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Sommer in ItalienMein Urlaubs-Ich mit zehn, 20, 30 und 40 Jahren

Lesezeit 9 Minuten
Illustration: Strandliegen und Sonnenschirme an einem italienischen Strand

Auf der Liege neben mir döst meine Familie. Vater, Mutter, Bruder (8), Schwester (4). Mit zehn Jahren bist du in den Ferien der König deiner Zeit.

Wie unterscheidet sich ein Urlaub, wenn man ihn – wie ich – im Alter von zehn, 20, 30 und 40 Jahren genau im selben Ferienort an der italienischen Adria verbracht hat? Eine biografische Rückschau.

Wie unterscheidet sich ein Urlaub, wenn man ihn – wie ich – im Alter von zehn, 20, 30 und 40 Jahren genau im selben Ferienort an der italienischen Adria verbracht hat? Hat das, was man als Vater von zwei Kleinkindern in Riccione erlebt, noch irgendetwas zu tun mit der seligen Seelenruhe als urlaubender Zehnjähriger an gleicher Stelle? Eine biografische Rückschau auf den gleichen Urlaub in vier Lebensaltern.

Teil 1: Ich bin zehn Jahre alt

Es ist Juli 1983. Seit Stunden liege ich mit einem Micky-Maus-Heft auf einem blauen Liegestuhl am Strand von Riccione an der italienischen Adria. Niemand stört. Aus blechern quäkenden Lautsprechern ertönen Songs, die später fast alle auf „One Hit Wonder 1983“-Sammelalben landen werden: „Dolce Vita“ von Ryan Paris, „I Like Chopin“ von Gazebo, „Come on Eileen“ von den Dexy’s Midnight Runners, „Words“ von F.?R. David und natürlich „Sunshine Reggae“ von Laid Back.

Mein bleicher norddeutscher Körper hat sich von selbst auf die wichtigsten Vitalfunktionen heruntergepegelt. Ich lebe überwiegend von Zuppa-Inglese-Eiscreme und Lemon Soda. Das Gehirn tut nur das Nötigste. Es fällt mir sogar schwer, die Comicsprechblasen inhaltlich zu entschlüsseln, auch wenn Donald Duck nur „Schluck!“ und „Schlotter“ von sich gibt.

Der König Deiner Zeit

Auf der Liege neben mir döst meine Familie. Vater, Mutter, Bruder (8), Schwester (4). Mit zehn Jahren bist du in den Ferien der König deiner Zeit. Nie wieder im Leben wird es eine Phase geben, die mit weniger Pflichten und Verantwortlichkeiten verbunden ist. In meinem Kopf macht sich eine diffuse Leere breit. Es wird Monate dauern, bis meine Körperspannung wieder Schulalltagsniveau erreicht haben wird.

Ich habe ein blankes 100-Lire-Stück in der Hand. Gleich werde ich es in den Murmelautomaten werfen, um auf einem ganz und gar analogen Parcours per Drehregler eine Murmel vom Start bis zum Ausgabeloch zu bugsieren. Der Plan für den Rest des Strandtages sieht ausnahmslos Unaufregendes vor: Lemon Soda trinken, zum vierten Mal heute ins Wasser gehen, meinen Bruder bis zum Hals im Sand verbuddeln, Lemon Soda trinken, den Italienerinnen beim Volleyball zugucken, zum fünften Mal ins Wasser gehen, Lemon Soda trinken.

Das Gehirn tut nur das Nötigste
Imre Grimm

Am Abend im Speisesaal unserer Pension wähle ich nach reiflicher Überlegung und unter Abwägung aller Optionen exakt dasselbe wie an allen anderen Tagen: Nudeln und Fanta. Sodann geht es zum „Luna Park“. Die „Wilde Maus“ ist hier eine wilde Raupe, die durch einen großen Apfel rumpelt. Die Kinderachterbahn steht sinnbildlich für einen Italien-Urlaub als Zehnjähriger: In der Sicherheit klarer Abläufe erscheint das Leben als gerade genügend aufregend, um kein Gefühl der emotionalen Überforderung aufkommen zu lassen. Es ist in Maßen aufregend fremd – aber du weißt immer, was hinter der nächsten Kurve passiert.


Teil 2: Ich bin 20 Jahre alt

Es ist Juli 1993. Seit Stunden liege ich mit John Irvings Roman „Garp und wie er die Welt sah“ auf einem blauen Liegestuhl am Strand von Riccione an der italienischen Adria. Niemand stört. Aus blechern quäkenden Lautsprechern ertönen Songs, die später ebenfalls fast alle auf „One Hit Wonder“-Sammelalben landen werden: „I’m Too Sexy“ von Right Said Fred, „It’s My Life“ von Dr Alban, „Informer“ von Snow, „Runaway Train“ von Soul Asylum und natürlich „What’s Up“ von den 4 Non Blondes.

Erstmals bin ich nicht mit meiner Familie nach Riccione gefahren, sondern mit einem Schulfreund. Wir sind auf Interrail-Tour durch Europa in Italien gestrandet. Leider ist es ungefähr 56 Grad heiß, und mein Freund reagiert auf Hitze etwa so stabil wie eine Kugel Vanilleeis. Ich habe beim Fußweg vom Strand zu unserer alten Familienpension immer Angst, dass er mir wegschmilzt und ich seinen Eltern eine Erklärung schulde („Ja, da war so eine Ritze im Asphalt, und dann war er plötzlich weg“).

Die Vollpension-Laufwege ähneln denen vor zehn Jahren: Frühstück, Strand, Mittagessen, Pause, Strand, Abendessen, Brettspiele oder Stadtbummel. Mit einem Unterschied: Das Interesse an gleichaltrigen weiblichen Touristen ist im Vergleich zu 1983 erheblich gestiegen. Vom Gedanken, Italienerinnen für einen Urlaubsflirt zu gewinnen, haben wir uns freiwillig frühzeitig verabschiedet. In der Tiefe unserer 20-jährigen Seele ahnen wir beide, dass unser rudimentäres Italienisch und unser rustikal-nordeuropäisches Äußeres auf hiesige Mädchen verstörend wirken könnte. Weiße Männerstelzen in deutschen Sandalen sind für Italienerinnen ohne Reiz.

Die andern sind offensichtlich alle auf der coolsten Party des Jahrhunderts, und wir haben keine Ahnung, wo die stattfindet
Imre Grimm

Leider mussten wir schnell feststellten, dass sie auch für alle Angehörigen aller anderen Nationen ohne Reiz sind. So blieben wir unter uns, zwei picklige Nerds in der Hitze der Nacht, gemeinsam einsam in unseren Büchern brütend, bis der Schweiß von der Stirn auf die Buchstaben tropfte.

Die einzigen 20-Jährigen weit und breit

Als Zehnjähriger fühlten sich die nächtlichen Partymeilen von Riccione, durch die sich bronzebraune Massen schoben, wie ein spektakuläres Fantasieparadies voller Möglichkeiten an. Als 20-Jähriger fühlen sie sich an wie der Schauplatz einer Party, zu der du nicht eingeladen bist. Man kann sich ein Eis kaufen oder eine bunte Bauchtasche. Man kann sich von einem Karikaturisten malen lassen. Aber wir sind die einzigen Zwanzigjährigen weit und breit. Die andern sind offensichtlich alle auf der coolsten Party des Jahrhunderts, und wir haben keine Ahnung, wo die stattfindet.

Stattdessen spielen wir Flipper in einer Daddelhalle, die lauter ist als eine japanische Gameshow. Ich bin sicher, dass man Riccione vom Mond aus hören kann. Die schiere Lautstärke dieses Partyortes war mir als Zehnjähriger gar nicht aufgefallen. Wir sind vielleicht tolle Urlauber, mein Freund und ich: Der eine verträgt keine Hitze, der andere keine Geräusche. Kein Zweifel: Die Frühvergreisung hat eingesetzt.


Teil 3: Ich bin 30 Jahre alt

Es ist August 2003. Seit Stunden liege ich mit Sven Regeners Buch „Herr Lehmann“ auf einem blauen Liegestuhl am Strand von Riccione an der italienischen Adria. Niemand stört. Aus blechern quäkenden Lautsprechern ertönen Songs, die später ebenfalls fast alle auf „One Hit Wonder“-Sammelalben landen werden: „All the Things She Said” vom russischen Mädchenduo t.A.T.u., „Papa Don’t Preach” in der Version von Ozzy Osbournes Tochter Kelly, „Désenchantée” von Kate Ryan, „Rythm Is a Dancer” von Snap und natürlich der unzerstörbare „Ketchup Song“ von Las Ketchup.

Neben mir liegt meine zukünftige Ehefrau. Es hat mich allerlei Überredungskunst gekostet, sie sommers ausgerechnet an den Teutonengrill zu locken, bloß weil ich dort Teile meiner Kindheit verbracht habe. Ohne diese frühkindliche Prägung ist es, zugegebenermaßen, nicht ganz einfach, Begeisterung für einen antiidyllischen Ort aufzubringen, der Anfang der Nullerjahre eine touristische Krise durchlitt. Billige Restaurants, heißer Asphalt, teure Liegestühle, abends Remmidemmi. Aber die Tatsache, dass sie trotz einer Million Gründe, ein anderes Ferienziel zu suchen, einwilligte, befeuerte den Wunsch, dann doch aber mal wirklich endlich zu heiraten.

Unsere Laufwege waren schnell eingespielt. Morgens Kaffee, zum Strand schlappen, lesen, baden, mittags Hotelessen, Mittagspause, Strand, lesen, abends Hotelessen. Interessiert betrachteten wir die jungen Familien mit quäkenden Kindern um uns herum, die Väter mit tiefen Augenringen, die Mütter mit dem tapferen Gesichtsausdruck eines Zimmermädchens, das mittags die Tür zum Hotelzimmer einer britischen Punkrockband öffnet.

Vergangenheit und Zukunft ringen in der Gegenwart von Riccione um die mentale Vorherrschaft
Imre Grimm

Uns selbst, so waren wir sicher, würden derlei familiäre Eskalationen gewiss erspart bleiben, sollten wir einst Kinder haben. Es liegt ja auch immer an den Eltern, nicht? Milde lächelnd umkurvten wir mit vollen Tellern alle auf dem Fußboden liegenden, trotzig strampelnden Dreijährigen. Hand in Hand schlenderten wir nach dem Abendessen, maximal dem Müßiggang frönend, durch die abendlichen Straßen, um sodann auf der Hotelterrasse noch einen Campari-O zu uns zu nehmen, neidisch betrachtet von einem hohläugigen, hastig rauchenden Familienvater mit zitternden Nerven, der für zwei Minuten dem Kinderchaos oben im Hotelzimmer entflohen war.

Innerlich am Murmelautomaten

Der zehnjährige Junge in mir steht innerlich am Murmelautomaten, so wie damals. Der 30-jährige Kerl hingegen weiß, dass Nostalgie allein nicht nach vorne führt. So ringen Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart von Riccione um die mentale Vorherrschaft. Am Ende siegt der Campari. Und die Erkenntnis, dass „Wilde Raupe“ fahren auf dem „Luna Park“ kein Alter kennt. Oder wie Frank Lehmann in Regeners Buch sagt: „Die alten Sachen waren Vergangenheit und die Zukunft war offen. Keine Richtung, kein Plan. Das gefiel mir ganz gut.“


Teil 4: Ich bin 40 Jahre alt

Es ist Juli 2013. Seit zehn Sekunden liege ich auf einem blauen Liegestuhl am Strand von Riccione an der italienischen Adria. Vom Dolce far niente bin ich emotional weiter entfernt als Las Ketchup von einem zweiten Sommerhit. Denn das Kind (1) hat Hunger. Schon wieder. Und eine volle Windel. Und keinen Bock auf Hitze. Und Sand im Auge. Und im Ohr. Und auch sonst überall. Die Songs, die aus den quäkenden Lautsprechern ertönen, kann ich nicht hören. Alles, was ich höre, ist ein durchdringender Beschwerdelaut zehn Zentimeter neben meinem rechten Ohr.

Ich wuchte mich von der Liege. Die uns vom Bademeister zugewiesene, überdachte Amüsierparzelle am Strand ist mit allerlei Utensilien bündig gefüllt. Dazu gehören: ein Schwimmring, eine Luftmatratze, Schwimmflossen, ein überladener Buggy, acht Kilogramm Wechselkleidung, mehrere Taschen mit Windeln und Wickelunterlagen, Handtücher, Feuchttücher, Puder, Sonnenmilch, Bastmatten, Sonnenhüte, ein Windschutzzelt, Sandspielzeug in allen Farben des Regenbogens, Schnuller, Schmusedecke, Notfallkekse, Reiswaffeln, Insektennetz, Lätzchen, mehrere Gläser Brei, Löffelchen, Thermobehälter, Haarbürste, Bäuchleinsalbe, Engelwurzbalsam, eine aufblasbare Hüpfburg und ein Kuschelelefant in Lebensgröße. Okay, die Hüpfburg und der Elefant waren gelogen.

Mittags im Hotelspeisesaal. Ich versuche, das Kind möglichst unfallfrei mit gebutterten Nudeln zu befüllen. Es hängt schwebend an einem eingehakten Babysitz ohne Beine direkt an der Tischplatte. Man macht das hier so. Die Fütterung dauert ungefähr 45 Minuten. Als ich zum Büffet komme, ist kein Büffet mehr da. Ich nehme mir ersatzweise eine Banane. Das Kind sieht die Banane und quakt. Das Kind isst meine Banane. Ein junges Paar neben mir betrachtet mein Tun. Es sieht aus, als würde es denken: „Es liegt ja auch immer an den Eltern, nicht?”

Das Kind sitzt glücklich glucksend im Sand und patscht in die Händchen. Dann nimmt es eine große Handvoll Sand und stopft sie sich in den Mund
Imre Grimm

Die Mittagspause fällt aus. Die zwei Stunden Schlaf von heute Nacht müssen reichen. Nachmittags bin ich mutig und nehme ein Buch mit an den Strand: Bill Brysons „Frühstück mit Bären“. Es wird bis zum Ende des „Urlaubs“ ungelesen bleiben. Das Kind sitzt glücklich glucksend im Sand und patscht in die Händchen. Dann nimmt es eine große Handvoll Sand und stopft sie sich in den Mund. Es macht ein konzentriertes Gesicht. Ich ahne Schlimmes. Sodann ertönt ein vertrautes Knattern aus dem Babyuntergeschoss. Ich suche die Wickelunterlage.

Eines Tages wird er zehn Jahre alt sein. Er wird mit eisverschmiertem Mund am Murmelautomaten stehen, maximal entspannt. Er wird der König seiner Zeit sein, lässig durch den italienischen Sommer flanierend. Nie wieder in seinem Leben wird es eine Phase geben, die mit weniger Pflichten, Tagesverrichtungen und Verantwortlichkeiten verbunden ist. Und ich werde wieder stundenlang auf einer Liege liegen und lesen und Cappuccino trinken.

Denn wie sagt man schließlich in Italien? „Finché c’è vita, c’è speranza.” Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung.

Abbia un buon fine settimana! Schönes Wochenende!


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.