Fliegen gilt als klimaschädlichste Fortbewegungsart. Trotzdem setzt die Branche auf grenzenloses Wachstum, und trotzdem wollen immer mehr Menschen abheben. Der Widerspruch zwischen hehren Umweltschutzzielen und tatsächlichem Verhalten über den Wolken ist beispielhaft.
Klimaschutz in Gefahr?Immer mehr Menschen wollen fliegen
Mit einem begeisterten Aufruf kitzelte die Lufthansa die sowieso schon enorme Reiselust ihrer Kundinnen und Kunden: „Endlich ist es so weit: Die neuen Sommerziele 2024 für den beliebten Airbus 380 sind jetzt buchbar!“ Und dann pries der Konzern die Destinationen an, die der weltgrößte Passagierjet künftig ansteuert: New York, Washington, Los Angeles, Delhi, Boston, Bangkok. Bis zu 509 Fluggäste können an Bord des A380 Platz nehmen und sich mit einer Antriebskraft von 3500 Autos an den Ort ihrer Träume bringen lassen.
Womöglich waren unter den fernwehgeplagten Kundinnen und Kunden einige, die sich wunderten: A380? Stand der Riesenvogel nicht längst eingemottet auf Rollfeldern in irgendwelchen Wüsten herum? Airbus hatte schon vor der Corona-Zwangslandung beschlossen, den A380 aus der Produktion zu nehmen. Die Nachfrage war zu gering, die Umweltbilanz im Vergleich zu neueren und kleineren Maschinen miserabel. Und dann brachte die Pandemie sowieso alle Wachstumsfantasien der Airlines zum Absturz.
Doch seitdem ist die Nachfrage auf den Langstrecken geradezu explodiert. Notgedrungen muss der A380 mangels Alternativen wieder ran. Die meisten Fluglinien mit dem Giganten in ihren Flotten – darunter Qantas, Qatar Airways, Etihad, British Airways – haben ihre langzeitgeparkten Maschinen wieder mit enormem Aufwand startklar gemacht.
Auch die Airline Emirates zählte dazu, auf deren Heimatflughafen Dubai Starts und Landungen im vorigen Dezember besonders eng getaktet waren: Rund 90.000 Teilnehmer schwebten beim Klimagipfel COP28 ein, also mit jenem Verkehrsmittel, das wie kein anderes als Klimakiller gilt.
Dieser Widerspruch zeigt, wie groß die Diskrepanz zwischen der schnöden Wirklichkeit und allen offiziösen Anstrengungen ist, die Erde doch noch zu retten. Wohlklingende Versprechen mit Blick auf einen kollabierenden Planeten stehen dem praktischen Verhalten konträr gegenüber. Vielerorts ist das zu beobachten, aber ganz besonders deutlich in der Luftfahrt. Lügen wir uns selbst in die Tasche? Bis 2050 will die Branche gemäß den Zielen der Pariser Klimakonferenz klimaneutral fliegen. Wie soll das gehen, wenn Industrie und Fluglinien auf grenzenloses Wachstum setzen und immer mehr Menschen abheben?
Überall wird der Ausbau von Flughäfen geplant
Der Luftfahrtverband IATA rechnet für dieses Jahr mit einem Rekord von rund 4,7 Milliarden Fluggästen weltweit. Bis spätestens 2050 wird mit einer Verdoppelung der Passagierzahlen gerechnet, vermutlich schon früher. Wenn der besser betuchte Teil der Menschheit eines will, dann ist es offenbar, die Freiheit über den Wolken zu erleben, auch wenn die Enge in der Economyclass jener in einer Sardinenbüchse gleichkommt.
Beeindruckt vermeldete das Portal Flightradar24 am 6. Juli vorigen Jahres 134.386 kommerzielle Passagierflüge an einem einzigen Tag. So viele waren es nie zuvor. Privatjets und Frachtflüge waren da noch gar nicht mitgezählt.
Überall wird der Ausbau von Flughäfen in großem Maßstab geplant, in Dubai genauso wie in Frankfurt. Die Auftragsbücher der Flugzeughersteller Airbus und Boeing sind proppenvoll. Daran dürfte die Tatsache, dass an einigen Boeing-Maschinen jüngst lose Schrauben entdeckt wurden, kaum etwas ändern. Die bestellten Maschinen können erst Ende des Jahrzehnts oder später ausgeliefert werden – wenn denn der Mangel an Fachkräften und überforderte Zulieferbetriebe das zulassen.
Fachleute sprechen bereits von Kaufpanik unter Airlines: Billiganbieter wie Ryanair konkurrieren etwa mit United Airlines um vordere Plätze in der Warteschlange. Airbus vermeldet fürs Vorjahr mehr als 1500 Bestellungen und bewegt sich auf Rekordniveau.
Es wetteifern Staaten darum, nun endlich zum globalen Drehkreuz aufzusteigen, die bislang niemand auf der Landkarte hatte: Indische Fluglinien haben im Vorjahr mal eben Hunderte von Maschinen geordert. Es handelte sich um eine der größten Bestellungen in der Luftfahrtgeschichte. Die Wachstumsraten für Passagierinnen und Passagiere auf dem Subkontinent liegen im zweistelligen Bereich.
Schon heute betragen – je nach Berechnung – die CO2-Emissionen des Luftverkehrs 2 bis 5 Prozent am Gesamtausstoß. Dazu kommen andere negative Effekte, etwa Kondensstreifen. Eiskristallwolken aus Wasserdampf, Ruß und Schwefel halten die Wärme in der Atmosphäre wie unter einer Glocke.
Folgen für die Welternährung nicht abschätzbar
Die Luftfahrtbranche setzt darauf, dass sich die Klimabilanz auf technischem Weg entscheidend verbessern lässt: Ende November flog erstmals eine Virgin-Atlantic-Maschine von London nach New York mit Biosprit – also gewissermaßen mit gebrauchtem Speiseöl. Für Konzern und Politik war das eine Riesensache. Allein: Der sogenannte Sustainable Aviation Fuel (SAF) ist Mangelware. Nur ein gutes halbes Prozent der benötigten Menge von 99 Milliarden US-Gallonen (375 Milliarden Liter) steht nach Angaben des Luftfahrtverbands IATA zur Verfügung. Bislang weiß niemand, wie sich die Produktion schnell genug ankurbeln lässt. Die IATA beklagt, dass die Ölproduzenten viel zu wenig in nachhaltige Flugtreibstoffe investieren – mit fossilen Brennstoffen lässt sich leichter Geld verdienen. Fraglich auch, ob die von der Europäischen Kommission für die nahe Zukunft vorgegebenen Mindestmengen zu erreichen sind.
Ebenso sind die Folgen für die Welternährung schwer abschätzbar. Nach einer Studie der Umweltorganisation Transport & Environment in Brüssel werden immer mehr tierische Fette für SAF verwendet. Wie viele Tausend Schweine müssen für einen Flug nach Los Angeles in die Tanks? Und wollen wir das?
Mit anderen Antriebstechniken wird längst in großem Stil experimentiert, genauso mit Batterieflugzeugen wie Wasserstoffmotoren. Doch sind die Ideen für den kommerziellen Betrieb bislang alles andere als umsetzbar. Auch die vielen neuen, sparsameren Maschinen verbrauchen tonnenweise Kerosin: Ist ein klimaneutraler Flugbetrieb 2050 wirklich machbar?
Lässt sich zumindest das Verhalten der oder des Einzelnen ändern? Die viel zitierte Flugscham scheint kaum noch jemanden davon abzuhalten, ein Ticket in den Süden zu buchen. Das fällt zugegebenermaßen auch nicht ganz leicht, solange das Zugfahren beispielsweise in Europa deutlich teurer ist als ein Platz in der Billig-Airline.
Hinzu kommt: Wenn schon das tägliche Duschen ebenso wie der Fleischkonsum mit moralisch-ethischen Bedenken aufgeladen sind, muss man irgendwo im Alltag scheitern. Da kann man genauso nach Australien düsen. Allerdings sollte jeder Passagier und jede Passagierin auf den konkreten CO2-Ausstoß schauen: Ein einziger Langstreckenflug macht schnell genauso viele Tonnen aus wie die gesamte sonstige Jahresbilanz – trotz Lastenfahrrad und Deutschlandticket.
Die Forderungen werden lauter, den Fluggesellschaften Steuervorteile und Subventionen zu streichen – nicht nur dann, wenn sich unerwartete Finanzlöcher im Haushalt auftun. Manche hoffen, dass sich das Fliegen genauso verleiden lässt wie das Rauchen. Letzteres gelang nicht zuletzt durch verstärkte Aufklärung und reduzierte Werbung. Fliegen als das neue Rauchen? Bislang schwer vorstellbar und vor allem politisch und wirtschaftlich in globalisierten Zeiten gar nicht gewollt.
Die Autoindustrie stelle auf Elektromobilität um, weil sie überleben, und nicht, weil sie den Planeten retten wolle, hat Johan Rockström, Direktor am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gesagt. Es gehe um Wettbewerbsfähigkeit und um eine „Moderne der Nachhaltigkeit“. Lässt sich dieser Optimismus auf den Flugverkehr übertragen, wenn der Druck wächst?
Umweltwissenschaftler: Politischer Protest wichtiger als privater Konsumverzicht
Klar ist jedenfalls, dass sich die politischen Rahmenbedingungen ändern müssen, und da kommt wiederum die oder der Einzelne ins Spiel. Der Umweltwissenschaftler Michael Kopatz ist zu der Erkenntnis gekommen: Politischer Protest ist wichtiger als privater Konsumverzicht. Oder wie es Kopatz deftiger ausdrückt: „Den Arsch hochkriegen, sich einmischen.“ Seinen Worten zufolge kann man gleichzeitig gegen den Flughafenausbau demonstrieren und trotzdem fliegen.
Würde in der Folge der Proteste etwa die Zahl der Starts und Landungen gesetzlich begrenzt, müsse niemand mehr mit einem schlechten Gewissen in seine Urlaubsmaschine steigen, so Kopatz. „Schluss mit der Ökomoral. Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken“ lautet der Untertitel eines seiner Bücher.
Ob das wirklich funktionieren kann? Wer darf dann fliegen und wer nicht?
Am Ende muss wohl jede und jeder selbst entscheiden, ob er oder sie nach einem Flug um die halbe Welt noch leckeres Streetfood in Delhi, majestätische Tempel in Bangkok oder die Sonne über Venice Beach genießen kann. Mit diesen Verlockungen wirbt die Lufthansa für den A380.
Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.