Köln – Welche Rolle ein Doppelgänger bei Diagnosen spielen kann, ist seit Jahrzehnten bekannt. Einer der berühmtesten Unglücksfälle aus der Raumfahrt verdeutlicht das: Als das Raumschiff Apollo 13 im April 1970 seine Reise zum Mond antritt, ahnt bei der Nasa niemand, dass knapp 56 Stunden nach dem Start ein mit Flüssigsauerstoff beladener Tank explodiert.
Die drei Astronauten an Bord befinden sich in einer lebensgefährlichen Situation. „Houston, wir haben ein Problem“, übermitteln sie an die Bodenstation im texanischen Houston. Sie müssen schließlich in der Mondlandefähre den Rückweg zur Erde antreten – dessen Lebenserhaltungssysteme sind jedoch nicht kompatibel mit den überlebenswichtigen CO2-Filtern des kaputten Kommandomoduls, das die Astronauten verlassen müssen.
Ein Doppelgänger rettet Menschenleben
Hunderttausende Kilometer von Apollo 13 entfernt, steht in Houston damals eine physische Kopie des Raumschiffs. Ein Team im Kontrollzentrum auf der Erde nimmt sich dieses vor und entwickelt aus den Materialien an Bord – darunter Buchdeckel, Schläuche, Klebebänder und eine Socke – einen Adapter für die CO2-Filter. Die Simulation auf der Erde trägt auch dazu bei, Apollo 13 auf sicherem Weg zur Erde zu lotsen.
So wird ein Zwilling, ein Doppelgänger zum wichtigen Baustein in der Rettung von Menschenleben. Künftig könnte das zum Regelfall werden – wenn alle von Menschen vorhandene Daten zu einem digitalen Zwilling zusammengeführt werden.
Bei Industriemaschinen ist es bereits keine Seltenheit mehr, dass die Großgeräte digital „geklont“ werden. Jeder Tag in Betrieb, jede Veränderung an einer noch so kleinen Schraube, jede Instandsetzung, jeder Schaden wird virtuell abgebildet. Die gesammelten Daten lassen die Computer erkennen, wann eine Maschine unrund läuft, noch lange bevor ein Mensch dank seiner Erfahrung oder offensichtlicher Schäden darauf aufmerksam wird.
Digitaler Zwilling beim Menschen
Auch ein digitaler Zwilling von Menschen ist denkbar: André Nemat, Chirurg und Gründer des Instituts für die digitale Transformation der Gesundheitsbranche an der Universität Witten/Herdecke, beschreibt ihn als „Gesamtheit aller jemals von einer Person erhobenen Daten“. Zu Ende gedacht, betreffe das nicht bloß Informationen über den gesundheitlichen Zustand: Von Geburt an wird jedes Verhalten, das wir zeigen, jede Erfahrung, die wir machen, jede App, die wir nutzen, unser Einkaufsverhalten, unsere Ernährung, unsere E-Mails und Online-Suchen mit unseren Gesundheitsdaten kombiniert. Der digitale Zwilling würde umso genauer, je mehr Daten er integriert: „Mit der Zeit entsteht aus einem pixeligen Bild ein virtueller Zwilling“, beschreibt Nemat das Konzept.
Beim „Open Network Healthcare“ am 19. November im studio dumont, Breite Straße 72, entwerfen André Nemat und weitere Experten aus der Gesundheitsbranche eine Zukunft, in der ein digitaler Zwilling den Gang zum Arzt überflüssig machen könnte. Boris Otto vom Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik erläutert den digitalen Lebenszyklus auf Basis von Daten. Was heutzutage technisch möglich ist, hat er erst kürzlich Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Digitalgipfel in Dortmund dargelegt.
Kommunikationswissenschaftler und Technologie-Unternehmer Martin Kiel zeigt, dass Verbraucher bereits heute im Begriff sind, ihren digitalen Zwilling zu gestalten. Ohne die Tragweite zu erahnen, überwachen sie ihre eigene Gesundheit mit Hilfe von Schrittzählern in intelligenten Uhren oder füttern Smartphone-Apps mit anderen Informationen über ihr Verhalten.
Emily Andreae vom IT-Unternehmen Adesso und Vorsitzende des E-Health-Arbeitskreises beim Branchenverband Bitkom, entwirft bei der Veranstaltung eine Vision der Zukunft der Medizinversorgung und erläutert, welchen Einfluss die Zukunftsszenarien auf Patienten haben werden. Auch über konkrete Patientenanwendungen wird an dem Abend informiert. Außerdem stellen Start-ups ihre Innovationen vor.
Für die Veranstaltung am 19. November, Beginn 18 Uhr, gibt es noch Tickets. Der Preis beträgt 49 Euro. Ticketkauf und Infos:on-healthcare.de
Rolf Schwartmann, Leiter der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht und Mitglied der Datenethikkommission der Bundesregierung, stellt sich die Frage, was nach dem Tod eines Menschen mit dessen digitalen Avatar geschieht: Lebt er weiter und wird als eigenständige Persönlichkeit angesehen? Wird er gelöscht? Kann er der Forschung gespendet werden? „Wir sind aktuell auf jeden Fall noch weit weg von einer Gesetzgebung, die einen digitalen Zwilling ermöglicht“, sagt Schwartmann.
Für Datenschützer eine Dystopie
Was für Datenschützer nach einer Dystopie klingt, könnte Medizinern allerdings völlig neue Möglichkeiten eröffnen. „Je mehr Informationen zu einer Person vorliegen, umso personalisierter kann eine Behandlung auf das Individuum zugeschustert werden“, erläutert Nemat und wählt das Beispiel Diabetes: Es gebe dann im Grunde nicht mehr wenige Formen der Zuckerkrankheit, von der viele Millionen Menschen betroffen sind – sondern zig Millionen Zuckerkrankheiten, „weil jede Krankheit bei jedem Menschen eine ganz eigene Besonderheit aufweist“. Statt eine für alle Erkrankten passende Behandlung zu konzipieren, könne jeder Mensch eine personalisierte Medizin erhalten.
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Im zweiten Schritt könnten digitale Abbilder von Menschen anhand von Daten über die Lebensführung sogar erkennen, wenn sich Gesundheitsschäden anbahnen. Ähnlich wie bei vorausschauenden Reparaturen von Industriemaschinen, wären Mediziner in der Lage, beispielsweise Herzinfarkte vorherzusagen und auf sie zu reagieren, noch bevor sie auftreten.
Noch Jahre von Umsetzung entfernt
Zwar sei die Medizin von einer Umsetzung des Konzepts in seiner Gänze noch Jahre entfernt, sagt Medizinforscher Nemat, doch erste Patientenanwendungen, die in diese Richtung zeigten, würden bereits verwendet: Gesundheits-Apps für Diabetes-Patienten seien ein gutes Beispiel. Früher habe man sich „schmerzhaft und umständlich“ an punktuell gemessenen Blutzuckerwerten orientiert. Inzwischen könne man Software dafür nutzen, das eigene Essverhalten zu beobachten, Qualität und Zusammensetzung der Nahrung zu dokumentieren, das Körpergewicht und Wohlbefinden zu kategorisieren – und davon ausgehend Hinweise von der App erhalten, wie dem eigenen Unwohlsein vorzubeugen ist.