In den Sommerferien genießen die Daheimgebliebenen in Köln das besondere Flair einer Stadt, die sonst aus allen Nähten platzt.
Die kleine MillionenstadtIn den Ferien haben die Kölner endlich Platz in ihrer Stadt
Es gibt nicht viele Großstädte in Deutschland, die sich einen Mitarbeiter leisten, der sich mit einem Zollstock auf den Boden kniet, um die Breite eines Bürgersteiges zu vermessen und der um jeden Zentimeter kämpft. Nico Rathmann macht diesen Job. In Köln. Und ist damit der einzige Fußverkehrsbeauftragte in einer deutschen Millionenstadt. Wie dringend nötig sein Job ist, fällt den Kölnern erst auf, wenn jeder Zweite von ihnen in Urlaub und ein rares Gut plötzlich im Überfluss vorhanden ist: Platz.
Hauptbahnhof Köln/Bonn: Nur die Hälfte der Pendler ist unterwegs
Platz auf dem S-Bahnsteig im Hauptbahnhof, weil, wie Bahnhofsmanager Kai Rossmann zu berichten weiß, nur noch die Hälfte der Pendler unterwegs ist und sich kein Pfropfen mehr an den Zu- und Abgängen bilden. Parkplatz satt selbst in der Südstadt oder in Ehrenfeld, weil alle Wohnmobile mit K-Kennzeichen auf Europas Straßen im Stau stehen. Fahrradplatz, weil es überall freie Ständer gibt, sodass man keine Angst haben muss, aus Versehen an einen Fremden gekettet zu werden, weil dessen Schloss falsch eingeschnappt ist.
Seit der Jahrtausendwende ist Köln um 12,66 Prozent gewachsen – wenn man das auf die Zahl seiner Einwohner bezieht. Wenn die alle da sind, vor allem in der Vorweihnachtszeit und an Karneval, wenn die Fastelovendsflüchtlinge in dreifacher Menge durch Touristen ersetzt werden, wird es eng. Nicht bloß auf der Zülpicher Straße.
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Bürgerämter ausgebucht, Schulwege quer durch die Stadt
Wir haben uns damit abgefunden, dass Termine in den Bürgerämtern für Wochen ausgebucht sind, Kinder quer durch die Stadt fahren, um eine weiterführende Schule zu besuchen und bei der Wohnungssuche das Souterrain wegen der bodentiefen Fenster deutlich über dem Mietspiegel liegt.
Genießen Sie also die Zeit, die Ihnen in diesen Sommerferien noch bleibt, breiten Sie Ihre Arme aus, wenn Sie über die Fahrradstraße auf dem Eigelstein gehen, weil Sie keine Gefahr laufen, von einem E-Biker umgenietet zu werden. Sie haben noch knapp zwei Wochen, dann sind alle wieder da. Und sollte ein Fremder Ihnen danach im Gedränge versehentlich auf die Füße treten, antworten Sie gelassen, wenn er Sie um Verzeihung bittet: „Sie müssen sich nicht entschuldigen. Köln ist zu klein für meine Füße.“
Seit 31. Mai 2010 ist Köln Deutschlands vierte Millionenstadt
So lebt es sich in der Zukleinstadt Köln, der das Statistische Landesamt am 31. Mai 2010 offiziell bescheinigte, mit 1.000.298 Einwohnern die Millionengrenze überschritten zu haben. Auch ohne Zweitwohnsitze, die bis dahin von der Stadtverwaltung seit 1991 mitgezählt wurden, damit Köln sich wenigstens ein bisschen wie Berlin, Hamburg und München fühlen kann.
Es sind die Bruhns, die mit ihrer Anmeldung am 5. Mai das Fass vollmachen und etwas für eine junge Familie aus heutiger Sicht völlig Absurdes tun.
Holmer und Bianca Bruhn, damals 42 und 34, zieht es mit ihren Kindern Ella und Lasse (damals 3 und 5) aus Bergheim zurück nach Köln. Der Verkäufer von Medizintechnik und die Angestellte einer Krankenversicherung wohnten in Sülz, bevor sie aus Platzgründen nach Bergheim zogen.
Weil das Leben dort dann doch nicht so schön ist, geben sie ihr 240-Quadratmeter-Heim auf und entscheiden sich für eine halb so große Wohnung im Kölner Süden. „Köln ist auch für junge Menschen eine attraktive Metropole“, sagt der damalige Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) beim Empfang der „Millionenbürger“ im Historischen Rathaus, als sie sich im September 2013 ins Goldene Buch der Stadt eintragen.
13 Jahre später und knapp 85.000 Einwohner größer, kennen Familien wie die Bruhns laut Bevölkerungsstatistik in der Regel nur eine Richtung, wenn sie sich ein Haus oder eine große Wohnung leisten wollen: Raus aus Köln.
Die Infrastruktur ist nicht mitgewachsen
Dabei hat Oberbürgermeister Jürgen Roters im September 2013 alles ganz anders geplant: „Steigende Einwohnerzahlen sind aber nicht nur eine Bestätigung für Köln, sondern bedeuten auch eine große Verantwortung für unsere Stadtgesellschaft. Sie stellen auch sämtliche Bereiche der Stadt Köln immer wieder vor die Herausforderung, alle für unsere Bürgerinnen und Bürger erforderlichen Dienstleistungen, Angebote und Infrastrukturen sicherzustellen und im Einklang mit den Bedürfnissen unserer Bürger weiter auszubauen“, schreibt er in einem Grußwort, als die Hürde endlich genommen ist. „Ich freue mich darauf, gemeinsam mit Ihnen die Zukunft unserer Millionenstadt zu gestalten.“
Das ist gründlich schiefgelaufen. Das zeigt allein ein Blick auf das Streckennetz der KVB, das seit der Jahrtausendwende um ganze 12,5 Kilometer auf rund 198,5 Kilometer gewachsen ist.
Doch wie arrangiert man sich mit einer Stadt, die offensichtlich nur noch in den Sommerferien Entspannung bietet, wenn gefühlt ein Drittel ihrer Einwohner in Urlaub ist?
Besucher aus der Eifel empfinden Köln immer noch als zu voll
„Dass die Kölner ihre Stadt als angenehm und entspannend empfinden, wenn alle weg sind und sich alles leerer anfühlt, ist durchaus nachvollziehbar“, sagt Ricarda Pätzold, Stadtforscherin beim Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin. Die Bevölkerungsdichte allein sage noch nichts über die Lebensqualität aus. „Jemand, der im Sommer aus der Eifel zu Besuch kommt, wird Köln immer noch als zu voll empfinden.“
Umgekehrt würden die Kölner sich sehr schnell an den Zustand gewöhnen und ihre Stadt nach ein paar Monaten nicht mehr als leer empfinden, wenn das Sommerferiengefühl auf Dauer anhielte. „Viel problematischer ist das Thema der Überlastung von Infrastrukturen. Wenn Familien keine Kita-Plätze finden, es zu wenig Schulen gibt, ein Restaurantbesuch ohne Reservierung unmöglich wird und man nicht weiß, wo man sein Fahrrad abstellen kann.“
Entscheidend sei die Wohlfühldichte, sagt die Stadtforscherin. Im Vergleich mit indischen Metropolen oder Manhattan hätten die Kölner sehr viel Platz. „Das persönliche Empfinden hat auch etwas mit Regeln zu tun. New York hat schon seit Ewigkeiten ein Fußgängerflusskonzept. Nach dem Traffic auf der Straße und dem Bürgersteig wird bemessen, wie viele Sitzflächen es beispielsweise geben kann, damit der Fußgängerfluss nicht zu stark unterbrochen wird. Wenn wir in Deutschland von Traffic reden, meinen wir leider ausschließlich den Autoverkehr. In New York kümmert man sich ganz bewusst um die zu Fuß Gehenden und versucht, einfach alles wegzuräumen, was im Weg stehen könnte.“
Keine Sorge um die Gutsituierten
So lasse sich die Wohlfühldichte verbessern. „Mal angenommen, man würde in Köln einen Entlastungsstadtteil bauen. Das würde wahrscheinlich nichts bringen. Am Dom wäre es genauso voll“, glaubt Pätzold.
Besonders benachteiligt seien jene Stadtbewohner, die nur über geringe Ressourcen verfügen oder in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. „Die Gutsituierten haben Wochenendhäuser oder Dachterrassen“, sagt Pätzold. Um deren Wohlbefinden müsse man sich keine Sorgen machen. „Die Stadtverwaltung von Paris zum Beispiel verwandelt im Sommer eine große Straße an der Seine in ein Strandbad und schafft so andere Zugangsmöglichkeiten und Optionsräume für die Menschen.“
Wenn es um Wohlfühldichte geht, haben die Kölner neben den Sommerferien ihre eigene Jahreszeit, die sie traditionell die fünfte nennen und in der sie deutlich mehr Menschen auf die Straße bringen, als die Stadt Einwohner hat.
Warum Köln jahrelang versessen darauf war, zur echten Millionenstadt zu werden, hat man inzwischen nach dem Exodus vieler Rheinländer in die Hauptstadt sogar dort Berlin verstanden. „Man ist im Club der Großen vertreten und konnte sich deutlich von Düsseldorf absetzen. Möglicherweise war das auch eine Motivation“, vermutet Ricarda Pätzold. Da könnte was dran sein.