Reisen – das war mal die Zeit zum Erkunden unbekannter Orte und ferner Länder. Heute sehen wir im Internet schon vorher, was uns erwartet. Was macht das mit uns?
Verlernen wir das Entdecken?Auf nach Instaland, wo jeder alles kennt
Indiana Jones will es noch einmal wissen. Auch wenn Hauptdarsteller Harrison Ford in knapp zwei Wochen 81 Jahre alt wird, macht er sich in der Rolle des Abenteurers Professor Jones wieder auf die Reise. Und die Zuschauerinnen und Zuschauer folgen ihm – ins Kino.
Abenteuer, und erlebt man sie auch nur in Filmen, Serien und Büchern, sind für Menschen eine gelungene Abwechslung vom Grau des Alltags. Das wusste schon der Schriftsteller Jules Verne (1828–1905), dessen Bestseller wie „In 80 Tagen um die Welt“ heute so populär wie einst sind. Warum nur stürzen wir uns angesichts dessen selbst immer weniger ins Abenteuer, sondern reisen, wohin alle reisen – weil wir im Internet dazu inspiriert worden sind?
Rückkehr mit jeder Menge Geschichten im Gepäck
Es war zu Beginn der Neunzigerjahre. Wir hatten gerade das Abitur in der Tasche, aber wenig Geld. Doch wir wollten nach Schottland. Beim ADAC holten wir uns Gratislandkarten, wir liehen uns Reiseführer aus der Bibliothek aus, und wir befragten den Barkeeper im örtlichen Pub, einen Briten. Und dann ging es los – im Auto, ohne große Ahnung, was man sehen und wo man übernachten würde. Aber mit umso mehr Motivation, Neues zu entdecken.
Machen wir es kurz: Die Gratislandkarten erwiesen sich als verbesserungsfähig, und am Ende suchten wir Abend für Abend manchmal stundenlang unsere Unterkünfte. Es gab noch keine Navigationssysteme, und auch elektronische Landkarten wie Google Maps waren Zukunftsvisionen. Womit hätte man sie auch nutzen sollen? Das Smartphone wurde erst Jahre später erfunden.
Doch wir kamen zurück und hatten jede Menge Geschichten im Gepäck – von der Jugendherberge ohne Strom in den Highlands, vom betrunken Farmer auf der Isle of Skye und von der Schnäppchenunterkunft, die sich als echtes Schloss entpuppte. Alles entdeckt ohne Google Maps und ohne Instagram.
GPS in den Tod
Hilft Technik uns also wirklich immer weiter? Oder verkompliziert sie das Leben manchmal eher? Das zumindest lässt eine Entwicklung in den USA vermuten. Dort hat sich ein Ausdruck für eine sehr spezielle Form des Todes etabliert: Death by GPS, Tod durchs Navigationssystem.
Vor allem im US-Nationalpark Death Valley starben in den vergangenen Jahren mehrere Menschen, weil sie sich bei der Routenwahl ausschließlich auf ihr Navigationssystem verlassen hatten. Das aber kennt mitunter die Realität zu wenig: Es sucht zwar die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, häufig aber ohne zu beachten, ob eine Straße auch wirklich befahrbar ist oder überhaupt noch existiert. Im schlimmsten Fall verirren sich Fahrer – und werden nicht rechtzeitig gerettet. Sie verdursten in der Hitze von Death Valley, wo es teilweise deutlich heißer als 40 Grad Celsius wird.
Die Parkverwaltung hat inzwischen einen Warnhinweis auf ihrer Homepage: „Zahlreiche Reisende wurden durch die Befolgung falscher GPS-Informationen an den falschen Ort und in Sackgassen oder gesperrte Straßen geleitet“, heißt es da, und in Großbuchstaben: „Verlassen Sie sich nicht nur auf das Navigationssystem Ihres Fahrzeugs.“ Auch im Joshua Tree Nationalpark soll es bereits ähnliche Todesfälle gegeben haben, ebenso in einsamen Gegenden von Australien und Brasilien.
Das Problem zeigt sich nicht nur in solch lebensbedrohlichen Situationen: Autofahrer folgen oftmals strikt den Anweisungen ihres Navigationssystems, ohne zu realisieren, wo sie sich überhaupt befinden. Fällt die Navigation aus, sind sie aufgeschmissen.
Bereits 2006 untersuchten Forschende in Großbritannien die Gehirne von Londoner Taxifahrern und Taxifahrerinnen. Sie stellten dabei fest, dass sie mehr graue Substanz in der Region des Hippocampus enthalten, das für komplexe räumliche Darstellung verantwortlich ist, als jene der Londoner Busfahrer. Ihr Gehirn war viel trainierter. Das hat Gründe.
Eine Lizenz zum Taxifahren in der britischen Hauptstadt erfordert noch immer teilweise jahrelanges Lernen, denn die Fahrerinnen und Fahrer müssen sich rund 25.000 Straßennamen merken, außerdem die Standorte zahlreicher Sehenswürdigkeiten – selbst wenn immer mehr von ihnen heute ebenfalls im Alltag ein Navigationssystem nutzen. Untersucht wurden damals auch die Gehirne von pensionierten Taxifahrern – dort hatte die graue Substanz wieder abgenommen. Macht uns fehlendes Gedächtnistraining also dümmer?
„Das Navigationssystem hat definitiv Auswirkungen“, sagt Barbara Horvatits-Ebner, Psychologin aus Österreich und Gründerin des Reiseblogs „Reisepsycho“. Studien hätten ergeben, dass Menschen, die sich vermehrt vom GPS leiten ließen, ein schlechteres räumliches Gedächtnis haben. Kognitives Mapping nennt sich dies in der Forschung: die räumliche Vorstellung von Zusammenhängen und eines geografischen Raumes.
Jede Erfahrung verändert unser Gehirn - je außergewöhnlicher, desto besser
Auch Reisen insgesamt beeinflusst unser Gedächtnis – aber auf positive Weise: „Jede Erfahrung verändert das Gehirn“, verdeutlicht es Psychologin Horvatits-Ebner. Wir speichern Erinnerungen und lernen selbst aus Problemen. „Menschen verreisen entweder sehr gern oder gerade nicht“, sagt sie. Insofern beeinflussten Reisen Menschen mehr oder weniger. Und es komme auch auf die Art des Reisens an: „Das Gehirn speichert eher das Whale Watching als den Tag am Strand.“ Grob gesagt: je außergewöhnlicher, desto länger im Gedächtnis.
Eine Studie der Insead Business School aus Fontainebleau ergab vor Jahren, dass Reisen auch die Kreativität fördert. Menschen, die häufig neue Kulturen und Gegenden kennenlernen, sind demnach kreativer und offener und finden eher neue Lösungswege für Probleme. Kein Wunder also, dass Indiana Jones am Ende des Films immer sein Ziel erreicht.
Das Wörterbuch beschreibt „Entdecken“ als „etwas Unbekanntes, Verborgenes auffinden“. Auf Reisen finden wir mitunter Dinge und Erlebnisse, die wir gar nicht bewusst gesucht haben: den Austausch mit fremden Menschen, das ungewöhnliche Gericht, das sich als äußert delikat erweist, eine Landschaft, von der wir nichts geahnt hatten – oder den kleinen Pub an der Ecke, den wir so gern auch daheim hätten. Ein Urlaub, und sei er objektiv gesehen auch noch so langweilig, ist eine Ansammlung von Erlebnissen und Entdeckungen, die wir zu Hause nie gemacht hätten.
Gerade dies aber wandelt sich rasant: Viele wissen heute bereits vor der Abreise, was sie erleben werden. Oder denken zumindest, es zu wissen. Bewertungsportale wie Trip advisor oder Google nehmen Reisenden Entscheidungen ab. Vor allem Restaurants und Hotels werden inzwischen häufig auf Basis von Onlinebewertungen anderer gebucht. Die Ergebnisse sind vorsortiert – wer am Ende der Reihe steht, hat meist keine Chance.
Einer Umfrage des IT-Branchenverbands Bitkom aus dem Jahr 2020 zufolge, haben 69 Prozent derjenigen, die ihre Unterkünfte online buchen, zuvor die Bewertungen anderer Reisender gelesen. Mehr als jeder Zweite lässt sich davon direkt beeinflussen: Besonders viele negative Onlinebewertungen halten 56 Prozent von der Buchung einer Unterkunft ab.
„Negative Bewertungen wiegen schwerer als positive“, sagt auch „Reisepsycho“-Bloggerin Barbara Horvatits-Ebner. Sie weiß allerdings auch: Sehr starke Überzeugungen ließen sich nicht durch Bewertungen revidieren. Sie hätten jedoch bei der Glaubwürdigkeit für viele inzwischen einen ähnlich hohen Stellenwert wie Hinweise von Freundinnen und Freunden oder Bekannten.
Fotos und Videos auf Social-Media-Plattformen wie Instagram oder Tiktok
Selbst wer vorab keine Bewertungen studiert, hat mitunter andere Beweggründe für ein Reiseziel: Fotos und Videos auf Social-Media-Plattformen wie Instagram oder Tiktok. Einer Umfrage des Flugpreisvergleichsportal Skyscanner zufolge lässt sich jeder Zweite durch solche Portale zu einem bestimmten Reiseziel inspirieren.
Reisen wir also heute anders? Womöglich schlechter, weniger informiert? Immerhin gab es auch früher bereits eine große Gruppe derer, die sich ihren Urlaub im Katalog der Pauschalreiseveranstalter zusammengesucht hat. Bloggerin Horvatits-Ebner winkt insofern auch ein wenig ab: „Die Menschen haben sich schon immer über Reiseziele informiert, nur waren die Quellen dafür nicht so zahlreich wie heute.“ Wer früher im Reisebüro fragte oder einen Reiseführer von der ersten bis zur letzten Seite studierte, nutzt heute vielleicht stattdessen Bewertungsportale und Blogs. „Sich gar nicht vorab zu informieren, kann Geld und Nerven kosten“, weiß die Psychologin aus eigener Erfahrung.
Undwenn man alle notwendigen Informationen erst vor Ort im Urlaub erhält? Diesen Weg geht Richard Smith, Ende 40, ein Engländer in Wales. Vor Jahren kaufte er einen Land Rover und machte sich selbstständig. Seitdem fährt er Besucherinnen und Besucher darin durch seine Wahlheimat. Und er umgeht dabei so weit möglich die modernen Formen der Reisevermarktung: Er nimmt nach jeder Anfrage Kontakt zur Kundin oder dem Kunden auf und bespricht, was sie oder er gern sehen würde.
Die Leute kämen durch soziale Medien oft mit zu großen Erwartungen in andere, viel bekanntere Gegenden, sagt er. Doch genau dies könne auch zum Problem werden – dann, wenn diese Ansprüche nicht erfüllt würden. „Hierher reisen Leute meist, ohne zu viel zu erwarten“, hat er im Laufe der Jahre gelernt. „Doch sie verlassen die Gegend mit dem Gefühl, etwas entdeckt zu haben.“
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