sie es mit 30 exponentiellen Schritten um die Erde. So kann man sich auch den digitalen Fortschritt vorstellen: In regelmäßigen Abständen verdoppelt sich die Rechenleistung von Computern bei gleichzeitiger Reduktion der Kosten. Wir schaffen es als Gesellschaft kaum noch, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten.
Was heißt das für die Digitalisierung der Gesundheitsbranche?
Wir müssen zunächst zwischen dem reinen technischen, eher linearen Fortschritt auf der einen und digitalen Prozessen auf der anderen Seite unterscheiden. Das eine bedeutet, dass die Untersuchungsgeräte immer moderner und genauer werden. Das andere bedeutet eine datengetriebene Veränderung bislang analoger Prozesse und das Entstehen vollkommen neuer Möglichkeiten – auf der Basis massenhafter Auswertung und Interpretation von Daten durch Algorithmen und lernenden Maschinen, welche aufgrund der exponentiellen Entwicklung von Rechenleistung immer perfekter werden.
Open Network Healthcare
Am 19. November findet im studio dumont, Breite Straße 72, das „Open Network Healthcare“ statt. Neben André Nemat kommen weitere Experten: Boris Otto vom Fraunhofer-Institut, Software-Unternehmer Martin Kiel und Emily Andreae, Vorsitzende des E-Health-Arbeitskreises beim Branchenverband Bitkom. Außerdem präsentieren sich Start-ups aus dem Gesundheitsbereich.
Thema ist der Digitale Zwilling: Er bildet die Summe aller Gesundheitsdaten, die über einen Menschen erhoben werden können. Dazu zählen neben aktuellen Vitaldaten, die mit Hilfe von Smartphones und Wearables konstant gesammelt werden, auch umfangreiche klinische und genetische Daten aus bisherigen und zukünftigen Untersuchungen. Auf dieser Basis entsteht unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz ein detailliertes elektronisches Abbild des Patienten – ein Avatar, der stellvertretend für sein reales Vorbild auf den virtuellen Untersuchungstisch gelegt werden kann. Digitale Zwillinge sind der Schlüssel zu einer personalisierten Medizin.
Karten für die Veranstaltung kosten 49 Euro und sind zeitnah bei Kölnticket verfügbar. (hge)
Die Versprechen, die etwa mit Künstlicher Intelligenz einhergehen, sind riesig, die Hoffnung, mit ihrer Hilfe bislang unheilbare Krankheiten zu heilen oder überhaupt nicht mehr krank zu werden, ebenfalls. Das geht bis zur Vorstellung, dass wir unseren Geist irgendwann mit dem Internet verknüpfen können und er nicht mehr stirbt – ewiges Leben also.
Ist der Zeitpunkt dafür nahe?
Ich bin überzeugt, dass Sie und ich das nicht mehr erleben werden. Die Veränderungen, die die Gesundheitsversorgung bereits erfahren hat, sind aber heute schon spürbar: Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden vom uninformierten Patienten, der im Grunde Medizin nur über sich ergehen lassen muss, hin zu einem gut informierten Patienten, der vermehrt in der Lage ist, mit Medizinern auf Augenhöhe zu sprechen. Der erstmalige Arztbesuch ist heute ja bereits die Einholung einer Zweitmeinung. Die Erstmeinung haben wir uns bereits bei Dr. Google geholt. Das verändert das Arzt-Patienten-Verhältnis. Ebenso beobachten wir vermehrt einen Wandel von der Behandlung von Krankheiten hin zur Prävention von Krankheiten.
Wir werden gar nicht mehr krank?
Aktuell lautet die Aufgabe von Medizinern: Finden und Beheben von Krankheiten. Beim Genom des Menschen handelt es sich nun aber um die größte Datenplattform der Welt. Früher haben wir wenig messen können: Blutdruck, Puls, Körpergröße, -temperatur und -gewicht, hinzu kamen einige Laborwerte. Das Wissen über den Menschen war eng begrenzt. Inzwischen haben wir seine genetischen Daten, Informationen über sein Verhalten, das über Smartphones, Smartwatches und andere Wearables gesammelt werden kann. Nutzen wir diese Daten, indem wir sie analysieren, mit anderen Daten kombinieren und mit Hilfe von maschinellem Lernen die richtigen Schlüsse ziehen, besteht die Hoffnung, die Aufgabe der Mediziner neu zu definieren: Krankheiten zu entdecken, bevor sie ausbrechen, auf früheste Anzeichen derart zu reagieren, dass Krankheiten verhindert werden. Eine echte Gesundheitsversorgung also, in der der Mensch präzise und personalisiert behandelt wird – und nicht als statistische Größe.
Sind Daten der Kern der Digitalisierung der menschlichen Gesundheit?
Sie sind die Grundlage für die Hoffnung, das Leben der Menschen zu verbessern. Zusammen mit Algorithmen, welche Daten interpretieren. Und den Regeln, nach denen wir die Algorithmen programmieren und trainieren lassen.
Was halten Sie von der Aussage, Daten seien das Öl des 21. Jahrhunderts?
Der Vergleich hinkt: Öl ist endlich, Daten sind es nicht. Zudem ergibt sich der Wert einer Datenplattform erst aus einer sehr großen Anzahl von Nutzern kombiniert mit der Qualität der durch sie entstandenen Algorithmen. Andere bezeichnen Daten als neues Gold. Auch dieser Vergleich ist schief: Goldschürfer durften das Goldnugget, das sie fanden, behalten. Wem gehören nun die Daten, die erhoben werden: Den Geräteherstellern, den Unternehmen, die sie sammeln, oder doch uns selbst? Diese Fragen müssen am Anfang der Diskussion um digitale Gesundheit stehen. Schließlich handelt es sich um die sensibelsten Daten, die es von uns geben kann.
Wie lautet Ihre Antwort?
Ich meine, unsere Daten gehören uns. Bürger sollten eine unumstößliche Souveränität über ihre Gesundheitsdaten besitzen. Dazu gehört auch die freie Entscheidung, ob und wofür diese Daten von welchen Akteuren genutzt werden dürfen.
Damit Künstliche Intelligenzen auf Bildern lange vor Menschen Krebsstrukturen erkennen, müssen sie mit Daten gefüttert werden und aus ihnen lernen. Wer länger leben will, ist also schlau, seine Daten anonymisiert zu spenden, nicht wahr?
Das Versprechen liegt in den Daten und wir brauchen sie, um die Krankenversorgung zur Gesundheitsversorgung zu wandeln. Aber auf dem Weg dorthin kann viel Schindluder getrieben werden. Nur in einer idealen Welt kommen die Daten dem Menschen zugute, ohne dass ihm auch Nachteile entstehen.
Warum diese Einschränkung?
Weil wir nicht in einer idealen Welt leben. Die technischen Möglichkeiten zur Nutzung unserer Daten haben heute vor allem die großen Technologieunternehmen aus den USA – Amazon, Apple, Facebook und Google. Sie haben die Kapazität und Kompetenz, die von ihnen gesammelten Daten aufzuarbeiten und daraus Produkte zu entwickeln. Aber kann ich erwarten, dass ein solches kommerzgetriebenes Unternehmen ein gutes Gesundheitsunternehmen ist? Ich bin skeptisch, denn altruistische, menschenfreundliche Aspekte stehen dort nicht im Vordergrund.
Nicht nur die Tech-Unternehmen nutzen unsere Gesundheitsdaten. Viele Krankenkassen prüfen die Möglichkeit von Rabatten, wenn ihre Mitglieder Einblick in Fitnessdaten gewähren. Die Schweizer Helsana hat bereits einen solchen Tarif. In den USA gibt es eine Zahnzusatzversicherung, bei der sich der Tarif danach richtet, wie regelmäßig sich der Versicherte die Zähne putzt – überprüft wird das mit einer smarter Zahnbürste. Wer profitieren will, muss Abstriche bei der Privatsphäre machen.
Die Nutzer sollen motiviert werden, sich wohlkonform zu verhalten. Es sei ja schließlich zum Guten des Kunden, heißt es. Das stimmt womöglich heute noch, aber es kann genauso ins Negative umgekehrt werden. Nach anfänglichem Belohnen kann unangepasstes Verhalten irgendwann mit Sanktionen belegt werden. Das geht vom Streichen der Rabatte über höhere Prämien bis schlimmstenfalls zum knallharten Ausschluss aus der Krankenkasse. Die Verantwortlichen sagen heute, das würden wir nie machen, aber es gilt: Was theoretisch gemacht werden kann, wird schließlich auch umgesetzt.
Das klingt schrecklich dystopisch. Müssen wir das so über uns ergehen lassen?
Wenn ich nicht der Meinung wäre, dass wir die Zukunft der Gesundheitsbranche mitgestalten können, säße ich nicht hier. Wir sind nicht dazu verdammt, passiv zu konsumieren. In der Debatte um die Zukunft unserer Gesundheit können wir es schaffen, dass alle Akteure, die menschliche Daten sammeln, gemäß hohen moralischen und ethischen Ansprüchen arbeiten.
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Tatsächlich bieten die neuen Technologien das Potenzial zur Automatisierung. Aber die menschliche Interaktion wird nicht ersetzt. Roboter und Software ergänzen und leisten zunehmend eine Hilfestellung für menschliche Mediziner. Auch ich setze in der Lungenchirurgie bereits Roboter als Assistenzsysteme ein, aber ich bin dabei im selben Raum und habe unmittelbaren Zugang zum Patienten. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist meiner Überzeugung nach nicht digitalisierbar und wir sollten, bei aller Hoffnung in die Wirksamkeit der Technologien, den Menschen stets in den Mittelpunkt stellen.