Lieferando-Gründer im Interview„Corona hat uns ein Jahr nach vorne katapultiert“
- Essens-Lieferdienste wie Lieferando gelten als Profiteure der Corona-Krise.
- Im Interview mit dem "Kölner Stadt-Anzeiger" erzählt Lieferando-Gründer Jörg Gerbig, wie sich das Bestellverhalten der Menschen verändert hat.
- Außerdem nimmt er Stellung zu Kritik an Arbeitsbedingungen – und erklärt, wieso außer ihnen kaum ein Lieferdienst Gewinne macht.
Herr Gerbig, Lieferando-Fahrer waren in der Corona-Krise offiziell „systemrelevant“. Hat Sie das überrascht?
Das fand ich auch interessant. Ich habe uns nie als systemrelevant wahrgenommen, aber man merkt daran, wie verankert das Geschäftsmodell mittlerweile im Leben der Menschen ist. Die Corona-Krise war natürlich eine sehr schwierige Zeit für viele, sowohl für unsere Kunden als auch für unsere Restaurantpartner. Wir waren froh, dass wir unseren Service in dieser Zeit aufrechterhalten konnten.
Wie hat sich Ihr Geschäft in der Krise entwickelt?
In den ersten Wochen ist es in Deutschland um bis zu 30 Prozent eingebrochen. Das hat uns auch erstaunt. In dieser Zeit sind allerdings viele Restaurants auf unserer Plattform weggefallen. Das Bild war zweigeteilt: Die Restaurants, bei denen das Liefergeschäft im Fokus steht, haben profitiert und mehr Umsatz gemacht. Die übrigen, die vor allem vom Geschäft vor Ort leben, kämpfen noch heute ums Überleben. Viele von ihnen haben lieber ganz zugemacht und ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt, anstatt 20 Prozent Umsatz im Liefergeschäft zu machen. Das kann sie nicht über Wasser halten. Auch für uns war diese Zeit nicht einfach. Wir mussten neue Hygienevorschriften für unsere Fahrer umsetzen und unsere Mitarbeiter ins Home Office schicken.
Der Einbruch hielt aber nicht lange.
Nach zwei, drei Wochen hat sich das Konsumentenverhalten vollständig verändert. Wahrscheinlich haben die Menschen erst ihre Hamsterkäufe aufgegessen, bevor sie angefangen haben zu bestellen. Im April und Mai sind wir in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um 48 Prozent gewachsen, hauptsächlich durch unser Neukundengeschäft. Im vergangenen Jahr waren es etwa 20 Prozent – das Wachstum hat sich also mehr als verdoppelt. Erstaunlich war für uns auch, dass sich der Wert des durchschnittlichen Warenkorbs deutlich erhöht hat, von 20 auf etwa 22 Euro. Normalerweise wächst er nur mit der Inflation.
"Kunden gehen nicht zurück zum Telefon"
Wie nachhaltig ist dieses Wachstum?
Wir gehen davon aus, dass es sehr nachhaltig ist. Wenn Kunden einmal bei uns waren, gehen sie nicht zurück zum Telefon. Die Zahlen zeigen, dass sie konstant weiter bei uns bestellen. Corona hat uns mit Blick auf das Wachstum also ein Jahr nach vorne katapultiert, weil wir so viele zusätzliche Neukunden gewonnen haben.
Verdienen Sie denn auch Geld damit?
Wir verdienen Geld – als eine der wenigen Firmen in diesem Markt. Im ersten Halbjahr haben wir über alle 24 Länder hinweg, in denen Just Eat Takaway.com aktiv ist, ein Ebitda (Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen) von 177 Millionen Euro gemacht. Auch im vergangenen Jahr waren wir schon profitabel. Bei unserem Börsengang 2016 haben wir versprochen, dass wir diesen Schritt in drei Jahren schaffen – und das haben wir in Deutschland und als Gesamtfirma gehalten. Dieses profitable Wachstum unterscheidet uns zu anderen Marktteilnehmern.
Jörg Gerbig, Lieferando und Takeaway.com
Jörg Gerbig, 39, ist studierter Betriebswirt und arbeitete in der Vergangenheit unter anderem für die Investment Bank UBS. Im Jahr 2009 gründete er die Online-Lieferplattform Lieferando, damals noch unter dem Namen „Online Food Delivery Pionier“. Nach dem Verkauf an den niederländischen Konzern Takeaway.com wurde er dort Vorstand für das operative Geschäft.Takeaway.com ist heute in 24 verschiedenen Ländern aktiv und beschäftigt dort – die Fahrer ausgenommen – rund 10.000 Mitarbeiter. Stärkster Markt von Takeaway.com ist aktuell England. Gemessen an der Zahl der Bestellungen kommt Deutschland an zweiter Stelle, gefolgt von Kanada. (elb)
Was machen Sie anders als die anderen?
Unser Geschäft gliedert sich in zwei Teile: die Marktplatzrestaurants, die einen eigenen Lieferdienst haben und lediglich über unsere Plattform vermittelt werden. Und das Logistikgeschäft, bei dem das Essen mit unserer eigenen Lieferflotte ausgefahren wird.
Das Marktplatzgeschäft, was 90 Prozent unserer Lieferungen ausmacht, ist strukturell sehr profitabel. Bei einer Bestellung von 20 Euro machen wir bei einer Marge von – vereinfacht – 10 Prozent zwei Euro Gewinn. Beim Logistikgeschäft sieht das ganz anders aus. Hier bekommen wir zwar im Schnitt eine Marge von etwa 25 Prozent, aber damit können wir nicht einmal unsere Personalkosten für die Fahrer decken. Das ist das Dilemma, was fast alle im Markt haben. In Kontinentaleuropa wird dieses Geschäftsmodell nie profitabel sein. Wir kommen damit zurecht, weil das Verhältnis bei uns bei etwa 90:10 liegt. Bei unseren Wettbewerbern ist das oft anders herum. Wer zu 100 Prozent auf Logistik setzt, wird in Kontinentaleuropa nicht profitabel sein. Vielfach gibt es dann hohe Verluste und viele decken mit ihren Umsätzen – genauso wie wir in diesem Bereich -nicht einmal die Fahrerkosten.
"Schnelles Umsatzwachstum generieren"
Wozu dann das Ganze?
Es gibt eine große Nachfrage für Essensbestellungen in diesem Bereich und man kann dadurch schnell ein starkes Umsatzwachstum generieren. Dennoch ist dieser Umsatz zumeist strukturell nicht profitabel.
Und was bringt Ihnen das Logistikgeschäft?
Es bewegt die Kunden dazu, bei uns zu bestellen. Sie wollen eben auch McDonalds oder Burger King auf der Liste haben. Und wir wissen: Wenn die Kunden erst einmal auf dem Marktplatz sind, bestellen sie später auch bei Marktplatzrestaurants. Diese Kunden werden für uns also irgendwann profitabel, unabhängig vom Logistikgeschäft. Außerdem bringen wir mit unseren Fahrern die Marke auf die Straße und haben dadurch einen Werbeeffekt.
Sie sind in Deutschland quasi Monopolist. Müssen Sie das sein, damit sich Ihr Geschäft lohnt?
Ich würde uns nicht als Monopolisten bezeichnen. Es gibt immer wieder Unternehmen, die neu dazukommen. In so einem Markt können sich die Dinge schnell ändern. Unsere größte Konkurrenz ist das Telefon. 70 bis 80 Prozent der Deutschen bestellen mindestens einmal im Jahr Essen. Bei uns haben im vergangenen Jahr aber nur rund 15 Prozent von ihnen bestellt. Da liegt noch viel vor uns.
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Zum Beispiel?
Wir wollen weiter investieren, um den Markt aufzurollen, auch in Deutschland. Hierzulande haben wir im letzten Jahr mehr als 80 Millionen Euro für Marketing ausgegeben. Aktuell sind wir in 38 Städten mit eigener Logistik unterwegs, wir werden uns anschauen, ob wir diese Zahl erhöhen können.
Grundsätzlich wollen wir überall da wachsen, wo wir schon aktiv sind. Wir schauen uns weltweit die Märkte an, in denen wir die Nummer eins sind oder sein können. Nur dann ist ein Geschäft für uns interessant. Den Kauf von Delivery Hero Deutschland haben wir im April 2019 abgeschlossen. Anschließend folgte der Zusammenschluss mit Just Eat in England. In der Corona-Krise haben wir dann noch die Übernahme von Grubhub in den USA verkündet.
"Stehen heute anders im Fokus"
Lieferando ist wie andere Lieferdienste auch wegen schlechter Arbeitsbedingungen der Fahrer in die Schlagzeilen geraten. Was entgegnen Sie auf die Vorwürfe?
Wir haben von Anfang an Wert auf gute Arbeitsbedingungen gelegt und sind global das einzige mir bekannte Unternehmen, welches seine Fahrer alle sozialversicherungspflichtig angestellt hat. Das haben auch die Gewerkschaften anfangs im Vergleich zu unseren Wettbewerbern immer sehr positiv hervorgehoben. Nur heute stehen wir ganz anders im Fokus. Klar läuft nicht immer alles super. Wir wachsen sehr schnell. Bei einem Betrieb mit 4500 Fahrern ist auch mal eine Abrechnung falsch, vor allem, da sich der Dienstplan jede Woche ändert.
Wie viele Fahrer arbeiten denn in Vollzeit und was verdienen sie?
Der größte Anteil sind Mini- und Midi-Jobber. Wir hätten gerne mehr Menschen in Vollzeit, aber der größte Teil unserer Mitarbeiter sind nun mal Studenten. Der Lohn kann sich regional unterscheiden, liegt aber aktuell bei durchschnittlich 10,50€ pro Stunde. Hinzu kommt noch ein Bonus von bis zu zwei Euro pro Auslieferung und das Trinkgeld, das online sogar noch etwas höher ausfällt und dann in der Regel auch bei zwei Euro pro Auslieferung liegt. Bei durchschnittlich zwei Auslieferungen pro Stunde kommen die Fahrer also schnell auf einen Stundenlohn von 14 Euro und mehr. Überstunden werden festgehalten und ausgezahlt. Fahrräder kostenfrei gestellt oder die private Nutzung kompensiert.
Fahrer kritisieren, dass sie von ihnen per App überwacht werden...
Während einer Schicht - und nur wenn der Fahrer tatsächlich die FahrerApp einschaltet - werden ausschließlich erforderliche Daten erfasst. Ohne Tracking unserer Fahrer würde unser Geschäftsmodell nicht funktionieren, da wir die Bestellungen ja zuteilen müssen. Außerdem handelt es sich um Daten, die erforderlich sind für die Lohnabrechnung (Schichtbeginn, Schichtende), zur Berechnung des Bestellbonus, den wir zusätzlich zum Stundenlohn zahlen, zur Berechnung der Verschleißpauschale und zur Einhaltung von Arbeitzseitgesetzen. Es gibt hier leider keine Alternative.
"Rechtlich vieles unklar"
Gibt es bei Lieferando eigentlich Betriebsräte?
Wir unterstützen die Zusammenarbeit mit den Betriebsräten. Als wir den Wettbewerber Foodora übernommen haben, gab es dort bereits Betriebsräte. Wir haben versucht, einen gemeinsamen Fahrerpool zu bilden und bis heute ist juristisch noch strittig, ob wir schon ein gemeinsamer Betrieb sind. Es ist rechtlich noch vieles unklar, etwa, hat jede Stadt ein Recht auf einen Betriebsrat, auch wenn wir dort kein Büro unterhalten, oder kann man Städte zusammenfügen? Diese Fragen müssen erst geklärt werden, denn ein solches Geschäftsmodell gab es bislang in der Form ja noch nicht.
In der vergangenen Woche ist Ihr Konkurrent Delivery Hero in den Dax aufgestiegen. Es gab viel Kritik, das Unternehmen schreibt hohe Verluste und hat kein Geschäft in Deutschland. Wie bewerten Sie den Aufstieg in die deutsche Börsenelite?
Erst einmal Glückwunsch an Delivery Hero (DH). Dies ist eine tolle Geschichte für den Start-up Standort Deutschland. Ebenso zeigt der Börsenaufstieg, wie präsent unser Geschäftsmodell mittlerweile ist – auch wenn unsere Ausrichtung eine andere ist, etwa geografisch. Während wir in Kontinentaleuropa, UK, Kanada sowie demnächst USA aktiv sind, setzt DH mehr auf Emerging Markets wie den Nahen Osten und Asien. Auch investieren sie weiterhin sehr stark in das Geschäft.
Wie bewerten Sie den Start-up-Standort Deutschland?
Als wir damals in der Finanzkrise 2008/2009 gegründet haben, war es sehr schwierig Geld zu bekommen. Vor Corona hingegen sah es gänzlich anders aus. Heute ist Gründen und die Finanzierung sehr viel einfacher, weil es bessere Strukturen und mehr Kapitalgeber gibt. Außerdem haben mehr junge Menschen einen echten Gründergeist, das war zu meiner Zeit noch anders, da wollten alle ins Banking oder in die Beratung. Ich habe ja auch im Banking angefangen und weil ich jeden Abend im Büro verbracht habe und mir Essen bestellt habe, bin auch auf die Geschäftsidee gekommen.
Welche Auswirkungen wird Corona auf junge Gründer haben?
Man kann davon ausgehen, dass viele Probleme haben werden, eine Folgefinanzierung zu bekommen. Vielleicht ist das ein selbstreinigender Effekt, für die, die kein valides Geschäftsmodell haben. Um alle anderen wäre es sehr schade.