Wenn die Enttäuschung über das Geschlecht des Babys größer ist als die Freude, nennt man das „Gender Disappointment“ – was sich dahinter verbirgt.
„Gender Disappointment“„Als ich erfuhr, dass es wieder ein Junge wird, bin ich in ein Loch gefallen“
Vor 14 Jahren, als Kristin Peukert das Geschlecht ihres ersten Kindes erfuhr, verspürte sie keine Vorfreude – sondern Traurigkeit. „Aber ein großer Bruder war schon okay für die dann ganz bestimmt folgende kleine Schwester“, erzählt sie. Drei Jahre später, als das Geschwisterchen unterwegs war, war die Enttäuschung noch größer: „Beim zweiten Kind gingen mein Mann und ich davon aus, dass das wahrscheinlich das letzte Kind sein könnte. Als ich erfuhr, dass es wieder ein Junge wird, bin ich in ein richtiges Loch gefallen“, erzählt die 41‑Jährige, die mit ihrer Familie in Norddeutschland wohnt. „Es fühlte sich an wie ein Trauerfall, wie ein richtiger Verlust.“
Die Wucht ihrer Gefühle überraschte sie selbst: „Bevor ich zum ersten Mal schwanger war, hätte ich vielleicht sogar gesagt: 'Hauptsache, das Kind ist gesund, ich werde mich schon damit anfreunden, dass es kein Mädchen wird'“. Aber so war es nicht: „Beim zweiten Kind hatte ich kurzzeitig den Gedanken, ob dieses Kind nicht gehen könnte, damit es Platz macht für ein Mädchen. Dieser Gedanke gegenüber meinem Kind hat mich selbst so erschrocken, dass ich wusste: Da muss ich etwas tun.“
Gender Disappointment: Wenn das Kind das „falsche“ Geschlecht hat
Gender Disappointment nennt sich das Phänomen, das Kristin Peukert erlebt hat. Es bezeichnet die Enttäuschung darüber, dass das Kind nicht das gewünschte Geschlecht hat. Dahinter verbirgt sich ein eigentlich schon sehr altes Thema: „Schaut man in die Geschichte zurück, spielte das Geschlecht schon immer eine wichtige Rolle, etwa wenn es um das Erbe oder das Verheiraten ging“, sagt die Psychologin Anna-Lena Zietlow.
Sie leitet den Lehrstuhl Klinische Kinder- und Jugendpsychologie am Institut für klinische Psychologie und Psychotherapie an der TU Dresden und forscht unter anderem dazu, inwiefern psychische Störungen von Eltern die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen.
„Trotzdem wird Gender Disappointment erst seit wenigen Jahren erforscht“, sagt Zietlow. Es gewinne an Relevanz, da der medizinische Fortschritt eventuell bald Babys mit Wunschmerkmalen und ‑geschlecht theoretisch ermögliche. „Und das Kinderkriegen ist in unserer Gesellschaft mittlerweile eine sehr bewusste Entscheidung. Damit gehen Erwartungen an das Leben mit einem Jungen oder Mädchen und auch Enttäuschungen einher“, sagt Zietlow.
Gender Disappointment: Gesellschaftliche und persönliche Auslöser
Aber warum bevorzugen manche Menschen ein bestimmtes Geschlecht? Die Psychologin Julia Ditzer, ebenfalls Mitarbeiterin am Lehrstuhl Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der TU Dresden, sagt: „Sicher spielen gesellschaftliche Stereotypen und Erwartungen hinein, die mit dem Geschlecht einhergehen.“ Hinzu kommen persönliche Erfahrungen, Rollenmodelle oder Vorbilder: „Das kann sein, weil man selbst einen großen Bruder gehabt hat oder weil man sich selbst in seinem Kind wiederfinden will, wie bei dem Mini-Me-Trend.“
Viele Menschen empfänden es instinktiv als einfacher, eine gute Beziehung zu einem Kind mit dem gleichen Geschlecht aufzubauen, als zum entgegengesetzten Geschlecht. Gravierende Auslöser – vor allem bei Frauen – seien Traumatisierungen, Missbrauch oder Misshandlung durch Männer. „Das kann dazu führen, dass Frauen in einem Sohn ihren Aggressor sehen und lieber eine Tochter hätten“, sagt die Psychologin Ditzer.
Und nicht zuletzt kann der Gedanke einer „Wiedergutmachung“ hinter der Präferenz stecken, so wie bei Kristin Peukert: „Bei mir hatte es wohl vor allem damit zu tun, dass meine Mutter als Junge gewünscht war“, erzählt sie. „Ich hatte das Gefühl, dass ich das wiedergutmachen musste, indem ich mir ein Mädchen wünsche. Vielleicht waren es zudem die unschönen Erfahrungen meiner Großmutter, die als junges Mädchen aus Ostpreußen flüchtete – auf jeden Fall hatte ich eine unbewusste Abneigung gegen das Männliche.“
Und so erinnert sich Peukert noch heute an einen besonderen Moment: „Als kleines Mädchen saß ich unter dem Weihnachtsbaum und heulte über die geschenkte männliche Puppe, weil ich lieber eine Mädchenpuppe gehabt hätte.“
Gender Disappointment: auch eine Frage von Alter, Persönlichkeit und Kultur
Interessant ist, dass bestimmte Menschen eher zu einem Geschlechtswunsch und damit Gender Disappointment tendieren: „Studien zeigen, dass Eltern zwischen 19 und 25 konkretere Vorstellungen haben. Mit zunehmenden Alter überwiegt der allgemeine Kinderwunsch den Wunsch nach einem bestimmten Geschlecht“, sagt Zietlow.
Auch bei Menschen mit einer neurotischen, extrovertierten und gewissenhaften Persönlichkeit bestehe eine Tendenz zum Gender Disappointment, ergänzt Ditzer. In westlichen Kulturen wie unserer bestehe zudem der Wunsch nach „family balancing“, also nach einer Familie, in der die biologischen Geschlechter gleich stark vertreten sind: So kann es dann sein, dass Eltern, die zum Beispiel zwei Jungen und ein Mädchen haben, traurig sind, wenn das vierte Kind wieder ein Junge wird.
Betroffene sind nicht nur mit dem Gefühl der Enttäuschung konfrontiert. „Gerade bei Frauen kann es sein, dass sie ihr Kind als fremd empfinden, was wiederum im Konflikt mit dem Wunsch steht, eine gute Mutter zu sein“, sagt Zietlow. „Oft empfinden sie deshalb Scham und Schuldgefühle.“ Das hat mitunter Folgen: „Je stärker solche Vorstellungen ausgeprägt sind, desto stärker wirkt sich das auf das Kind aus. Und wenn Ängste und Sorgen damit einhergehen, die das Leben beeinträchtigen, kann das die Bindung und die spätere Eltern-Kind-Beziehung beeinträchtigen“, sagt Zietlow.
Gender Disappointment: Die Gefühle zulassen und mit anderen teilen
Zwar verschwänden die Gefühle spätestens nach der Geburt, sagt die Psychologin Zietlow. Trotzdem rät sie, Gender Disappointment ernst zu nehmen: „Es ist ganz wichtig, offen darüber zu sprechen, sich mit Betroffenen auszutauschen, entweder online über Foren oder im Bekanntenkreis.“ Wenn die Gefühle sehr stark seien und eine extrem große Rolle im Leben einnehmen, sei es gut, sich frühzeitig therapeutische Unterstützung zu suchen.
Auch Kristin Peukert hat es am meisten geholfen, mit anderen über ihre Gefühle zu sprechen – und sie vom Kind abzugrenzen. „Die Gefühle haben nichts mit dem Kind an sich zu tun“, sagt sie. „Sie sind eher die Botschaft an sich selbst, dass man sich mit etwas Tieferliegendem auseinandersetzen sollte.“
Dabei half ihr Mann ihr sehr: „Er konnte die Gefühle vielleicht nicht nachvollziehen, aber er urteilte nicht. Er hat mir den Raum gegeben, das auszuleben, und mich in den Arm genommen, wenn ich mal wieder in Tränen ausgebrochen bin. Nur einmal hat er mir den Ehering entgegengeworfen und mich damit wieder etwas auf den Weg gebracht. Das war gut“, sagt Peukert.
Richtig abschließen konnte die 41‑Jährige damit aber erst, nachdem das dritte Kind – wieder ein Junge – geboren war. „Eines Morgens, als ich meine Jungs am Schlafzimmer vorbeilaufen sah, wusste ich: 'Ja, ich bin so weit. Ich möchte noch ein Kind – aber nicht, weil es noch eine Chance auf ein Mädchen ist. Sondern, weil ich ein Baby haben möchte'.“ Daran änderte sich auch nichts, als die Ärztin ihr das vierte Kind als Mädchen ankündigte und es sich bei der Geburt dann doch als Junge entpuppte. „Es war einfach nur schön, dieses Kind im Arm zu halten und nicht enttäuscht zu sein, dass es kein Mädchen ist.“