Jahrelang wurde in NRW niederländisches Gas verwendet. Diese Ära geht zu Ende. In Groningen kämpfen die Menschen mit den Folgen. Ein Ortsbesuch.
Gas floss jahrzehntelang nach NRW1600 Erdbeben in Groningen – „Man muss psychisch stark sein, um so zu leben“
Wenn Landwirt Jan Wigboldus aus der niederländischen Provinz Groningen von seinem Wohnhaus zu den Kühen will, muss er an seinem schwer beschädigten Stall vorbei. Das Dach ist gewellt, Balken stützen eine dreißig Meter lange Mauer. Das Holz ist grau und verwittert. „Sie stehen schon über ein Jahrzehnt da“, sagt Wigboldus. Seit sieben Generationen befindet sich der alte Hof im Besitz seiner Familie, wurde liebevoll gepflegt. Doch seit geraumer Zeit ist das Bauernhaus in schlechtem Zustand: Farbe blättert von den Fensterrahmen, überall durchziehen Risse das Gemäuer. Familie Wigboldus wohnt in Garmerwolde, einem Dorf mit weniger als 500 Einwohnern nahe der niederländischen Stadt Groningen. In einem Erdbebengebiet.
Zehntausende Häuser sind unsicher
Um den Grund dafür zu finden, muss man 60 Jahre zurückgehen. Damals wurde unter dem Ackerland der Polder-Provinz ein großes Gasfeld gefunden. Die Entdeckung brachte den Niederlanden goldene Zeiten, mit dem Gas aus Groningen wurden viele Milliarden verdient. Deutschland zählte jahrelang zu den Hauptabnehmern. Doch der Preis, den Menschen wie Wigboldus dafür zahlen müssen, ist hoch.
Durch die Gasförderung sank der Druck im Untergrund, 1600 Erdbeben waren bislang die Folge. Hunderttausende Schadensmeldungen von Hausbesitzern gingen ein, Zehntausende Häuser wurden als potenziell unsicher eingestuft, Hunderte abgerissen. Der Wohnungsmarkt brach zusammen. Entschädigungen lassen auf sich warten. Die gesundheitlichen Probleme der Menschen in der Provinz häufen sich.
Die Regierung entschuldigt sich mehrfach bei den Opfern
Das, was in Groningen geschah, war ein „Alptraum“, eine „Katastrophe in Zeitlupe“, sagte der inzwischen ehemalige Ministerpräsident Mark Rutte. Die Regierung entschuldigte sich mehrfach offiziell bei den Opfern. Ein Direktor von NAM, der Tochtergesellschaft von Shell und ExxonMobil, die für die Gasförderung zuständig ist, räumte bereits 2015 ein, dass „die Erdbeben vielen Menschen Probleme bringen“. Es wurden Milliarden zur Schadensbegrenzung ausgegeben, auf Verbesserungen warten viel Menschen dennoch bis heute.
Jan Wigboldus kann mit bloßen Händen Steinbrocken aus der Wand seines Stalles nehmen. Er zeigt auf zentimeterbreite Risse, die provisorisch mit Bauschaum gefüllt sind. „Das machen wir selbst, gegen den Wind und die Schädlinge.“ Dort, wo kein Bauschaum ist, kann man durch die Lücken in den alten Stall gucken. Wigboldus zeigt auf die Rückwand. „Über sechzig Risse, nur in dieser Mauer. Das Ding ist instabil. Neulich habe ich die Wand leicht mit dem Traktor angefahren. Die ganze Mauer wackelte hin und her, sie hat sich komplett vom Gebäude gelöst.“
Auch das Wohnhaus ist beschädigt, auch hier durchziehen breite Risse das Gemäuer. Im Winter schlüpfen die Mäuse ins Haus. „AUS“, so klassifiziert die Behörde Wigboldus’ Familienerbe – „akut unsichere Situation“. Alle drei Monate überprüft sie, ob man hier überhaupt noch wohnen und arbeiten kann. „Ich fürchte mich immer vor diesen Terminen. Man muss psychisch stark sein, um so zu leben.“ Wigboldus führt seit zehn Jahren keine Wartungsarbeiten mehr durch, achtet nur darauf, dass nichts zusammenstürzt. „Warum sollte man so was noch pflegen? Es ist kaputt, unsicher und wir wissen, dass es abgerissen wird.“
Jan Wigboldus ist nicht allein. Die ganze Nachbarschaft besteht aus kaputten Häusern, auch wenn man das oft nicht auf den ersten Blick sieht. Oft können Schäden nur von Spezialisten in Fundamenten, hinter Tapeten oder unter Holzböden ausgemacht werden. Bis jetzt zählen die Behörden 213.323 Schadensfälle, als Entschädigung wurde bislang mehr als eine Milliarde Euro gezahlt. Von 27.449 potenziell unsicheren Häusern wurden 3934 abgestützt. 5988 wurden für sicher erklärt. In allen übrigen Fällen herrscht Unklarheit.
Eines der größten Gasfelder Europas
Im Jahr 1959 sorgte die Entdeckung des großen Gasfelds für Aufregung bei der Regierung in Den Haag. Zu diesem Zeitpunkt ist das Feld unter der Gemeinde Slochteren mit 2800 Milliarden Kubikmetern eines der größten Europas. Gemeinsam mit Shell und ExxonMobil einigt man sich auf eine Gasproduktionspolitik. Das einzige Ziel: Mögliche Einnahmen aus dem Gasverkauf zu maximieren. Über andere öffentliche Interessen ist nichts vereinbart, wie später bekannt wurde.
Dass die Regierung so eng mit den Unternehmen zusammenarbeitet, so stark an der Gasförderung beteiligt ist, wird als Staatsgeheimnis gehütet. Bohrtürme tauchen im flachen Ackerland von Groningen auf. Innerhalb von zehn Jahren werden 12.000 Kilometer Pipelines verlegt, um Industrie und Haushalte mit Gas zu versorgen. Später wird das Netz auf 17.000 Kilometer ausgebaut, wovon 4600 Kilometer in Deutschland liegen werden. Bestehende kleinere Gasnetze werden ebenfalls angeschlossen.
Allgemeiner Konsens: Die Förderung ist sicher, wir machen weiter
Im Jahr 1972 zeigt sich, dass die Förderung Absenkungen im Untergrund verursacht, aber der Wirtschaftsminister beruhigt. Schäden an Häusern und der Infrastruktur werden nicht erwartet, heißt es von höchster Stelle. Als im Jahr 1986 ein Erdbeben die Region erschüttert und man in Groningen einen Zusammenhang mit der Gasförderung ins Spiel bringt, melden sich die Mineralölkonzerne zu Wort. Ein Sprecher sagt: „Wir verweisen dies definitiv in den Bereich des Imaginären.“ Obwohl in den folgenden Jahren einige Wissenschaftler vor möglichen Gefahren warnen, bleibt allgemeiner Konsens: Die Förderung ist sicher, wir machen weiter.
Im Jahr 2012 bebt der Boden nahe dem Dorf Huizinge stärker als je zuvor. Das Erdbeben mit einer Stärke von 3,6 auf der Richterskala hat erhebliche Auswirkungen auf den schwachen Lehmboden in Groningen. Natürliche Beben finden in zehn bis 100 Kilometern Tiefe statt, die Gasförderung sorgt für Beben, die die Erde in einer Tiefe von drei Kilometern erschüttern. Auswirkungen auf Gebäude sind dadurch wesentlich größer.
„Huizinge“ markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Groninger Gasfeldes. Vor 2012 zählte man mehrere hundert Schadensmeldungen pro Jahr, jetzt gehen innerhalb von Wochen tausende ein. Bewohner beschreiben, es sei „als ob ein Zug durch das Wohnzimmer fährt“. Einige Häuser sind einsturzgefährdet, mehr als 27.000 müssen überprüft werden. „Von einem auf den anderen Tag war für alle klar: Hier ist etwas sehr schiefgelaufen. Man konnte das Problem nicht mehr ignorieren“, erinnert sich Jan Wigboldus. Seitdem häufen sich die schwereren Erdbeben. Wigboldus erzählt: „Das ganze Haus schüttelt sich und knarrt. Man hört einen dumpfen Aufprall aus dem Boden, als würde ein Flugzeug die Schallmauer durchbrechen. Es fühlt sich an, als ob der ganze Hof angehoben wird. Das dauert ein paar Sekunden.“ Die Bedenken und der Widerstand in der Provinz wachsen.
Auch die staatliche Bergbauaufsicht zeigt sich schockiert. Mit einer solchen Stärke habe niemand gerechnet. Nach einer Notfalluntersuchung ruft die Aufsichtsbehörde zur Vorsicht auf. Wegen des Vorsorgeprinzips solle so wenig Gas wie möglich gefördert werden. Das Gegenteil passiert: Ein Jahr nach den schweren Beben erreicht die Gasförderung ihren Rekordwert.
Anwohner führen einen jahrelangen Kampf
„Wir sind als ganze Provinz beiseitegeschoben worden“, sagt Wigboldus. Der 70-jährige Landwirt ist auch Präsident des Groninger Gasberaad, einer zivilgesellschaftlichen Gruppe, die sich für die Interessen der Geschädigten einsetzt und eine schnellere und bessere Schadensbehebung anstrebt. Während die Gasförderung zunimmt, kommen die Sicherung der Häuser und die Abwicklung der Schäden in den Händen der Ölgesellschaften nur langsam voran. Die Anwohner führen oft einen jahrelangen Kampf und müssen vor Gericht gegenüber Shell und ExxonMobil beweisen, dass die entstandenen Risse auf Erdbeben zurückzuführen sind. In vielen Fällen erweist sich das als nahezu unmöglich.
Nienke Busscher ist Forscherin an der Universität Groningen und koordiniert eine Wissensplattform über die sozialen Folgen von Gasförderung. Busscher beklagt, dass die Einwohner sich an Vorschriften, Ausnahmen, Verfahren, Untersuchungen und Gegenuntersuchungen abarbeiten. „Die Baunormen werden so angepasst, dass Häuser, die zuvor als unsicher galten, später als sicher eingestuft werden, ohne dass irgendwelche Arbeiten durchgeführt wurden. Lücken in den Vorschriften werden mit neuen Vorschriften gefüllt, anstatt sie zu verbessern“, sagt Busscher.
Untersuchungen zeigen, dass die Groninger überdurchschnittlich häufig mit Stress und gesundheitlichen Beschwerden zu kämpfen haben. Obwohl bisher keine Menschen an den direkten physischen Auswirkungen eines Erdbebens – etwa dem Einsturz eines Hauses – gestorben sind, sterben laut einer Universitätsstudie jedes Jahr zwischen sieben und 21 Menschen an den Folgen von Stress. 10.000 Menschen leiden infolge der Beben unter Gesundheitsproblemen. „Bürokratischen Stress nennen wir das“, sagt Busscher. Die Folgen: Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Burnout-Symptome und Herzkrankheiten.
Bei einer öffentlichen Sitzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses im Jahr 2022 berichtet das Opfer Frouke Postma-Doornbos von diesen Folgen. Die gesamte Freizeit bestehe ausschließlich aus: E-Mails schreiben, planen, das Haus für Reparaturen räumen. Wieder und wieder. Ihr Mann sei überlastet gewesen, sie selbst habe Herzprobleme. 2015 wird das Haus zur Baustelle erklärt. Bauarbeiter dürfen das Haus, in dem die Familie ungeschützt wohnt, nur mit Helm, Sicherheitsschuhen und nach einem speziellen Training betreten.
In Tränen aufgelöst, erzählt Postma-Doornbos dem Ausschuss, was es für sie bedeute, nicht zu wissen, ob sie ihre Kinder gefahrlos ins Bett schicken könne. Sie erzählt, wie sie nicht merkte, dass ihr jüngster Sohn an Depressionen erkrankte: „Ich habe als Mutter versagt. Ich habe um das Haus gekämpft, aber ich hätte um mein Kind kämpfen müssen.“
Das Vertrauen in die Politik hat gelitten
Derlei Erfahrungen führten „zu einem abnehmenden Vertrauen in die Politik“, sagt Nienke Busscher. „Die Kinder schätzen ihr Leben schlechter ein, die Lebensqualität in den Dörfern wird beeinträchtigt. Die Liste ist endlos. Hier werden ganze Dörfer abgerissen und neu aufgebaut. Es entstehen ganze neue Viertel auf Zeit mit sogenannten Tauschwohnungen, in denen die Menschen warten müssen, bis die Arbeiten an ihren Häusern abgeschlossen sind.“ Aus angekündigten sechs Monaten würden oft eineinhalb Jahre. „Das macht was in einer Gesellschaft“, sagt Busscher.
Anfang dieses Jahres legt der parlamentarische Untersuchungsausschuss einen 2000 Seiten umfassenden Bericht vor. Nach intensiver Untersuchung stellt der Ausschuss fest, dass die Interessen der Groninger „strukturell ignoriert wurden – mit katastrophalen Folgen“. Die Gasförderung war für die Regierung, Shell und ExxonMobil „so lukrativ, dass den Risiken kaum Beachtung geschenkt wurde“. Außerdem seien Wissenschaftler, die frühzeitig vor den Gefahren warnten, ignoriert worden. Ministerien, Ölfirmen und Forschungsstellen wirft man einen „Tunnelblick“ vor.
Nach diesen Ergebnissen schlägt die Regierung ein Paket von 50 Maßnahmen und in Höhe von 13,5 Milliarden Euro vor, um die Situation zu verbessern und „die Ehrenschuld zurückzuzahlen“. Der zuständige Staatssekretär Hans Vijlbrief sagt, er schäme sich für das, was die Regierung verursacht habe: „Die Menschen im Erdbebengebiet sind stark benachteiligt worden. Diese zehn Jahre ihres Lebens können wir ihnen nicht zurückgeben.“ Shell selbst gibt zu, den Menschen „nicht richtig zugehört“ zu haben. Man wolle daraus „wichtige Lehren ziehen“. ExxonMobil nannte den Bericht einen „wichtigen Meilenstein“.
Forscherin Nienke Busscher bleibt weiterhin skeptisch. „Die Frage ist, was auf lange Sicht passiert. Neue Maßnahmen führen wieder zu neuer Unklarheit und Ungleichheit, der Flickenteppich an Vorschriften bleibt und es gibt immer noch keinen einheitlichen Lösungsansatz.“ Im hinteren Teil des Grundstücks von Landwirt Jan Wigboldus steht jetzt ein neuer, erdbebensicherer Kuhstall. Der Bau ist fast abgeschlossen. Auch die Güllegrube ist erdbebensicher. Das Wohnhaus wird in den kommenden Jahren abgerissen und neben dem Stall wieder aufgebaut. „Sieben Generationen Familiengeschichte werden verschwinden“, sagt Wigboldus. Er bleibt kritisch, aber da glimmt auch ein bisschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft für seine geliebte Provinz.
Die niederländische Regierung hat mit dem Gas unterdessen 363 Milliarden Euro verdient. 66 Milliarden Euro gingen an die Aktionäre von Shell und ExxonMobil. Seit dem 1. Oktober 2023 ist der Gashahn zugedreht. Nur bei sehr kalter Witterung könnte die Förderung bis Oktober 2024 wieder aufgenommen werden. Danach muss das Feld endgültig geschlossen werden.
Die Sicherungsarbeiten an den Häusern sind noch lange nicht abgeschlossen. Obwohl die zuständige Behörde „auf dem richtigen Weg“ sei, müssten die Arbeiten nach Ansicht von Beobachtern um das Dreifache schneller vorangetrieben werden, damit die Häuser bis zum angestrebten Zeitpunkt im Jahr 2028 sicher sind. Bis das durch die Förderung von 2300 Milliarden Kubikmetern verursachte Druckgefälle im Boden abgebaut sein werde, wird es Experten zufolge noch Jahrzehnte dauern. So lange wird die Erde um Groningen weiter beben.