Viele Männer verabschieden sich von traditionellen Rollenbildern. Ein Camp-Anbieter will Männern zu „alter Urkraft“ verhelfen. Ein Versuch.
Besuch im Urkraft-Camp„Männer haben den Kontakt zu ihrem Mannsein verloren“
Etwas in Carsten hat sich verändert. Und es hat nicht lange gedauert. Am Morgen von Tag drei glitzert die Sonne durch die Tannenkronen. Ein Rotmilan kreist über den Bäumen. Die Gebirge der Eifel türmen sich dahinter auf. In der Mitte des Ritualplatzes brennt ein Feuer – und Carsten schlägt sich mit den Fäusten auf die Brust. Oberkörper frei, mit Kriegsbemalung im Gesicht, springt er um die Feuerschale. Im Takt der Trommelmusik, im Takt des Didgeridoos. „Whuuh! Whuuh! Whooh!“
Carsten ist 59 Jahre alt, Lehrer und wohnt in Brandenburg. Kürzlich hat ihm seine Frau gestanden, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt hat. Nach 25 Jahren Ehe – und drei gemeinsamen Kindern.
Mit Asche zwei Streifen auf die Wangen gemalt
Jetzt hat er sich mit Asche zwei Streifen auf die Wangen gemalt und lässt seiner sogenannten archaischen Männlichkeit freien Lauf. Angefeuert von 41 Männern, die im Kreis um ihn tänzeln.
Die „archaische, ursprüngliche Männlichkeit“ beim Tanz herauszulassen, war die „Einladung“ von Axel Roger Schmidt. Wenn er die Teilnehmer zu einer Übung auffordert, formuliert er es stets als Einladung. Gemeinsam mit vier anderen Männern leitet er das Männercamp 107 im Naturpark Eifel, auf einem Campingplatz nahe der belgischen Grenze.
Axel Roger Schmidt: Therapeut und Männercoach
Eine Woche lang sollen die Teilnehmer hier die Urkraft des Männlichen wiederentdecken. Es ist „ein therapeutisches Seminar in der Wildnis“, das „verschiedene Methoden auf förderliche Weise miteinander verbindet“, heißt es in der Ankündigung.
Schmidt ist nach eigenen Angaben Therapeut und Männercoach. Er sagt, bei vielen Männern spüre er heutzutage eine tiefe Verunsicherung. Sie hätten den Kontakt zu sich selbst und zu ihrem Mannsein verloren.
Fast alle Männer nehmen die Einladung am dritten Tag an. Nacheinander springen sie in den Kreis. Schmeißen die Arme in die Luft. Brüllen, tollen und schlagen sich gegenseitig auf Schultern und Bäuche. „Sei wild“, ruft Schmidt. „Beweg dich, wie du dich schon immer bewegen wolltest“.
Aus ganz Deutschland sind sie angereist. Zwei aus den Niederlanden, einer aus Österreich. Einer aus Dänemark. Die meisten Männer sind zwischen 50 und 60 Jahre alt. Der Jüngste 21, der Älteste 72. Sie sind Sozialpädagoge, Osteopath, Arzt oder Immobilienmakler.
Da ist Thorsten*, der zwei Ehen hinter sich hat, die beide scheiterten, weil er zu verschlossen ist, sagt er. Weil er seine Probleme und Wünsche nicht aussprechen und keine Gefühle zeigen kann. Da ist Walter*, der wegen seiner Einstellung zur Corona-Pandemie alle seine Freunde verloren hat. Und da ist Kai*, dessen Vater in der Corona-Pandemie den Kontakt mit ihm abbrach, dann verstarb und ihn zuvor noch enterbte.
Erfahrungen auf Anti-Corona-Demonstrationen
Generell ist Corona immer wieder ein Thema. Viele erzählen, dass sie nicht geimpft sind. Einige berichten von ihren Erfahrungen auf Anti-Corona-Demonstrationen. Und andere sympathisieren mit dem umstrittenen Gesicht der „Querdenker“-Szene, Sucharit Bhakdi.
Und dann ist da noch Frank, der nach der Trennung von seiner Ehefrau im Alter von 55 eine Midlife-Crisis erlebte, sich ein Motorrad kaufte, damit um die Welt fuhr und 2019 in Bolivien einen folgenschweren Unfall hatte. Acht Rippen gebrochen, Milz und Leber gerissen, Schlüsselbein zertrümmert, Gehirnblutung. Eineinhalb Jahre verbrachte er im sedierten Zustand. Bekam nichts mit. Dann kämpfte er sich mit Hilfe seiner neuen Partnerin zurück ins Leben. Sie pflegte ihn, motivierte ihn. Doch kurz vor dem Männercamp beschlossen sie, eine Beziehungspause einzulegen.
„Sie war in den letzten Jahren eher wie eine Mutter für mich, nicht wie eine Partnerin“, sagt Frank. „Ich habe mich zu sehr auf ihr abgestützt.“ Jetzt hoffe er, im Camp sein männliches Ego stabilisieren zu können. Er wolle wieder der „Fels in der Brandung“ für sie sein, wisse aber nicht, ob ihre Beziehung auf der Grundlage noch eine Chance habe.
Männercamp mit Atmen: Die Energie entladen
Der Morgen des zweiten Tages beginnt mit einer „Einladung zur Bewegungsmeditation“. Die Männer sollen per Atmung ihre Energie aus dem Hara holen und diese im Takt der Musik von sich wegstoßen. „Hara“ kommt aus dem Japanischen. Es bezeichnet das Zentrum des Körpers unterhalb des Bauchs und gilt laut der Lehre als Quelle der Lebensenergie.
Im Kreis des Ritualplatzes atmen die Seminarteilnehmer langsam ein und aus, machen einen Schritt nach vorne und entladen die Energie mit einer Handbewegung.
„Wenn du dich darauf einlässt, kann es zu einer Offenbarung kommen, bei der du glaubst, die Welt dreht sich um dich. Du bist der Mittelpunkt“, ruft Schmidt in die tranceartige Musik hinein. Der Reporter spürt diese Offenbarung nicht. Andere fühlen offenbar mehr. Ein Seminarteilnehmer bricht in Tränen aus. Am Ende der Übung liegt er sich mit einem anderen Mann in den Armen.
Und plötzlich wird klar: Eigentlich geht es allen um die spirituelle Suche nach Identität, nach Halt und Zugehörigkeit. Und um Gemeinschaft, die vielen Teilnehmern wichtig ist, wie sie betonen. Doch am Ende kommen sie dann doch wieder zum Thema Männlichkeit zurück.
Später am Tag sitzen alle auf dem Ritualplatz im Kreis. Schmidt hockt auf einem Meditationskissen vor einer Klangschale und redet. „Wer von euch fühlt sich denn noch so richtig als Mann?“, fragt er und etwa die Hälfte der Männer, darunter vier Seminarleiter, heben die Hand. Zwei Männer berichten von sexuellem Missbrauch in ihrer Kindheit. Viele andere vom problematischen Verhältnis zu ihren Eltern, insbesondere zum Vater. Schmidt hat für jeden Mann einen Ratschlag. Oder zumindest eine Erklärung.
Durch den Zweiten Weltkrieg sei eine ganze Vätergeneration weggebrochen, sagt er. Und selbst wenn die Väter aus dem Krieg zurückkamen, seien sie gebrochene Männer gewesen. Die Mütter hätten die Jungen deswegen oftmals zu besseren Partnern erzogen. Mit der Folge, dass sie durch den Mangel an männlicher Erziehung „nie in das Männliche eingeführt“ worden seien. „Auch das ist auch eine Form von Missbrauch“, sagt Schmidt.
Feindselig gegenüber Frauen
Der Sozialpsychologe Rolf Pohl von der Leibniz Universität Hannover befasst sich seit Jahren mit Männlichkeits- und Geschlechterforschung. Den Glauben, dass durch den Krieg eine ganze Vätergeneration weggebrochen sei und das Mannwerden der nachfolgenden Generationen beeinflusst habe, bezeichnet er als „Ideologie“. „Das empfinde ich als falsches Bewusstsein und ist auch historisch nicht richtig“, sagt er. Dahinter stecke eine Feindseligkeit gegenüber Frauen und der Weiblichkeit.
Im Männercamp scheint Schmidt mit seiner Theorie Anklang zu finden. Die unaufgearbeitete Beziehung zum Vater ist für viele Teilnehmer das zentrale Thema. Für den nächsten Tag lädt Schmidt die Männer ein, ein ausgedrucktes Foto ihrer Väter – das stand auf der Packliste – in den Kreis mitzubringen und um das Feuer herumzulegen.
Der neue Tag beginnt mit der gewohnten Bewegungsmeditation. Es ist eine Vorbereitung auf die nächste Übung: das gemeinsame Atmen. Dabei geht es darum, für eine Stunde gleichmäßig tief ein- und auszuatmen. „Es erfordert viel Mut, so tief zu atmen, wie du kannst“, sagt Schmidt.
Die Technik kann zu Krämpfen bis hin zu Halluzinationen führen. Durch das kräftige Ausatmen verringert sich die Konzentration von Kohlenstoffdioxid im Blut, der Sauerstoffgehalt bleibt dabei ungefähr gleich. Dadurch verengen sich die Blutgefäße. Es ist eine Art Hyperventilieren. Ziel der Übung ist es, durch die Bewusstseinserweiterung die eigene Kraft wiederzuentdecken, Blockaden zu lösen und traumatische Erfahrungen zu verarbeiten.
Die große Erleuchtung bleibt aus
Und tatsächlich ist es schwierig, sich auf die Übung einzulassen. Doch es funktioniert. Nach einigen Minuten beginnt der Körper zu kribbeln. Erst werden die Hände, dann die Beine taub. Doch die große Erleuchtung bleibt aus. Andere gehen weiter, atmen sich in Trance, beginnen zu stöhnen, zu schreien. Nach einer Stunde liegen alle erschöpft am Boden.
Ein Teilnehmer berichtet, ihm sei während der Übung plötzlich sein Vater erschienen und er habe eine große Wut auf ihn verspürt. Dann habe er das Gefühl aber wieder kontrolliert und zu sich gefunden. „Das hat sich großartig angefühlt.“
Auch bei den anderen hat die Atemübung etwas bewirkt. Am Ende des Tages sind die Männer gelöst, wirken fast euphorisiert. Viele sagen, sie fühlen sich gestärkt, selbstbewusster, mit der Natur und sich selbst verbunden.
Etwas Stärkendes mitgenommen
Nach insgesamt einer Woche voller Rituale, Atemtechniken und Gruppensitzungen, bestätigt sich dieser Eindruck. Viele Männer sagen, etwas Positives, Stärkendes aus dem Männercamp mitgenommen zu haben.
Aber sind sie deswegen männlicher geworden? Durch die spirituelle Selbstfindung fühlen sich die Männer nach eigenen Aussagen auch als Mann gestärkt. Doch das Konzept würde möglicherweise auch funktionieren, wenn das Geschlechterprinzip außen vor gelassen wird und sich die Männer als Mensch gestärkt fühlen. Stattdessen wird eine archaische Folklore gepredigt, die schlimmstenfalls sogar das Potenzial hat, schädliche Geschlechterrollen zu manifestieren.
Laut dem Sozialpsychologen Pohl verstärkt das Bild des Kriegers, des sogenannten Archetypen, ein traditionelles, angeblich verlorengegangen, klassisches Männerbild. „Die Männer unterliegen permanent dem Druck, sich ständig zu verändern und zu verbessern“, sagt er. „Aber eigentlich haben sie überhaupt keine Vorstellung davon, was das heißt, ein ‚richtiger‘ Mann zu sein. Aber sie suchen danach und landen dabei immer wieder bei Spielarten der klassischen Bilder von ‚wahrer‘ und ‚echter‘ Männlichkeit.“
Gereift durch die Zeit im Männercamp
Eine Woche nach dem Camp meldet sich Carsten nochmal. Er und seine Frau hätten aktuell nicht vor, sich scheiden zu lassen, schreibt er. „Weil wir uns in einem Prozess befinden, dessen Ergebnis und Dauer nicht zu erfassen ist.“
Auch Frank, der den Motorradunfall hatte, hofft auf einen Neustart. Er fühle sich gereift durch die Zeit im Männercamp. Er habe schon Pläne gemacht, will wieder verreisen. Island ist das nächste Ziel. Für seine Beziehung ist er optimistisch und will es mit seiner Partnerin nochmal versuchen. „Es wäre schön, die Geschichte zu einem Happy End zu bringen“, sagt er und lächelt. (RND)
* Namen von der Redaktion geändert
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