Früher wurden Promis wie Madonna für ihre „multikulturellen“ Familien gefeiert. Heute stehen Auslandsadoptionen in der Kritik, einen Retterkomplex zu bedienen. Die in Peru geborene Melanie Kleintz hat stark unter ihrer Adoption gelitten. Juliana Baus hingegen würde ihrer brasilianischen Mutter gerne erzählen, dass es ihr jetzt gut geht. Über zwei ganz unterschiedliche Schicksale.
Aus dem Ausland adoptiert„Wir haben dich gerettet“ – habt ihr das wirklich?
Melanie Kleintz sehnte sich als Kind immer nach ihrem Vater. Groß und stämmig, in einen Poncho gehüllt – so stellte sie ihn sich vor. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis sie herausfinden würde, dass er eigentlich klein und dünn ist. Jahrzehnte, in denen sie nicht wusste, woher sie eigentlich kommt. Dass Melanie Kleintz adoptiert ist, das ist nie ein Geheimnis gewesen. Egal ob gegenüber Freunden, Bekannten oder der Familie – ihre Eltern erzählen oft, wie sie sie aus Peru nach Deutschland geholt haben. Melanie Kleintz hat schwarze Haare, ihre Mutter helle; auch deshalb ist die Adoption ständig Thema. In der Schule sagen die anderen Kinder zu ihr, sie sei schmutzig im Gesicht. Als Kind wünscht sie sich oft, blond zu sein.
„Zu meiner Adoptivmutter habe ich nie einen Draht gefunden“, sagt Melanie Kleintz. Sie sei ihr gegenüber hart gewesen. Hätte Dankbarkeit erwartet. Melanie Kleintz hatte das Gefühl, es ihrer Mutter nie recht machen zu können. „Mir war schon immer klar, dass mein Vater mich eigentlich behalten wollte“, erzählt sie. Ihre leibliche Mutter stirbt kurz nach der Geburt. In das Heim, aus dem sie adoptiert wurde, sollte sie eigentlich nur zur Pflege kommen, sagt Melanie Kleintz. Doch sie sei trotzdem zur Adoption freigegeben worden, „offiziell“ im Alter von 25 Monaten. Tatsächlich war sie wohl erst 13 Monate alt. Ihre Geburtsurkunde ist mangelhaft, so gibt es zum Beispiel keine Unterschrift des Bürgermeisters.
Heute ist Melanie Kleintz überzeugt: Ihre Adoption war illegal. Das Heim dürfe mittlerweile keine Säuglinge mehr aufnehmen. Ihre Adoptiveltern behaupten trotzdem: Wir haben dich gerettet. Die deutsche Vertreterin des Ordens, der das Heim betreibt, meint, sie könnte keine Angaben zu Adoptionen machen, da sie nicht involviert gewesen sei. Der amerikanische Hauptsitz des Ordens hat sich bis zur Veröffentlichung des Artikels nicht zu den Vorwürfen geäußert.
Werden Kinder Opfer eines Retterkomplexes?
Auslandsadoptionen hatten lange Zeit ein gutes Image. Promis wie Brad Pitt und Angelina Jolie oder auch Madonna zeigten sich gerne mit ihren Adoptivkindern, die aus ärmeren Ländern stammten. Das Bild: Reiche Menschen aus dem Westen helfen benachteiligten Kindern. Machen, wenn schon nicht die Welt, dann doch wenigstens das Leben einiger Kinder besser.
Doch dieses Bild bröckelt. Dazu tragen Adoptierte wie Melanie Kleintz bei, die sich öffentlich zu Wort melden und ihre Sicht der Dinge schildern. Zum Beispiel Tika Stern, die mit einer gefälschten Geburtsurkunde nach Deutschland einreiste und deswegen ohne Papiere aufwuchs, wie sie im RBB erzählt. Oder Elli, die aus Gambia kommt und ihre Adoption „einen Albtraum“ nennt, wie sie in der „Zeit“ erzählt. Ihre Adoptiveltern haben ihr bunte Kleidung angezogen, „weil man das in Afrika so macht“. Sie hätten es nicht ernst genommen, wenn sie Rassismus erfuhr.
Viele dieser Betroffenen werfen Paaren, die Kinder aus dem Ausland adoptieren, „White Saviourism“ vor. Der Vorwurf: Weiße Menschen adoptierten Kinder aus dem globalen Süden, um sich selbst als Retterinnen und Retter („Saviour“) zu inszenieren. Was sie dabei aber übersehen: Oft leiden Kinder, die aus anderen Ländern adoptiert wurden, darunter, dass sie weit entfernt von ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen. Viele erfahren Rassismus, den ihre weißen Adoptiveltern nicht nachvollziehen können oder wollen.
Den Müttern wurde gesagt, ihre Kinder seien gestorben
„In der Vergangenheit kam es bei Auslandsadoptionen immer wieder zu illegalen Praktiken, bis hin zum Kinderhandel“, sagt Rudi Tarneden von Unicef, der sich intensiv mit Auslandsadoptionen beschäftigt. In den 1980er-Jahren sollen zum Beispiel mehr als 11.000 Babys aus Sri Lanka nach Europa verschleppt worden sein, wie niederländische Investigativjournalisten 2017 herausfanden. Den Müttern wurde in vielen Fällen gesagt, ihre Kinder seien gestorben. Doch wie viele illegale oder zumindest fragwürdige Adoptionen es in den vergangenen Jahrzehnten nach Deutschland gab, ist unklar. Erst seit den frühen 2000ern erfasst der Staat überhaupt, wie viele Kinder aus dem Ausland adoptiert werden.
Oft vermittelten Agenturen in der Vergangenheit Kinder aus Ländern wie Brasilien, Vietnam oder Haiti für viel Geld. „Je mehr Paare an eine Vermittlungsagentur bezahlt haben, desto weniger fragen sie nach der Herkunft des Kindes“, sagt Tarneden. Besonders für ältere Paare waren Auslandsadoptionen attraktiv. Während sie ab einem bestimmten Alter nur noch größere Kinder aus dem Inland adoptieren durften, gab es solche Beschränkungen für Auslandsadoptionen nicht.
Das hat sich inzwischen geändert, die Auflagen sind strenger geworden. 2002 trat in Deutschland das Haager Übereinkommen in Kraft. Es legt unter anderem fest, dass zuerst geprüft werden muss, ob ein Kind nicht besser im Inland untergebracht werden kann. Auslandsadoptionen sollen nur durchgeführt werden, wenn sie dem Kindeswohl dienen. Trotzdem wurden im Jahr 2019 noch rund 80 Kinder aus dem Ausland nach Deutschland adoptiert, wie das Bundesjustizamt angibt.
Es kann auch gut gehen
Es gibt viele Gründe, Auslandsadoptionen skeptisch gegenüberzustehen. Doch jede Geschichte ist anders und nicht alle Auslandsadoptierten sehen ihre eigene Geschichte kritisch. Zum Beispiel Juliana Baus, die aus Brasilien adoptiert wurde. „Ich hatte schon immer das starke Bedürfnis danach, meiner leiblichen Mutter zu sagen, dass es mir jetzt sehr gut geht“, erzählt Juliana Baus. Ihre Adoptiveltern sprechen mit ihr über ihre Herkunft und nehmen sie ernst. Als Kind schreibt sie Briefe an ihre leibliche Mutter, die ihre Adoptiveltern für sie aufbewahren, für den Fall, dass Juliana sie eines Tages trifft. Sie würde ihrer leiblichen Mutter gerne sagen, dass sie kein schlechtes Gewissen haben muss, weil sie Juliana weggegeben hat. Über ihren biologischen Vater macht sie sich hingegen kaum Gedanken. Bis heute hält sie engen Kontakt zu ihrer Adoptivfamilie. Sie geht oft mit ihren Eltern essen und zeigt ihnen vegane Restaurants.
Sabine Rauhut von der staatlich anerkannten Auslandsadoptions-Vermittlungsstelle Help a child e. V. ist sich sicher, dass Auslandsadoptionen durchaus im Sinne des Kindeswohls sein können. Nämlich dann, wenn die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen stimmen. Dies sei zum Beispiel der Fall, wenn im Herkunftsland keinerlei Perspektive für das Kind besteht. Nicht in allen Herkunftsländern der Kinder gebe es die Infrastruktur, um Kinder an einheimische Adoptiv- oder Pflegefamilien zu vermitteln. In Kenia gab es zum Beispiel lange kaum Inlandsadoptionen. In einigen Ländern sei es auch schlicht nicht üblich, Kinder zur Adoption aufzunehmen, sagt Rauhut.
Ein Kind aus dem Ausland zu adoptieren, weil man sich möglichst selbstlos verhalten möchte, sei eine No-Go-Motivation für Auslandsadoptionen. Besonders schwierig ist es auch, wenn die Adoptiveltern Dankbarkeit erwarten würden. Dann könnten sich die Kinder nie so angenommen fühlen, wie sie sind. „Die Voraussetzungen für eine Auslandsadoption sind gut, wenn ein Paar reflektiert mit dem eigenen Kinderwunsch umgeht, echtes Interesse am Herkunftsland eines Kindes hat und bereit ist, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen“, meint Rauhut. „Auslandsadoptionen sind immer eine große Herausforderung, aber auch oft ein großes Glück.“
Schwierige Suche nach der biologischen Familie
Juliana Baus lernt Brasilien schon früh kennen. Auch ihre Geschwister sind von dort adoptiert. Sie mag das Essen und die Atmosphäre. Die Familie fährt regelmäßig zu Treffen für Kinder, die aus Brasilien nach Deutschland adoptiert wurden. Heute sagt sie: „Brasilien ist für mich ein Zufluchtsort.“ Als sie ihre Ausbildung zur Erzieherin abbrechen muss, sind es ihre Eltern, die sie ermutigen, dort eine Auszeit zu nehmen. Sie hätte sich nicht getraut, ihre Adoptiveltern nach Unterstützung für eine Reise nach Brasilien zu fragen. „Ich hatte Angst, dass es sie traurig machen würde“, erzählt Baus.
In Brasilien betreut sie behinderte Kinder und bereist mit dem Rucksack das Land. Und: Sie will endlich ihre Herkunftsfamilie finden und so besser verstehen, woher sie eigentlich kommt. Eine Mitarbeiterin der Organisation, die einst ihre Adoption vermittelte, organisiert die Suche.
„Wenn Adoptierte sich auf die Suche nach ihrer Herkunft machen, bedeutet dies in der Regel auch, sich ein neues Bild von der eigenen Identität zu machen“, erklärt die Psychologin Ina Bovenschen, die zu Adoptionen forscht. 1989 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass es zu den Persönlichkeitsrechten gehört, die eigene Abstammung zu kennen.
Doch bei internationalen Adoptionen ist es oft deutlich schwerer, Informationen über die biologische Familie zu finden. Weil viele Auslandsadoptierte nicht die Sprache ihres Herkunftslandes sprechen, können sie nur schlecht recherchieren.
Dazu kommt, dass Behörden nicht immer sauber arbeiten, insbesondere in Ländern mit schwachen staatlichen Strukturen. „Wenn Kinder keine Informationen zu ihren leiblichen Eltern haben oder diese nicht finden, kann sie das in tiefe Trauer stürzen“, sagt Rauhaut. Aufgabe der Adoptiveltern sei es dann, die Trauer auszuhalten und ihre Kinder darin zu begleiten.
Eine riesige Torte, für alle verpassten Geburtstage
„Ich habe mir gewünscht, eine Person zu finden, der ich ähnlich sehe“, erzählt Melanie Kleintz. Deshalb entscheidet sie sich, ihre Familie in Peru zu suchen. Die Suche wird zu einem zweijährigen Unterfangen. Melanie Kleintz kopiert alle Adoptionspapiere und wendet sich an die peruanische Botschaft. Schließlich fragt sie bei einem Manager eines nahe gelegen Hotel an, ob jemand bei ihrem Vater vorbeigehen könne. 2009 fliegt sie mit ihrem Mann, ihrer Tochter und ihrer Adoptivmutter nach Peru.
In Peru empfängt ihre Schwester sie mit einer Willkommensparty. Schenkt ihr eine riesige Torte, für alle verpassten Geburtstage. Ihr Vater entschuldigt sich bei ihr dafür, dass er sie hat gehen lassen, wie sie erzählt. Sie findet die Ähnlichkeit, nach der sie sie sich so gesehnt hat. „In meiner Familie haben alle die gleichen Hände“, sagt sie. Sie kocht gerne und stellt fest, dass alle ihre Schwestern Köchinnen sind. Sie liebt Kräuter und erfährt von ihrem Vater, dass ihre Mutter einen großen Kräutergarten hatte. Ihre Mutter habe immer psychisch kranke Menschen mit nach Hause gebracht. Auch Melanie Kleintz hat als Sozialpädagogin mit psychisch kranken Menschen gearbeitet. Rückblickend sagt sie: „Bei mir haben sich viele Selbstzweifel gelöst, als ich gesehen habe, wie ähnlich ich meiner Familie bin.“
Seit der Adoption von Melanie Kleintz hat sich viel verändert. Peru erlaubt inzwischen nur noch Adoptionen ins Ausland, wenn ein Elternteil die peruanische Staatsbürgerschaft besitzt. Privatadoptionen, wie die von Melanie Kleintz, sind heute in Deutschland verboten. Das Haager Übereinkommen legte klare Regeln fest. Seit 2021 müssen Auslandsadoptionen immer über offizielle Vermittlungsstellen laufen, die an Jugendämtern angesiedelt sind oder eng mit ihnen zusammenarbeiten. Einige dieser Stellen sind als Vereine organisiert.
Weniger Auslandsadoptionen
Immer weniger Paare wollen überhaupt Kinder adoptieren, weil die Reproduktionsmedizin in den vergangenen Jahren so große Fortschritte gemacht hat. Und doch gibt es nach wie vor Paare, die ein Kind aus dem Ausland adoptieren wollen. In Foren tauschen sie sich über den einfachsten Weg aus.
Haiti wird dort oft als ein vergleichsweise einfaches Herkunftsland angepriesen. Was sie damit meinen: Das Land befindet sich seit Jahren im Krisenmodus: 2010 zerstörte ein Erdbeben große Teile der Infrastruktur. Hilfsorganisationen richteten Camps und Heime für Kinder ein. Unicef warnte davor, Kinder aus Waisenhäusern zu adoptieren, weil diese oft nur vorübergehend von ihren Eltern getrennt seien.
Dazu kommt: Die Justiz ist nicht unabhängig. Gerichte und Behörden stellen in der Regel Dokumente wie zum Beispiel Geburtsurkunden aus, die für Adoptionen unabdingbar sind. Deutsche Adoptionsstellen stützen sich auf diese Dokumente, wenn sie entscheiden, ob eine Adoption genehmigt wird.
Trotzdem gibt es jedes Jahr Adoptionen von Haiti nach Deutschland. 2019 waren es 16. Wie kann das sein? Deutsche Jugendämter und Sozialbehörden wollen oft nicht über das Thema sprechen oder verweisen auf das Bundesjustizamt, das zwar den rechtlichen Rahmen regelt, aber selbst keine Adoptionen begleitet. Eine Vertreterin der Sozialbehörde Hamburg schreibt: „Die Gemeinsame Zentrale Adoptionsstelle in Hamburg führt keine Adoptionsverfahren mit der Republik Haiti, weil aus Sicht der Dienststelle nicht mit hinreichender Sicherheit überprüfbar ist, ob dort die kinderschützenden Standards des Haager Übereinkommen eingehalten werden.“ Es gebe zu der Frage noch keine bundeseinheitliche Entscheidung.
Juliana Baus bekommt irgendwann eine Telefonnummer von der Frau, die ihre Adoption vermittelte. Die Nummer gehört zu leiblichen Verwandten von ihr, in Brasilien. „Als ich meine Verwandten das erste Mal angerufen habe, war ich unfassbar aufgeregt“, erzählt sie. Sie spricht mit ihrer Oma und ihren Tanten, kann jedoch nicht alles verstehen, weil ihr Portugiesisch zu schlecht ist. Ihre leibliche Mutter hat sie bis heute nicht gefunden. Doch der Wunsch, sie eines Tages zu treffen, bleibt. „Am Muttertag muss ich immer an meine leibliche Mutter denken“, sagt sie.
Melanie Kleintz arbeitet mittlerweile selbst mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die aus dem Ausland adoptiert wurden. Hilft ihnen dabei, ihre eigene Geschichte zu verarbeiten. Ein Programm, das sie auf ihrer Website anbietet, heißt Zwischen zwei Welten Frieden suchen, Erkenntnisse und Verständnis finden. (RND)
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