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„Stinke ich?“Wie ein Eigengeruchswahn das Leben beeinträchtigen kann – und was hilft

Lesezeit 4 Minuten
ILLUSTRATION - eine Frau sprüht Deo

Betroffene duschen mehrmals am Tag, kauen unentwegt Kaugummi, nehmen Kleidung zum Wechseln mit zur Arbeit oder können nicht ohne Deo aus dem Haus gehen.

Betroffene schämen sich für ihre vermeintlichen strengen Ausdünstungen, dabei nimmt ihr Umfeld meist nichts davon wahr.

Manche Menschen können sich selbst nicht riechen. Sie lehnen den eigenen Körpergeruch ab und sind überzeugt, zu stinken – obwohl das gar nicht stimmt. Man spricht hierbei auch vom Eigengeruchswahn, der Fachbegriff lautet olfaktorische Referenzstörung (ORS).

Anja Grocholewski forscht zu dem Syndrom, die Psychologin und Therapeutin ist an der Psychotherapieambulanz der TU Braunschweig tätig. Bisher gebe es erst wenige Studien zur ORS, sie sei aber in die aktuelle Version des Diagnosehandbuchs ICD-11 erstmals aufgenommen worden.

Der Geruchssinn spielt eine wichtige Rolle für die Sexualität und Partnerwahl.
Anja Grocholewski, Psychologin und Therapeutin

Eine ORS liegt demnach vor, wenn jemand permanent mit dem Gedanken beschäftigt ist, einen unangenehmen Geruch zu verströmen, der für andere aber nicht wahrnehmbar ist. Die Reaktion darauf sei ein „repetitives und exzessives Verhalten“, sagt Grocholewski: „Jemand muss sich ständig rückversichern und fragt dauernd: ‚Stinke ich? Rieche ich aus dem Mund?‘“

Betroffene versuchen, den vermeintlichen Geruch zu überdecken oder loszuwerden. Sie duschen mehrmals am Tag, kauen unentwegt Kaugummi, nehmen Kleidung zum Wechseln mit zur Arbeit oder können nicht ohne Deo aus dem Haus gehen, manche benutzen extrem viel Parfüm.

Parfüms sind keine Lösung

Ähnlich wie bei einer Zwangsstörung können sie diese Handlungen nicht unterlassen. Schnell geraten sie in einen Teufelskreis. „Wenn ich mich mit Parfüm einsprühe, ist die Konsequenz zwar erst einmal positiv, weil ich damit den vermeintlichen Geruch überdecke. Aber wenn ich das regelmäßig mache, ist es für mich auch der Beweis, dass ich das machen muss. Die Gedanken, dass ich stinke, werden dadurch häufiger, die Angst kommt ständig wieder hoch“, erklärt die Psychologin.

Dazu komme das sogenannte Beziehungsdenken. Menschen mit ORS sehen Zusammenhänge, wo keine sind: „Wenn jemand zum Lüften das Fenster aufmacht, denke ich, das ist, weil ich stinke. Oder ich glaube, Leute tuscheln über mich.“ Oft komme es zum sozialen Rückzug: „Erkrankte möchten das Haus nicht mehr verlassen oder halten Abstand zu anderen. Dahinter steckt die Angst vor Ablehnung.“

Dadurch entsteht ein hoher Leidensdruck bei den Betroffenen. Von einer psychischen Störung geht man aus, wenn jemand dadurch im Alltag beeinträchtigt wird. Die ORS könne sogar Suizidgedanken auslösen.

Akuter Stress als Auslöser

Wie ein Eigengeruchswahn entsteht, sei noch nicht gut untersucht. Es ist jedenfalls nicht so, dass Betroffene eine besonders empfindliche Nase haben. In einer Studie, an der auch Grocholewski beteiligt war, konnten Personen mit Eigengeruchswahn Schweißgerüche nicht besser als andere Personen wahrnehmen. Sie konnten auch ihren eigenen Geruch in Blindtests nicht besser erkennen. Auffällig war, dass sie den eigenen Geruch stets als unangenehm bezeichneten, wenn ihnen Proben vorgelegt wurden – ohne zu wissen, dass es ihr eigener war.

Eine allgemeine Vulnerabilität kann das Risiko für eine ORS erhöhen, akuter Stress kann ein Auslöser sein. Bei einem von Grocholewskis Patienten war die Störung ausgebrochen, als dessen Mutter an Krebs erkrankt war. „Es kann auch Schlüsselerlebnisse geben, vielleicht Hänseleien, oder dass sich der Geruch durch Lebensereignisse verändert, etwa bei Mädchen mit der ersten Monatsblutung.“

Menschen, die zum Perfektionismus oder zur Unsicherheit neigen, sind eher gefährdet. „Wenn jemand sich sowieso nicht für liebenswert hält und dann auf seinen Geruch fokussiert, können schnell Ekel und Scham dazukommen“, sagt Grocholewski.

Die ORS lässt sich behandeln, die Therapie setzt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen, wie Elementen der Therapie bei Zwangsstörungen oder der Depressionstherapie. Allerdings müssen die Betroffenen erst den Weg in die psychologische Sprechstunde finden. Viele suchen eher Ärzte und Ärztinnen auf, weil sie ja ihren vermeintlichen Geruch beseitigen wollen. Erste Anlaufstelle scheint oft eine Mundsprechstunde zu sein: In einer Studie litten 12 bis 27 Prozent der Personen, die eine Mundsprechstunde aufsuchten, unter ORS-Symptomen.

Das Phänomen ist nicht neu

Ist die ORS ein Zeitgeistphänomen? Die Marktforschungsfirma Mordor Intelligence macht als Trend bei Verbrauchern aus, dass diese heute am liebsten 24 Stunden lang „schweiß- und geruchsfrei“ sein möchten. Ob soziale Medien die ORS beeinflussen, sei nicht erwiesen, aber möglich, bei anderen körperdysmorphen Störungen sei das der Fall, sagt Grocholewski. Neu sei das Phänomen aber nicht, es gebe seit Ende des 19.?Jahrhunderts Berichte darüber.

Angenehm riechen zu wollen, sei verständlich, sagt die Psychologin. „Der Geruchssinn spielt eine wichtige Rolle für die Sexualität und bei der Vermittlung von Emotionen.“ Deshalb sei es nicht sinnvoll, den Eigengeruch loswerden oder überdecken zu wollen.


Haben Sie Suizidgedanken? Wenden Sie sich bitte an folgende Rufnummern: Telefonhotline (kostenfrei, 24 h), auch Auskunft über lokale Hilfsdienste: (0800) 111 0 111 (ev.), (0800) 111 0 222 (rk.)


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.