Im Krisenfall unter die Erde flüchten und sich verschanzen – diese Idee erscheint angesichts des Krieges in der Ukraine auch in Deutschland immer attraktiver. In der Schweiz muss jedes Haus solch einen Schutzraum haben. Was bringt der im Ernstfall?
Bunker-Pflicht in der SchweizWas ein Schutzraum im Ernstfall bringen soll
Freddi Frei steht im Dunklen. Neben ihm und hinter ihm Beton. Vor ihm eine weiße Tür. Später werden sie vielleicht noch eine sogenannte Friedenstür, eine gewöhnliche Tür, in dem Bunker montieren. Die dicke Stahltür jedoch muss perfekt schließen. Im Ernstfall sollen hier rund 40 Menschen unter der Erde geschützt sein. „Kein Licht kommt hindurch, sehr gut!“, sagt der Monteur der Schweizer Bunkerfirma Mengeu mit Blick auf die Tür und macht seine Taschenlampe an.
Was Frei macht, ist in der Schweiz ganz normal. Hier haben alle Bürgerinnen und Bürger einen Platz in einem Bunker sicher. Ist das staatlich verordnete Paranoia oder eine geniale Idee?
1963, im Kalten Krieg, führte die Schweiz die Bunkerpflicht ein. Der Staat fordert in einem Propagandafilm: „Macht es wie die Murmeltiere.“ Bürgerinnen und Bürger sollen bei Gefahr einen Zufluchtsort in der Erde haben und warten, bis das Schlimmste vorüber ist.
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Selbst wer heute ein Wohnhaus baut, muss einen Schutzraum einsetzen. Der Staat gibt vor, wie dick die Betonwände sein müssen, wie viel Stahl enthalten sein muss und welche Filteranlagen montiert werden müssen. Viele Bunker sehen auf den ersten Blick wie normale Keller aus. Wer keinen eigenen Schutzraum hat, muss sich einen Platz in einem öffentlichen Raum kaufen. Die Preise variieren von Kanton zu Kanton zwischen 400 und 800 Franken. Aktuell gibt es laut dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) sogar mehr Bunkerplätze als Einwohner in der Schweiz. Dabei scheint ein Angriff auf das Land heute noch unwahrscheinlicher als im Kalten Krieg.
Freddi Frei geht schräg durch den Raum, zu einem grauen Kessel, an dem eine Kurbel befestigt ist: ein Luftfilter. Er packt den silbernen Griff der Kurbel und dreht. Es entsteht Überdruck, und auf der anderen Seite des Raumes öffnet sich ein Ventil. „So soll es sein“, ruft er. Die Türen schließen gut. Der Schutzraum hat einen ersten Sicherheitstest überstanden. Dank des Filters sollen hier drinnen noch Menschen atmen können, wenn die Luft draußen verseucht ist, etwa nach einem Angriff mit ABC-Waffen.
Wie hilfreich ein Bunker in diesem Fall wäre, diskutieren die Schweizerinnen und Schweizer immer wieder. 2011 gab es die bislang letzte ernsthafte Initiative für die Abschaffung der Schutzraumpflicht. Thema der Debatte war damals auch, ob ein Bunker bei einem AKW-Unfall effektiven Schutz bieten könnte. Zwei Tage vor dem Reaktorunglück von Fukushima hatte die große Parlamentskammer der Schweiz bereits für die Abschaffung der Schutzraumpflicht gestimmt – revidierte die Entscheidung nach der Katastrophe jedoch wieder.
In Deutschland eine teuer und meist geheime Angelegenheit
Der Firma Mengeu hat Fukushima damals das Geschäft gerettet, auch wenn Geschäftsführer Christoph Singer das natürlich niemals so sagen würde. Er hat viele Argumente für das Schweizer Schutzraumkonzept – nicht nur geschäftliche. Der Mittfünfziger verzeichnet seit dem Ukraine-Krieg viele Aufträge. Er ist gern unter der Erde. „Vermutlich ist an mir ein Maulwurf verloren gegangen“, sagt er. „Ich bin stolz darauf, mit unserer Arbeit einen großen Beitrag zum Zivilschutz zu leisten“, sagt Singer im Aufenthaltsraum der Firma, mit einer Tasse Kaffee vor sich. „Für alle Schweizer Einwohner gibt es einen Platz in einem Schutzraum – auch wenn sie keinen Schweizer Pass haben.“ Der Krieg in der Ukraine hat ihn in seiner Ansicht bestärkt. Er findet: „Der Staat sorgt mit der Bunkerpflicht dafür, dass alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen geschützt sind, unabhängig von Einkommen, Bildungsstand und Wohnort.“
In Deutschland hingegen sind Bunker eine teure und meist geheime Privatangelegenheit. Wer sich im Ernstfall in einen Bunker zurückziehen will, muss sich selbst einen bauen lassen. Die deutsche Firma BSSD veranschlagt für ein Standardmodell rund 385.000 Euro. Ein Vielfaches von den 400 bis 800 Franken, die Schweizerinnen und Schweizer einmalig für einen öffentlichen Bunkerplatz zahlen. Solche vergleichsweise niedrigen Preise sind nur möglich, weil der Staat den Bunkerbau organisiert.
Früher förderte die Bundesregierung den Bau privater Bunker in Deutschland. „Der Bunkerbau in der BRD, zur Zeit des Kalten Krieges, war eine rein psychologische Maßnahme“, meint Rolf Zielfleisch, Vorsitzender des Vereins Schutzbauten Stuttgart. Er engagiert sich, weil er über die Folgen des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Kriegs aufklären will. Zur Zeit des Kalten Krieges hätten Politiker die Bevölkerung beruhigen wollen und ihnen vorgegaukelt, dass ein Bunker im Falle eines Atomkrieges ein sicherer Ort wäre, sagt er. „Ganz egal wie dick die Mauer ist – gegen atomare Bedrohung gibt es keinen Schutz“, so Zielfleisch. Selbst wenn der Bunker in einem gewissen Maße vor Strahlung schütze – für immer wie ein Murmeltier unter der Erde zu bleiben, sei unmöglich. Irgendwann würden die Vorräte knapp. Die Welt draußen wäre lebensfeindlich.
Der Blick in die Ukraine indes zeigt, dass Schutzräume Leben retten können, solange es nicht um den großen Atomschlag geht. Deshalb liebäugelten auch deutsche Politikerinnen und Politiker in den vergangenen Monaten mit einem öffentlichen Schutzraumkonzept. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) schwärmte nach einem Besuch in Finnland von den großen öffentlichen Schutzräumen vor Ort. Im Oktober 2022 diskutierte die Innenministerkonferenz über ein nationales Schutzraumkonzept. Aktuell gibt es noch rund 600 öffentliche Schutzräume, wie das Bundesinnenministerium 2022 mitteilte. Ungefähr eine halbe Millionen Menschen hätten darin Platz – also weniger als ein Prozent der Deutschen. Doch die Räume wurden in den vergangenen Jahrzehnten nicht regelmäßig gewartet und dürften entsprechend nicht einsatzbereit sein. Im Februar 2023 erklärte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), dass es auch in Zukunft keine Bunker für Millionen Deutsche geben würde. Trotzdem lässt das Bundesinnenministerium prüfen, welche Bunker sich reaktivieren lassen.
„Die neuen Pläne der Bundesregierung zum Schutzraumausbau gehen von einem Bedrohungsszenario aus, das so völlig unrealistisch ist“, findet Zielfleisch. Schutzräume könnten zudem die Paranoia beflügeln, meint er. Viele Kritiker verweisen auch auf die Kosten. Mitte der 2010er-Jahre gab das Schweizer BABS an, seit 1962 rund 12 Milliarden Franken in den nationalen Schutzraumbau investiert zu haben. Zielfleisch findet: „Statt uns auf den Bunkerbau zu fokussieren, sollten wir uns darauf konzentrieren, Kriege und ihre grausamen Folgen zu verhindern.“ Seine Aussagen erinnern an das Graffito auf dem Bunker des Berliner Anhalter Bahnhofs: Wer Bunker baut, wirft Bomben.
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