Mit ihrem neuen Album „=1“ erinnern Deep Purple noch einmal daran, dass sie zu den großen Rockbands zählen.
„Es ist so glorreich simpel“Macht es noch Spaß, „Smoke on the Water“ zu spielen, Deep Purple?
Mr. Paice, Mr. Airey, in zwei Tagen beginnt die erste große Deep-Purple-Tour mit Simon McBride. Aufgeregt?
Ian Paice: Aufgeregt ist nicht das richtige Wort. Wir freuen uns. Es ist ein großes Vergnügen, mit Simon auf der Bühne zu stehen. Es fühlt sich an, als wäre er schon 100 Jahre in der Band und nicht erst zwei. Er ist definitiv einer von uns.
Was sprach für ihn, als Steve Morse ausschied, um sich um seine kranke Frau zu kümmern?
Don Airey: Ich traf Simon schon vor zehn Jahren. Ich veranstalte ja alle zwei Jahre ein Wohltätigkeitsfestival in meinem Dorf. Er spielte zum Auftakt, er war brillant, wir blieben in Kontakt. Und er kam dann mit meiner Don Airey Band auf Clubtour durch Europa.
Die Eintrittskarte bei Deep Purple.
Airey: Ich habe ihn unserem Sänger Ian Gillan als Livegitarrist empfohlen. Und als er zurückkam, sagte er: Falls Steve Deep Purple je verlassen sollte, brauchen wir uns nicht groß nach einem Nachfolger umzusehen.
Paice: Wenn du eine Rarität wie Simon findest – verlier bloß nicht seine Telefonnummer.
Er ist 45 Jahre alt – 30 Jahre jünger als Sie beide.
Paice: Der Einzige, den unser Alter beunruhigen könnte, ist Simon. Und er ist es nicht. Wenn man mit anderen guten Musikern zusammenspielt, dann wird man noch besser. Alter ist echt egal – mit guten Jungs zu spielen und dadurch jede Nacht emporgehoben zu werden ist ein wunderbares Gefühl.
Kiss kamen mal mit der Idee, alte Bandmitglieder sukzessive durch jüngere zu ersetzen und so eine unsterbliche Band zu werden.
Airey: Gute Sache. (lacht)
Paice: Nicht unsere. Es gibt halt nur noch sehr wenige Gitarrenmeister. Ein paar sind in Amerika wie Joe Satriani, Joe Bonamassa und vier, fünf andere. In Europa ist es schwer, auch nur ein oder zwei auszumachen, nicht wahr, Don?
Airey: Nun, Michael Schenker ist einer, Uli Jon Roth.
Paice: Gute Rhythmusgitarristen findest du zu Tausenden. Aber wenn du einen neuen Jeff Beck willst, einen neuen Hendrix, Jimmy Page oder Ritchie Blackmore – das ist schon was anderes.
Woran liegt das?
Paice: Die Musik, die sie heute spielen, verlangt nicht viel. Und wenn du dich darüber beschwerst, kriegst du den Job nicht.
Airey: Ich kannte mal einen Bassisten. Der ging zu einer Audition bei einer Popband. Und am Ende schauten sie ihn mit großen Augen an: „Oh, du bist ja ein richtiger Musiker.“
Der Albumtitel lautet „=1“. Steht das für die Einheit und das Gefühl des Verschworenseins der Band im neuen Line-up – „Deep Purple = 1“?
Paice: Das ist eine sehr schöne Schlussfolgerung. Jeder in der Band denkt sich zu diesem Titel was anderes, denn Ian (Gillan, d. Red.) hat uns nie erklärt, was er bedeutet. Ian kommt immer mit dem Titel der Alben rüber – wir sind dafür zu faul. Ich finde den Titel gut, weil jeder sich fragt: „Was bedeutet das bloß?“ So wird Interesse erzeugt. Im Innencover gibt es eine endlose algebraische Formel – am Ende ergibt sie 1. Auf die Eins, auf den einen kommt es an: Du bist der eine, der wichtig ist, ich bin der eine. So lese ich das.
Und was denken Sie, Don?
Airey: Ich denke, der Titel lässt hübsch Weißraum auf dem Cover. Für Autogramme.
Es ist ein Studioalbum mit vielen Jams. „=1“ klingt wie live.
Paice: Bei uns gibt es immer zwei Songwriting-Sessions. Die erste dauert zwei Wochen, in denen wir so viele Ideen wie möglich sammeln. Don startet mit einer Akkordfolge, wenn sie gut ist, machen wir mit. Ich spiele einen Rhythmus, die Jungs scheren ein. Wir jammen zehn, 15 Minuten und mit Glück ist da eine Minute, in der die Idee steckt. Und das machen wir, solange es geht, ohne dabei verrückt zu werden. Dann leben wir ein paar Monate damit, bis wir wissen, welches die besten sind. Dann kommt Session zwei, in deren Verlauf wir diese Ideen verfeinern und noch vier, fünf weitere finden. Dann haben wir ein Album.
„=1“ ist frisch, heavy, als wäre es nach 2023 wieder 1972. War das der Plan?
Beide zugleich: Es gibt niemals einen Plan.
Paice: Simon kam mit Riffs rüber. Und Riffs führen dich ob ihrer Schlichtheit in die Richtung, härtere, aggressivere Musik zu machen. Das ist einfach so. Wenn Steve eine schöne Oberstimme angeboten hat oder eine komplexere Akkordstruktur, dann geht die Reise anderswo hin. So ist die Bandchemie. Weil so viele Gitarrenriff-getriebene Songs auf „=1“ sind, entzünden sich die Erinnerungen an die frühen Platten. Denn genauso waren die.
Es gibt Sixties-Momente – Psychedelisches, orientalische Keyboardläufe. Und der Chuck-Berry-artige Riff von „Now You‘re Talking“ ist ein 50er-Ding. Feiern Deep Purple ihre Wurzeln?
Airey: Exakt. Das tun wir.
Paice: Man forciert das nicht. Wenn du einen Rhythmus oder eine Sequenz bekommst, erinnert dich das an etwas aus deiner Vergangenheit. Du reagierst darauf und spielst, was sich am besten anhört – sei es aus den 50ern oder gar aus den 30ern. Immer das Beste für den Song.
Die Lyrics sind zuweilen erotisch deftig. Wollten Sie auch noch mal die „bad boys“ der alten Sex-and-Drugs-and-Rock-‘n‘-Roll-Zeiten sein?
Airey: Absolut.
Paice: Wir träumen von diesen Zeiten. (lacht)
In „Lazy Sod“ legt sich jemand angesichts der Krisen in der Welt auf die faule Haut und sagt: „Ich kann eh nichts ändern.“ Wie sehen Sie die Gegenwart?
Paice: Die Welt ist derzeit ein Chaos. Wir haben diese schlimmen Situationen in der Ukraine und in Israel, wir haben diesen Verrückten in Nordkorea, China lässt seine Muskeln spielen. Wie viele Menschen gibt’s auf dem Planeten? 8,2 Milliarden? Und doch sind es nur 200 Leute, die alles vermasseln. Das ist das Angsteinflößende. Dass diesen Leuten gestattet wird, das weiter zu treiben, ist ein Rätsel.
Deep Purple wurden in der „Love & Peace“-Zeit gegründet. Glauben Sie noch an deren Ideale?
Paice: Sie erinnern uns an „Love & Peace“ – wir erinnern uns an so einige Konzerte in Deutschland, bei denen die Polizei froh war, die Beine in die Hand nehmen zu können, weil das Publikum sie bewarf. „Love & Peace“ war definitiv mehr ein amerikanisches Hippieding, nicht so sehr ein europäisches. Dort herrschte auch die Idee, dass Musik umsonst sein sollte und niemand eine Eintrittskarte bezahlen müsste. Was die bessere Welt betrifft: Wenn etwas lange Zeit am Laufen ist, kommt immer jemand darauf, etwas anderes zu versuchen. In der Regel ist das dann allerdings etwas, das er nicht selbst durchlebt hat. Das kann sehr gefährlich werden. Ich sage: Seid vorsichtig, was ihr euch herbeiwünscht.
Zurück zur Musik: Was das Publikum sich bei Konzerten seit 1972 immer wieder herbeiwünscht, ist der Riff von „Smoke on the Water“. Wenn man 13 neue, starke Songs anbieten kann, ist das doch frustrierend, oder?
Airey: Die Setlist ist ein Drahtseilakt: Man muss Publikumslieblinge wie „Smoke on the Water“ bringen.
Paice: Diesmal bringen wir schon einige neue Songs unter. Pst – wir lassen auch einen Klassiker weg. Zeit für einen kleinen Wandel.
Airey: Einen großen Wandel.
Macht es eigentlich noch Spaß, „Smoke on the Water“ zu spielen? Jammen ist bei so einem Übersong doch verboten.
Airey: Jammen ist total easy, das könnten wir die ganze Nacht hindurch. Aber würde das Publikum das akzeptieren?
Paice: Die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums heute ist anders. Damals in den frühen Siebzigern konntest du so einen Song 20 Minuten lang gestalten – solange du es interessant gemacht hast, folgten dir die Leute. Heute ist diese Spanne viel kürzer. Man könnte jammen, aber warum sollte man das Publikum unglücklich machen? Dem Publikum bedeutet „Smoke on the Water“ noch so viel wie vor 50 Jahren – es ist einer von den Songs, die größer wurden, als sie vielleicht sollten.
Gefühlt hat jeder Gitarrenschüler mit diesem Riff begonnen.
Paice: Na ja, der Grund dafür ist: Es ist so glorreich simpel.
Was wäre, wenn der „Smoke“-Riff mal nicht erklänge?
Paice: Oh, das gab es schon mal. Zweimal. In Paris und Israel. Ritchie fühlte sich nicht danach und verschwand.
Und?
Paice: Wir spielten es einfach ohne ihn.
Deep-Purple-Auftritte sind bis heute kathartisch, keine lahmen Oldiesnächte.
Paice: Ohne uns jetzt groß loben zu wollen. Das liegt daran, dass wir sehr gut sind. Wir bringen es noch. Jeder bis auf Simon, dessen Karriere weit über unsere Zeit hinausgehen wird, weiß zwar, dass uns das Ende bei Weitem näher ist als der Anfang. Aber gerade deswegen feiern wir jeden Tag auf der Bühne. Eines Tages wird es vorbei sein. Besser also, es geht nicht um Ruhm und Zahlen, sondern um die Musik. Und sehen die Leute, dass wir eine gute Zeit haben, haben sie auch eine gute Zeit. Das alles ist keine Gehirnchirurgie. Es ist viel komplizierter. (Beide lachen)
Ist Kameradschaft wichtig?
Airey: Oh ja, wir kommen alle gut miteinander aus. Auch weil wir genau wissen, wann wir auseinander bleiben müssen. Das ist das Geheimnis. Es gibt Bands, die aufeinander glucken. Wir sind ein bisschen anders.
Paice: Wir sind gute Freunde. Aber wenn wir nach dem Gig in der Nacht im Hotel essen, dann siehst du fünf Typen an fünf verschiedenen Tischen. Sieht aus, als könnten wir einander nicht leiden. Es muss immer Zeit bleiben, in der du nicht in der Band bist. Auch wenn man „on the road“ ist, muss man sagen können: Meine Zeit! Meine Zeit!
Als ich als Kind den Beatles-Film „Help!“ sah, wo alle vier im selben Riesenapartment wohnen?…
Airey: … da dachten Sie, so müssen sie alle leben, diese Bands.
Paice: Wenn’s bei den Beatles so ist, dann macht das jeder so. (Beide lachen)
Trifft man sich denn mal zwischendurch auf ein Bier?
Airey: Dazu leben wir zu weit auseinander.
Paice: Don wohnt zweieinhalb Stunden weg von mir. Das wäre ein langer Weg für ein Pint. Ian Gillan lebt in Portugal, Roger Glover lebt in der Schweiz und Simon in Nordirland. Einander zu sehen ist nicht nötig. Wir brauchen Zeit für uns.
Und was machen Sie in der Zeit?
Airey: Fußball. Ich unterstütze meine alte Mannschaft aus meiner Heimatstadt, den AFC Sunderland. Und ich gehe gern zu Auftritten klassischer Pianisten – kleine Konzerte in kleinen Kirchen, da sieht man erstaunliche Talente. Einfach dasitzen, zuhören. Manchmal fragen mich Leute: „Wünschst du dir nicht, selbst zu spielen?“ Und ich sage: „Nein.“
Und was interessiert Sie außer Musik, Mr. Paice?
Paice: Mich interessiert, genug Geld zu haben, meine Steuern bezahlen zu können. (lacht)
Gibt es Pläne bei Deep Purple über die Tour hinaus?
Airey: Pläne? Pläne. Ich habe das Wort gehört.
Paice: Dann brauchen wir Ruhe. Heißt aber nicht, dass wir nicht nächstes Jahr wieder eine Platte machen, wenn uns Ideen genug kommen. Aufnehmen ist ein Klacks, das ist nur Musikspielen. Der harte Teil ist es, etwas zu erschaffen – aus nichts.
Vermissen Sie Steve Morse? Er war ja schon seit 1994 bei Deep Purple.
Paice: Wenn irgendein Problem in der Familie auftaucht, dann muss die Familie vorgehen. Wie schwer das auch immer ist. Hätten wir jedoch an diesem Punkt alles gestoppt und unbestimmte Zeit auf Steve gewartet – ich glaube, dann hätten Deep Purple nie wieder losgelegt.
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