An einem Ort in Italien findet man noch die berühmte Leichtigkeit des Seins: In den Strandbädern. Aber auch über den Lidos liegt ein Schatten. Gefahr droht ihnen aus Brüssel.
Strandbad-StreitWo Italien besonders italienisch ist – Lido-Betriebe in Gefahr
Es gibt in Europa wohl kein anderes Land, in dem das Meer, die „spiaggia“ (der Strand), einen so tiefen Zauber ausübt und einen derart hohen emotionalen Stellenwert besitzt wie in Italien.
Im Belpaese mit seiner 7000 Kilometer langen Küste, schreibt der Publizist Beppe Severgnini in seiner Essay-Sammlung „Überleben in Italien“, sei der Strand immer mehr als „ein Vorzimmer des Meeres“ gewesen: „Der Strand ist Laufsteg, Galerie, Fitnessstudio, Tanzboden, Restaurant, Markt, Labor, Sauna, Lesesaal, Meditationsraum und Liebesnest. Ein überlaufener Raum, den manche aufsuchen, um für sich zu sein. Ein Schauplatz, an dem die italienische Familie demonstriert, dass sie sich selbst genug ist.“
Was Severgnini nicht erwähnt, weil es in Italien schlicht selbstverständlich ist: Mit dem „Strand“ sind nicht die freien Strände gemeint, sondern die „stabilimenti balneari“, also die Bezahlstrände. Die Lidos sind der Inbegriff der italienischen Strandkultur. Was man in anderen Ländern in der Regel nur an Hotelstränden sieht – Dutzende oder manchmal auch Hunderte von geometrisch ausgerichteten Sonnenschirmen in mehreren Reihen mit einem oder mehreren Liegestühlen darunter –, ist für die meisten Italiener und Italienerinnen die unverzichtbare Grundausstattung für einen angenehmen und erfüllten Urlaub.
Mit den Duschen, Umkleidekabinen sowie einem Restaurant oder zumindest einer kleinen Strandbar steht dort die Infrastruktur zur Verfügung, die das Strandleben erst lebenswert macht.
Etwa 30?000 solcher Bezahlstrände gibt es in Italien. Seit Wochen füllen sie sich. In dieser Woche waren sie vor allem zu Ferragosto, dem 15. August, gerammelt voll. Dieser Feiertag ist nach Ostern der heiligste und beliebteste in Italien, noch vor Weihnachten.
„Stabilimenti balneari“ sind wichtiger Wirtschaftsfaktor
Gegen Ende August ist der Hochbetrieb an den Stränden dann schon wieder weitgehend vorbei, in den Lidos kehrt die alte Ruhe zurück. Mit ihren 15 Milliarden Euro Jahresumsatz und 300.000 Angestellten sind die „stabilimenti balneari“ ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Italien – und ein Politikum erster Güte.
Eines der 30.000 italienischen „stabilimenti balneari“ ist der Lido Selvaggio von Sergio Palazzo in Sperlonga. Es ist ein kleiner Familienbetrieb: Eine Handvoll Angestellte, 60 Sonnenschirme mit je zwei Liegen in drei Reihen – kein Vergleich zu den riesigen Anlagen an der Adria mit ihren Hunderten von Schirmen und Dutzenden von Reihen. So wie beim Lido Selvaggio muss ein Strand idealerweise aussehen: eine lang gezogene Bucht, heller, feiner Sand, das kristallklare, grünlich-blaue Tyrrhenische Meer. Der Strand wird durch Dünen begrenzt, dahinter liegt ein See, der Lago Lungo.
Am nordwestlichen Ende der Bucht ragt der 400 Meter hohe Circeo aus dem Meer, ein Ausläufer des Küstengebirges. Bei klarem Wetter erkennt man am Horizont die pontinischen Inseln Ponza, Palmarola und Ventotene, manchmal ist im Süden in 100 Kilometer Entfernung sogar Ischia zu sehen.
Wo Kaiser Tiberius Villen bauen ließ
Sperlonga liegt auf halber Distanz zwischen Rom und Neapel: Ein paar Hundert weiß gekalkte Häuser, die auf einen ins Meer hinausragenden Felsen gebaut sind. Vor dem Ort liegt ein Beobachtungsturm, der einst dem Schutz vor Piraten diente, links davon befindet sich der kleine Hafen. Dem Reiz der schönen Gegend und des klaren Meeres rund um Sperlonga war in der Antike schon der römische Kaiser Tiberius erlegen, der sich hier eine Villa bauen ließ. Sperlonga ist im Verzeichnis der 100 schönsten „Borghi“ (Ortskerne) Italiens aufgelistet. Seit mehr als 20 Jahren erhält das Städtchen im südlichen Latium ununterbrochen die „Bandiera blu“, die blaue Fahne, mit der jedes Jahr die saubersten und am wenigsten mit Bausünden verschandelten Strände Italiens ausgezeichnet werden.
Palazzo führt den Lido Selvaggio seit 20 Jahren. Als die Gemeindeverwaltung 2004 etwa drei Kilometer nordwestlich des Ortes sechs neue Konzessionen vergab, hatte er sich beworben und den am weitesten entfernten Strandabschnitt bekommen – nach seinem Lido beginnt ein kilometerlanger freier Strand. Von da kommt auch der Name: „Selvaggio“ heißt auf Italienisch wild, ursprünglich. „Als wir hier begannen, gab es nichts – nur die Natur, das Meer, die Dünen, den See“, sagt Palazzo. Der 62-Jährige ist selbst ein wenig „selvaggio“: Er hat ein Tattoo von Che Guevara auf seiner linken Schulter; das Logo seiner Strandbar ist ein stilisiertes Porträt eines Apachen-Häuptlings mit Adlerfedern im Haar. Die Natur ist immer noch wild hier: Hundert Meter vom Lido entfernt hat vorletztes Jahr eine Meeresschildkröte ihre Eier am Strand eingegraben.
Die Gäste sind nicht Kunden, sondern „amici“, Freunde
Sergio – er will nur mit seinem Vornamen angesprochen werden und ist mit allen Stammgästen per Du – führt den Betrieb zusammen mit seiner Frau Marie-Jeanne. Sie ist Französin, geboren in Marseille, hat aber ebenfalls familiäre Wurzeln in Sperlonga: Ein Großvater und eine Großmutter, die nach Frankreich ausgewandert waren, stammten ebenfalls aus dem Ort. Hinzu kommen die Angestellten des Lido: Barmann Andrea, Kellner Francesco und der Bademeister und Rettungsschwimmer, der ebenfalls Francesco heißt.
An den Wochenenden und während der Hochsaison kommen einige „ragazzi“ und „ragazze“ (Jungs und Mädels) als Aushilfskräfte dazu. „Wir sind eine große Familie“, sagt Sergio. Und die Gäste seien nicht Kunden, sondern „amici“, Freunde. Wer mehr als einmal in den Lido kommt, und das sind die meisten, wird relativ schnell ebenfalls zu einem Familienmitglied.
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Schönes Wochenende!
Am Meer und in den „stabilimenti balneari“ scheint die Zeit stillzustehen: Man sitzt unter dem Sonnenschirm und es kommt einem vor, als betrachte man einen italienischen Film aus den Sechzigerjahren. Die Welt ist hier noch in Ordnung, alles hat, wie die Brandung, einen immer gleichen, ewigen Rhythmus, das gleiche Aussehen, den gleichen Geruch. Francescos Rettungsboot ist rot und sieht aus wie alle anderen Rettungsboote im ganzen Land, und es wird immer rot bleiben. Quallen gibt es nur in den Monaten, die ein „r“ enthalten und somit – welch glückliche Fügung! – nie in der Badesaison: Der Mai (maggio), der Juni (giugno), der Juli (luglio) und der August (agosto) haben kein „r“. Das nahe gelegene Rom ist gefühlt weit weg, die Regierungen kommen und gehen wie Ebbe und Flut. Sergio sagt: „Das Meer ist das Leben, es ist die Freude, es ist alles. Das Meer rettet uns Italiener. Immer.“ Dass er am Meer leben und arbeiten dürfe, mache ihn zu einem glücklichen Menschen.
Die Bezahlstrände sind in den Augen der EU illegal
Doch über den ikonischen Bezahlstränden liegt ein Schatten: In den Augen der EU sind sie allesamt illegal. Weil sie knappen öffentlichen Grund belegen, fallen sie unter die Bolkestein-Direktive, die 2006 erlassen wurde. Die staatlichen Strandkonzessionen müssten zur Belebung der Konkurrenz regelmäßig neu ausgeschrieben werden. Das werden sie aber nicht. Fast 20 Jahre haben sich linke und rechte Regierungen erfolgreich gegen die Umsetzung der Direktive gewehrt, die Rechtsregierung von Giorgia Meloni hat dafür sogar ein neues Vertragsverletzungsverfahren in Kauf genommen.
Der Grund für den Widerstand: Viele Lido-Betreiber befürchten, dass sie im Fall einer internationalen Ausschreibung nicht mit großen ausländischen Tourveranstaltern und Investitionsfonds mithalten und ihren Lido und ihre Existenz verlieren könnten. Das würde keine Regierung überleben. Mit einem „Sonnenschirm-Protest“, einem stundenweisen Streik, machen Pächter der Privatbäder gerade Front gegen Rom und EU.
Für Sergio ist das Ganze einfach nur absurd: Er habe den Lido eigenhändig aufgebaut, jedes Jahr etwas verschönert und jeden Euro, der am Ende der Saison übrig geblieben sei, wieder in den Betrieb investiert. „Wir haben alles selbst gemacht – die Bar, die Kabinen, die Duschen, die Toiletten.“ Die Gemeinde habe ihm und den Nachbar-Lidos lediglich die Wasser- und Abwasseranschlüsse gebaut und die Holzwege durch die Dünen erstellt, auf denen man zu den „stabilimenti“ gelangt. Die Konzession sei kein Privileg und keine Quelle unermesslichen Reichtums. „In den sieben Monaten, in denen wir geöffnet haben, also von Anfang April bis Ende Oktober, arbeiten wir zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche“, sagt er. Und der Verdienst müsse für das ganze Jahr reichen – nicht nur für ihn, sondern auch für seine Angestellten.
Für Sergio käme ein Verlust der Konzession einer Enteignung gleich, da die gesamten unbeweglichen Teile des „stabilimento“ – also fast alles – laut einem über 100 Jahre alten Gesetz entschädigungsfrei an den Staat fallen würde. Brüssel verkenne, dass es sich bei den meisten „stabilimenti balneari“ um Kleinunternehmen handele und um ein Stück italienischer Identität, das nicht über einen Kamm geschoren werden könne mit anderen öffentlichen Dienstleistungen oder öffentlichen Arbeitsvergaben. Aber Sergio hat seinen Optimismus nicht verloren: „Das Meer wird uns retten. Auch dieses Mal.“
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