StadtfluchtWie eine Kölner Familie sich den Traum vom Landleben erfüllt
Köln – Wenn Andreas an seine Kindheit denkt, draußen auf dem Land, wird er romantisch. Er erinnert sich, wie er, kaum größer als eine Brombeerhecke, mit seinen Freunden durch die Gärten zischte. Wie sie bei den Nachbarn sonntags durch die offene Terrassentür huschten und unbemerkt aus der Küche Gebäck stibitzten.Er erinnert sich an das schnucklige Freibad, die Abenteuer im nahegelegenen Wald, die Höhlen, die sie bauten, die Pfeile, die sie schnitzten, die Bäume, die sie erkletterten. Herrlich sei das gewesen, sagt Andreas. Das Schlimmste, was ihm damals auf dem Dorf je widerfahren ist: der Diebstahl seines Fahrrads. Jetzt will Andreas Müller (Name geändert), 39, dahin zurück, wo seine Erinnerungen geschaffen wurden: in den Hochsauerlandkreis.
„Von der Stadt habe ich genug“, sagt er. „Der Reiz ging über die Jahre verloren.“ Früher, als er als 20-Jähriger zum Ingenieurstudium nach Köln kam, habe er alles aufgesaugt. Konzerte, Ausstellungen, Clubs, lange Nächte in der Bar. Inzwischen hat sich in seinem Leben einiges getan. Er hat eine Frau und eine zwei Jahre alte Tochter. „Die Prioritäten haben sich verschoben“, sagt er.
Genervt von der Stadt
Zusammen leben sie auf drei Zimmern in einer Wohnung im Stadtteil Nippes. 90 Quadratmeter, immerhin. Und sogar Eigentum. „Jammern auf hohem Niveau“, gibt Andreas zu. Und doch ändert das nichts an seiner Gefühlslage. Er ist genervt von den hohen Kosten, vom Lärm, vom Ringen um einen Kitaplatz, dem Parkplatzmangel, von den Menschenmassen, die sich vor der Pandemie durch die Schildergasse zwängten. „Es war ein schleichender Prozess, der sich durch die Corona-Krise beschleunigt hat.“ Andreas will raus. Ein Häuschen in seinem Heimatort steht schon bereit, 1000 Quadratmeter Grundstück, 180 Quadratmeter Wohnfläche, sieben Zimmer. Warum sollen seine Tochter und die Kinder, die da vielleicht noch kommen, nicht auch das erleben dürfen, was ihn einst zum glückseligen Jungen machte?
Ist ein Leben auf dem Land lebenswerter als eines in der Stadt? Bringt die Beschaulichkeit der Provinz, wenn es sie denn wirklich gibt, mehr Zufriedenheit als das urbane Getümmel mit seinem kulturellen Mammutangebot? Diese Frage stellen sich offenbar immer mehr Menschen in den Metropolen. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey unter 2700 Großstadtbewohnern gaben 25 Prozent der Teilnehmer an, dass sie schon länger den Wunsch nach einem Leben auf dem Land hegten. Bei jedem Zehnten sei dieser Wunsch durch die Pandemie verstärkt worden oder sogar erst entstanden. Die Vereinten Nationen rechneten hoch, dass im Jahr 2050 zwei Drittel der Menschen in Städten leben werden. Das ist zweieinhalb Jahre her. Vielleicht kommt es doch anders.
Mehr Anfragen fürs Land
Konkrete Zahlen, die eine Flucht aus deutschen Städten in den ländlichen Raum validieren könnten, gibt es nicht. Aber es gibt Hinweise. Der Immobilienportal „ImmoScout24“ meldete bereits vergangenen Juni, dass es einen deutlichen Anstieg bei Suchanfragen nach Häusern auf dem Land gab. Ende März schrieb der Online-Immobilienmarktplatz, dass die Nachfrage nach Kaufimmobilien sowohl in den Top7-Städten Berlin, München, Hamburg, Köln, Frankfurt am Main, Düsseldorf und Stuttgart als auch in den jeweiligen Speckgürteln angestiegen sei. Bei den Eigentumswohnungen seien die Kontaktanfragen für das Kölner Umland sogar um 70 Prozent nach oben geschnellt.Anders verhielt es sich bei den Häusern: Hier stieg die Nachfrage ebenfalls deutlich – in Köln, Frankfurt am Main, und Stuttgart allerdings auf Stadtgebiet stärker als im Umland.
Auch das Kölner Immobilienunternehmen „Engels & Völker“, das im Umland ebenfalls zahlreiche Büros betreibt, spricht von einem erheblich gestiegenen Interesse an Eigentum auf dem Land. Die Anfrage sei im Vergleich zu 2020 um 40 Prozent gestiegen (siehe Interview rechts). Eindeutiger Treiber dieser Entwicklung seien die Preisexplosion bei Mieten und Grundstücken in den Städten, aber eben auch die Pandemie und die neue Arbeitswelt Homeoffice.
Warum sollten Menschen, die ihren Job sowieso die meiste Zeit nur am Rechner verrichten, kilometerlange Wege zu Büros auf sich nehmen, stundenlang in Staus verbringen und nachmittags in Panik geraten, weil sie es mal wieder nicht rechtzeitig zur Kita schaffen? Wanderungsbewegungen gab es schon immer. Nikola Sander beschäftigt sich seit Jahren damit. Sie ist Forschungsdirektorin am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden. Sander wertet unter anderem Zahlen der amtlichen Statistik aus und leitet daraus ab, wohin es die Menschen treibt. „Der Verlauf ist zyklisch“, sagt sie.
Stadtflucht in den 90er-Jahren
Die letzte messbare Stadtflucht hat es demnach in den 1990er Jahren gegeben. Damals habe es die so genannte „Boomer-Generation“ in das Umland der Großstädte getrieben. Der Trend hielt an bis etwa 2003. Dann drehte sich der Pfeil in die andere Richtung. Die Städte wurden wieder attraktiver und wuchsen. Bis 2014, als die so genannte Kreiswanderungsmatrize eine erneute Umkehr andeutete. In Köln kam der Wachstumsschwund etwas verzögert an. Erst seit 2017 ist der Wanderungssaldo negativ, 2019 erreichte er mit einem Minus von etwas mehr als 5000 den bisherigen Höhepunkt.
Gerne würde Sander präzisere Angaben darüber machen, wie sich die Pandemie auf das Umzugsverhalten der Menschen ausgewirkt hat. Doch dafür ist es noch zu früh, die Zahlen seien noch nicht eingetroffen. Dass immer mehr Menschen raus aufs Land ziehen, auch dahin, wo die nächste Stadt in weiter Ferne ist, kann Sander nicht bestätigen. „Die Zahlen deuten eher auf eine Suburbanisierung hin“, sagt sie. Demnach zieht es die Städter nicht die tiefe Eifel, sondern eher in das unmittelbare Umland, die Speckgürtel. Allerdings werden auch diese Gürtel immer speckiger.
Grenzen weichen auf
Deshalb, so vermutet Marion Neumann von der Beraterfirma Prognos, die den jährlichen Zukunftsatlas zur Entwicklung der Regionen in Deutschland herausgibt, wird es die scharfe Trennung von Stadt und Umland bald nicht mehr geben. „Die Grenzen werden aufweichen, es wird einen großen urbanen Raum geben, in dem die Interaktion von Stadt und Umland eine immer größere Rolle spielen wird.“
Zumindest was die Immobilienpreise angeht, sind sich Metropole und Speckgürtel schon sehr nahe. Wer seinen Eigenheimwunsch direkt vor den Toren Kölns erfüllen will, muss schon jetzt mindestens eine halbe Million Euro auf den Tisch legen. Also geht es immer weiter raus. „Im Kreis Euskirchen und in der Eifel kann man gerade gut kaufen“, sagen die Makler von Engels & Völker.
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Von Euskirchen fährt man mit dem Auto immerhin etwa 45 Minuten bis nach Köln. Ganz weit draußen hat sich auch Karin Gottfried niedergelassen. Früher wohnte sie in Hannover, jetzt wieder in ihrer Heimat im sauerländischen Meschede. Damals stand sie selbst vor der Wahl: Speckgürtel Hannover oder richtig aufs Land. Sie hat sich fürs Sauerland entschieden, auch um der Kinder willen. „Speckgürtel, das ist nichts Halbes und nichts Ganzes.“Die PR-Beraterin fand eine Stelle bei der regionalen Wirtschaftsförderungsgesellschaft und leitet inzwischen das 2015 gegründete Projekt „Heimvorteil HSK“, ein Netzwerk für Heimkehrwillige.
Pandemie hat Sehnsucht befeuert
Die Initiative wurde gegründet, um den Fachkräftemangel und die Überalterung auf dem Land auszugleichen. Etwa 200 Menschen, die das Sauerland verlassen hatten und wiederkommen wollten, hat Gottfried seither beraten. Sie hilft bei der Jobsuche, macht Netzwerkarbeit und organisiert Stammtische, damit die Wiedereingliederung in die Dorfgemeinschaft besser funktioniert.
Die Pandemie hat die Sehnsucht nach Rückkehr in die alte Heimat noch einmal angefacht. „Wir merken, wie groß gerade jetzt der Wunsch nach Raum und Natur ist.“ Es gebe zwei große Gruppen von Rückkehrern, sagt Gottfried: Paare zwischen 25 und 40 Jahren mit Kindern oder in Familienplanung und mit klaren Vorstellungen, die viele als spießig bezeichnen würden: Haus, Garten, Pavillon, Feuerstelle. Und Mittzwanziger, die ihr Studium in der Stadt beendet haben. „Viele kommen aus Köln zurück“, sagt Gottfried.
„Wir warten auf euch“
Für junge Sauerlandflüchtige sei die Millionenstadt eines der begehrtesten Ziele, die räumliche Enge aber auch ein Hauptgrund, von dort wieder wegzugehen. Gottfried will keinen Sauerländer verloren geben. „Wir sagen den Leuten: „Geht raus, erweitert euren Horizont, dann kommt wieder zurück. Wir warten auf euch!“
Doch selbst im abgeschiedenen Sauerland spitzt sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt zu. Gottfried teilt die Erfahrungen der Immobilienmakler aus dem Kölner Umland. „Es ist naiv zu glauben, dass man hier die Häuser nachgeworfen bekommt.“ Wie nachhaltig sich der Trend hin zum Land entwickeln wird, hängt auch davon ab, wie sich die Kommunen aufstellen.
Ein entscheidender Faktor, Familien, aber auch Gründer in den ländlichen Raum abseits der Speckgürtel zu ziehen, sei die Internetanbindung. „Viele Kommunen haben das inzwischen verstanden, andere müssen ihre Hausaufgaben noch machen“, sagt Nicole Dau. Es sei verblüffend, wie häufig sie noch die Rufe vernehme: endlich Glasfaser. Mancherorts würde man eine Gigabit-Leitung feiern wie die Elektrifizierung. Dau ist Sprecherin von CoWorkLand, eine in Schleswig-Holstein gegründete Genossenschaft, die mittlerweile bundesweit agiert und Menschen dabei hilft, Coworking-Plätze aufzubauen. Orte also, an denen Menschen aus unterschiedlichen Branchen zusammenkommen, nebeneinander arbeiten, gemeinsam essen, sich austauschen.
Coworking auf dem Land
700 solcher Orte gibt es inzwischen bundesweit. Auf dem Land ist die Zahl der Spaces von vier im Jahr 2018 auf jetzt 150 angestiegen. Gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung hat die Genossenschaft die Trendstudie „Coworking im ländlichen Raum“ veröffentlicht und dafür 200 Tiefeninterviews mit Gründern und Nutzern von Coworking-Spaces geführt. Coworking auf dem Land habe eine sehr viel breitere Zielgruppe und größere Integrationskraft als in der Stadt, sagt CoWorkLand-Geschäftsführer Ulrich Bähr. „Es wird von all jenen nachgefragt, die ein Bedürfnis nach Gemeinschaft haben und sich ihren Arbeitsort frei auswählen können.“
Es gehe vor allem darum, Arbeiten und Wohnen neu zu denken, sagt Dau. Also am Wunschort Leben und Arbeiten, auch wenn der Arbeitgeber in der Großstadt sitzt. Gründer könnten sich aber auch um die Entwicklung des ländlichen Raums verdient machen. Wer ein Haus mit großem Grundstück habe, könne einen Arbeitsort für mehrere Menschen anbieten und so andere zum Umzug aufs Land bewegen. Programmieren im ausrangierten Bauwagen vor Obstbaumkulisse, in der Mittagspause Körper und Geist mit Yoga ausbalancieren, abends mit den Kindern den Salat aus eigenem Anbau anrichten.
Dörfer wiederbeleben
Gerade Dörfer, die vom demografischen Wandel hart getroffen wurden, könnte man auf diese Weise wieder zum Leben erwecken: Infrastruktur klimagerecht modernisieren, das Dorf-Café wieder in Betrieb nehmen, oder die marode Schützenhalle schick machen. CoWorkingLand-Geschäftsführer Bähr sieht ein gewaltiges Potenzial in dem neuen Lebenskonzept: „Wir sind davon überzeugt, dass Coworking auf dem Land das Zeug zum Massenphänomen hat und für einen wirksamen Strukturwandel sorgen kann.“
In einigen Monaten, nach den Sommerferien, werden Andreas und seine Familie keine Kölner mehr sein. Dann wird das Haus, das sie gekauft haben, kernsaniert sein, mit Photovoltaik auf dem Dach. Kosten: etwa 100 000 Euro. Einen Kitaplatz für die Tochter haben sie auch schon, es gab sogar gleich zwei Zusagen. Und wenn es mal einen Betreuungsengpass gibt, kein Problem, die Großeltern wohnen gleich um die Ecke.
Türen geöffnet
Das mit dem Homeoffice hat Andreas auch schon geregelt. Er darf von Zuhause arbeiten, und wenn seine Anwesenheit doch erwünscht wird, muss er nicht mehr nach Köln, sondern kann ins nähere Büro nach Dortmund fahren. Auch der Arbeitgeber seiner Frau hat bereits Bereitschaft für Homeoffice-Tage signalisiert.
„Was das angeht, hat die Pandemie die Tür einen großen Spalt weit aufgestoßen“, sagt der Ingenieur. Und was ist, wenn er doch mal zweifelt, ob das Landleben das richtige für ihn ist? „Ich bin mir sicher, wir werden es nicht bereuen.“ Und wenn das Paar dann doch mal wieder mehr erleben will, werde man einfach reinfahren in die Stadt. Paderborn, sagt Andreas, ist ja ganz in der Nähe.