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LinguistikVom Sterben der Sprachen: Die Vielfalt ist bedroht

Lesezeit 4 Minuten
Illustration: Turm zu Babel, Menschen schlängeln sich den Turm hoch.

Die babylonische Sprachverwirrung könnte mit dem Sterben vieler Sprachen verschwinden. Gehen mit der Vielfalt der Grammatik auch kognitive Fähigkeiten verloren?

Die mehr als 7000 Sprachen weltweit sind grammatikalisch ganz unterschiedlich. Grammatik verrät viel über die Menschheitsgeschichte und unsere kognitiven Fähigkeiten. Doch diese sprachliche Vielfalt ist bedroht.

Grammatik – allein das Wort lässt bei den meisten Sprachschülern einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Was in der Muttersprache für die meisten automatisch funktioniert, kann in einer Fremdsprache zur Qual werden. Um im Deutschen aus den Wörtern „Sarah“, „schreiben“ und „Papier“ einen wohlgeformten Satz zu kombinieren, muss der Sprecher das Verb in eine Zeitform setzen, zum Beispiel schreibt, schrieb oder wird schreiben.

Das ist aber nicht in allen Sprachen so. In der indigenen Sprache Ainu der gleichnamigen Ureinwohner auf Hokkaido in Japan etwa müssen die Sprecher überhaupt keine Zeit angeben.

Die Menschen interessieren sich mehr für gefährdete Tiere als für gefährdete Sprachen.
Ghil’ad Zuckermann,Linguist

Wertvolles Wissen wie dieses haben Forscher einer Reihe internationaler Universitäten, darunter deutsche, australische, neuseeländische und US-amerikanische Hochschulen, jetzt in einer neuen linguistischen Datenbank namens Grambank gesammelt.

Während ihrer mehrere Jahre andauernden Forschungsarbeiten stießen die Wissenschaftler auf alarmierende Ergebnisse: Bei den Untersuchungen kam heraus, dass die Menschheit Sprachen und Sprachvielfalt verliert. Immer mehr Sprachen werden nicht an Kinder weitergegeben und verfallen in eine Art Dornröschenschlaf, falls sie nicht sogar komplett aussterben.

Besonders gefährdet sind indigene Sprachen. Sie leiden zum einen unter den Folgen von Kolonialisierung und Globalisierung, zum anderen werden sie oftmals von nur wenigen Hundert Menschen gesprochen. Im östlich der Fidschi-Inseln gelegenen Pazifikstaat Vanuatu, von Linguisten gerne als die „dichteste Sprachlandschaft der Welt“ beschrieben, spricht eine Bevölkerung von weniger als 300.000 Menschen bis zu 145 Sprachen.

Allein auf der zu Vanuatu gehörenden Insel Malekula, auf der etwa 25.000 Menschen leben, finden sich mehr als 30 indigene Sprachen. Mit jeder Sprache, die verloren geht, leidet auch das Wohlergehen indigener Gemeinschaften, da Bindungen an Abstammung und traditionelles Wissen gekappt werden.

Einblick in Funktionsweise des Verstands

Die Forschungen ergaben, dass fast die Hälfte der sprachlichen Vielfalt der Welt bedroht ist. Diese Ergebnisse, die die Wissenschaftler im Fachmagazin „Science Advances“ veröffentlichten, sind auch insofern schockierend, als Sprachen und ihre Grammatik einen Einblick geben, wie unser Verstand funktioniert.

Außerdem erfahren wir dank Sprachen „etwas über unsere Geschichte, woher wir kommen und wie wir hierhergekommen sind“, schreiben zwei der beteiligten Forscher, Hedvig Skirgård von der Australischen Nationaluniversität in Canberra und Simon Greenhill von der neuseeländischen University of Auckland in einem Begleitartikel im akademischen Magazin „The Conversation“.

Die Informationen über die einzelnen Sprachen zusammenzusuchen, war „eine schwierige Aufgabe“, wie die Forscher erklären. „Grammatiken verschiedener Sprachen können sehr unterschiedlich sein“, urteilen die Linguisten. Darüber hinaus hätten unterschiedliche Menschen eine jeweils eigene Art und Weise zu beschreiben, wie die Regeln einer Sprache funktionieren. „Linguisten lieben Fachjargon, daher ist es manchmal eine besondere Herausforderung, ihn zu verstehen“, erklärten die Wissenschaftler der australischen und der neuseeländischen Hochschulen.

Insgesamt haben die Forscher in Grambank mehr als 2400 Sprachen anhand von 195 Fragen verglichen – darunter zwei Gebärdensprachen. Dadurch konnten sie herausfiltern, wie unterschiedlich die Sprachen voneinander sind oder wo es auch Gemeinsamkeiten gibt. Vor allem in der Pazifikregion stießen sie beispielsweise auf viele Sprachen, die miteinander verwandt sind oder sich viel voneinander geliehen haben.

Die Arbeiten zeigten aber auch auf, in welchen Regionen die Vielfalt besonders gefährdet ist: Dabei stachen Südamerika und Australien hervor, wo etliche indigene Sprachen vom Aussterben bedroht sind. Auch andere Regionen, in denen Sprachen relativ sicher sind – wie im Pazifik, in Südostasien und in Europa – weisen immer noch einen dramatischen Rückgang von etwa 25 Prozent auf.

Australien: Einst mehr als 250 Sprachen

In Australien wurden, bevor die Europäer den Kontinent besiedelten, mehr als 250 Sprachen gesprochen. Durch die geografische Isolation des Landes hatten viele von ihnen einzigartige grammatikalische Strukturen und Konzepte entwickelt, die in anderen Teilen der Welt nicht bekannt waren. So gibt es in der Sprache Guugu Yimithirr, aus der auch das Wort Känguru stammt, beispielsweise kein Konzept von links oder rechts. Stattdessen bezieht man sich nur auf die jeweilige Himmelsrichtung. Im Jahr 2016 erfasste die bislang letzte Volkszählung noch 775 Menschen australienweit, die Guugu Yimithirr sprachen. Und so ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch diese Sprache nicht mehr aktiv genutzt wird.

Jiwarli, das man in Westaustralien sprach, beherrschte in den 1980er-Jahren beispielsweise nur noch ein einziger Mann namens Jack Butler. Mit seinem Tod im April 1986 starb auch Jiwarli aus.

Die Linguisten haben den Kampf um die Sprachenvielfalt allerdings nicht aufgegeben. So haben die Vereinten Nationen 2022 bis 2032 zum Jahrzehnt der indigenen Sprachen erklärt. Und in Australien kämpft der israelische Professor Ghil’ad Zuckermann von der University of Adelaide darum, ausgestorbene indigene Sprachen wieder zu neuem Leben zu erwecken.

Diese Aufgabe ist nicht immer einfach. „Ich glaube, dass sich die meisten Menschen mehr für gefährdete Tiere interessieren als für gefährdete Sprachen“, sagte Zuckermann mal in einem Interview. „Der Grund ist, dass Tiere greifbar sind.“ Koalas seien süß, Sprachen dagegen abstrakt. (RND)


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.